1888, Briefe 969–1231a
984. An Franz Overbeck in Basel
Nizza den 3. Februar 1888.
Lieber Freund,
hier ist endlich die Rechnung des Herrn C. G. Naumann: darf ich Dich bitten, dieselbe mit Hülfe des dazu deponirten Geldes zu berichtigen? Eile thut nicht noth; ich mache mir ein Gewissen daraus, Dich mit solchen Anliegen in Deiner Arbeits-ruhe zu stören. —
Auch ich bin sehr in Thätigkeit; und die Umrisse der ohne allen Zweifel ungeheuren Aufgabe, die jetzt vor mir steht, steigen immer deutlicher aus dem Nebel heraus. Es gab düstere Stunden, es gab ganze Tage und Nächte inzwischen, wo ich nicht mehr wußte, wie leben und wo mich eine schwarze Verzweiflung ergriff, wie ich sie bisher noch nicht erlebt habe. Trotzdem weiß ich, daß ich weder rückwärts, noch rechts, noch links weg entschlüpfen kann: ich habe gar keine Wahl. Diese Logik hält mich jetzt allein aufrecht: von allen andern Seiten aus betrachtet ist mein Zustand unhaltbar und schmerzhaft bis zur Tortur. Meine letzte Schrift verräth etwas davon: in einem Zustande eines bis zum Springen gespannten Bogens thut einem jeder Affekt wohl, gesetzt, daß er gewaltsam ist. Man soll jetzt nicht von mir „schöne Sachen“ erwarten: so wenig man einem leidenden und verhungernden Thiere zumuthen soll, daß es mit Anmuth seine Beute zerreißt. Der jahrelange Mangel einer wirklich erquickenden und heilenden menschlichen Liebe, die absurde Vereinsamung, die es mit sich bringt, daß fast jeder Rest von Zusammenhang mit Menschen nur eine Ursache von Verwundungen wird: das Alles ist vom Schlimmsten und hat nur Ein Recht für sich, das Recht, nothwendig zu sein. —
Habe ich nichts Besseres zu schreiben? Es sind mir schöne Zeichen von Pietät und tiefer Erkenntlichkeit seitens mehrerer Künstler zugekommen: darunter Dr. Brahms, H. von Bülow, Dr. Fuchs und Mottl. Insgleichen hat ein geistreicher und streitbarer Däne, Dr. G. Brandes, mehrere Ergebenheits-Briefe an mich geschrieben: erstaunt, wie er sich ausdrückt, von dem ursprünglichen und neuen Geiste, der ihm aus meinen Schriften entgegenwehe und dessen Tendenz er als „aristokratischen Radikalismus“ bezeichnet. Er nennt mich den bei weitem ersten Schriftsteller Deutschlands. — Daß Gersdorff in der gründlichsten und rechtschaffensten Weise sein Verhältniß zu mir wiederhergestellt hat, habe ich Dir wohl schon geschrieben? Ich bedaure, nicht das Gleiche von Rohde melden zu können. Auf zwei Briefe, die ich mit dem herzlichsten Willen, ihm wohlzuthun und den vorgekommenen Exceß vergessen zu machen geschrieben habe, hat er nicht geantwortet; ebensowenig auf die Zusendung meines letzten Buches. Das macht ihm keine Ehre: aber er wird krank sein, er steckt in einer schlechten Haut. — Von Paraguay giebt es sehr beruhigende Nachrichten: die Entwicklung der ganzen an sich so gewagten Unternehmung kann nicht anders als glänzend genannt werden. In der neuen Colonie sind c. 100 Personen bereits in Thätigkeit; darunter mehrere sehr gute deutsche Familien (z.B. die Mecklenburger Baron Malzahn’s); meine Angehörigen gehören zu den größten Grundbesitzern in Paraguay; der Einfluß Dr. Försters ist, wie ich ganz indirekt und zufällig gehört habe, derartig gewachsen, daß eine Anwartschaft auf die nächste Präsidentschaft der Republik durchaus nicht außer der Wahrscheinlichkeit liegt. Daß er und ich eine Anstrengung sonder Gleichen zu machen haben, um uns nicht direkt als Feinde zu behandeln, kannst Du errathen… Die antisem. Blätter fallen über mich in aller Wildheit her (— was mir hundert Mal mehr gefällt als ihre bisherige Rücksicht) So viel für heute! Mit besten Wünschen für Dich und Deine liebe Frau
Dein N.