1888, Briefe 969–1231a
988. An Carl Spitteler in Basel
Nizza den 10. Februar 1888. (Pension de Genève)
sehr geehrter Herr,
haben Sie vielleicht die Neujahrs-Beilage des „Bund“ zu sehen bekommen? Ich habe mich dafür bei dem ausgezeichneten Redakteur des „Bund“ bedankt, ein wenig ironice, wie billig. —
Herr Spitteler hat eine feine und angenehme Intelligenz; leider lag, wie mir scheint, die Aufgabe selbst in diesem Falle zu sehr abseits und außerhalb seiner gewohnten Perspektiven, als daß er sie auch nur gesehn hätte. Er redet und sieht Nichts als Aesthetica: meine Probleme werden geradezu verschwiegen, — ich selbst eingerechnet. Es ist nicht ein einziger wesentlicher Punkt genannt, der mich charakterisirt. Und zuletzt fehlt es auch im Reiche des Formalen, zwischen vielem Artigen, nicht an Übereilungen und Fehlgriffen. Zum Beispiel: „einen Anti-Strauß hat nur ein Professor begehn können“ (— womit etwa das Urtheil Karl Hillebrands in „Völker, Zeiten und Menschen“ zu vergleichen wäre, insgleichen das Unheil Bruno Bauers und ungefähr aller tieferen Naturen, die mir damals ihren Dank und ihre Verehrung ausgedrückt haben) Oder: „die kurzen Sprüche gerathen ihm am wenigsten“ (— und ich Esel habe mir eingebildet, daß seit Anfang der Welt Niemand eine solche Gewalt über den prägnanten Spruch gehabt hat wie ich: Zeugniß mein Zarathustra) Zuletzt findet Herr Spitteler gar vom Stile meiner Streitschrift, er sei das Gegentheil eines guten; ich würfe Alles auf’s Papier, wie es mir gerade durch den Kopf gienge, ohne mich auch nur zu besinnen. Es handelt sich um ein Attentat auf die Tugend (oder wie man’s nennen will); ich spreche mit einer leidenschaftlichen und schmerzlichen Kühnheit von dreien der schwersten Probleme, die es giebt und in denen ich am längsten zu Hause bin; ich schone dabei, wie es in solchen Fällen der höhere Anstand will, mich selbst so wenig als irgend was und wen; ich habe mir dazu eine neue Gebärde von Sprache erfunden für diese in jedem Betracht neuen Dinge — und mein Zuhörer hört wieder nichts als Stil, noch dazu schlechten Stil und bedauert am Ende, seine Hoffnung auf Nietzsche als Schriftsteller sei damit bedeutend gesunken. Mache ich denn „Litteratur“? — Er scheint selbst meinen Zarathustra nur als eine höhere Art von Stilübung zu betrachten (—das tiefste und entscheidendste Ereigniß — der Seele, mit Erlaubniß! — zwischen zwei Jahrtausenden, dem zweiten und dem dritten —)
Ein letztes Fragezeichen: warum ist mein „Jenseits“ verschwiegen? Ich weiß sehr wohl, daß dasselbe als verbotenes Buch gilt — aber trotzalledem enthält es den Schlüssel zu mir, wenn es einen giebt. Man muß es zuerst lesen. (Ich lege zwei Besprechungen dieses Buchs bei: die des Dr. Widmann und die der Nationalzeitung. Letztere, abgeneigt und unehrerbietig, wie sie ist, stellt trotzdem den Gedankengang des Buchs mit leidlicher Deutlichkeit hin)
Ihnen, werther Herr, zu Dank verpflichtet und, wie ich hoffe, nicht zum letzten Male
Friedrich Nietzsche