1888, Briefe 969–1231a
1035. An Heinrich Köselitz in Venedig
Turin, Donnerstag d. 17. Mai 1888.
Lieber Freund,
ich höre mit Betrübniß, daß Ihre Gesundheit Schwierigkeiten macht. Alles, was Sie sonst schreiben, ist so gesund, selbst heiter. Vor Allem, daß auch Sie keinen „würdigeren“ Gebrauch von einem Honorare zu machen wissen als drucken zu lassen… Das hat Rasse; aber man gehört damit in die „verkehrte Welt“. Mit welchem Erfolge ich selbst in den letzten Jahren gegen die Schmeitznern aus dem Rachen gezogenen Honorarfonds gewüthet habe, errathen Sie wohl! Alles verpulvert! — Aber das erinnert mich an einen scherzhaften Vers aus der Basler Zeit, wo ich Abends gern meine Schwester damit unterhielt, sehr gewagte Reime zu schmieden. Der Vers ist an Schmeitzner gerichtet, als er gemeldet hatte, er mache nunmehr Ernst mit dem Verlage und habe sein Haus verkauft, die nöthigen Gelder dazu zu schaffen.
Der du dein Haus versilberst
Und in Papier verpülverst,
Oh Schmeitzner, folge mir!
Trink lieber ein Paar Schnäpse
Und lass die tausend Krebse,
Kreuch selber hinter dir!
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Ein Vers zu Ehren des Pastor Brockhaus, der an der Trichinitis starb (Sohn des alten Prof. B<rockhaus>)
Der altgewordne Pastor
Ergab sich einem Lastor
Und aß der Wurst zu viel.
Da kam heran Trichine,
Kroch in das Bein der Schiene
Und trieb ein tödtlich Spiel.
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Auf einen Besuch von Frau Marie Baumgartner, welche uns Byron’s Kain vorlas.
Mit Kain, Pepsin, Äpfeln
Sah man nach Basel stäpfeln
Mariam von Lörrach,
Um dort mit Thee und Kachen*
Abélen todtzuschlagen
Und auch den langen Nachmittag.
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Als ich im Frühjahr 1883 mit meiner Schwester von Rom nach Genua zurückreiste, haben wir unterwegs nichts als solche Verse gemacht. Wir bestachen die Schaffner an jeder Station, um allein zu sein, weil wir fortwährend lachten — —
Es giebt sehr gute Nachrichten von meinen Südamerikanern: sie sind jetzt endgültig in die neue Colonie Nueva Germania übergesiedelt und daselbst empfangen worden „wie ein Fürst nicht festlicher empfangen werden könnte“. Der Zufluß von Colonisten ist bedeutend. —
Auch aus Kopenhagen sind gute Nachrichten da. Die Vorlesungen nehmen einen glänzenden Verlauf. Der Saal ist jedes Mal „zum Bersten“ voll. Mehr als 300 Zuhörer. Die Zeitungen geben Berichte.
Hier ist mir der erste Geschäftsführer der Firma Löscher sehr entgegengekommen, in allerlei Praxis und Noth des Lebens, wo ich mir selbst schlecht zu rathen weiß. Das ist ein stiller bescheidener Mann, Buddhist, etwas Anhänger Mainländer’s, begeisterter Vegetarianer (— er hat hier das Grahambrod eingeführt und den Preis fixirt: das Kilo = 30 ct.) Gestern sagte er mir, unaufgefordert, daß er Jude sei… Nicht einmal getauft! — Er hat mir bewiesen, daß Mainländer kein Jude war. —
Aus New-York kam seitens eines Bewunderers meines Zarathustra das Versprechen eines größeren englischen Essai über meine Schriften, in einer der ersten amerikanischen Revuen. —
Ich wünschte Ihnen sagen zu können, wie mich alle Ihre Musik-Urtheile erbauen: es scheint, daß ich im Instinkte jetzt nicht mehr sehr fern von Ihrem Geschmack bin, — aber unendlich in der Ausdrucksfähigkeit. Mir fehlt ein Jahr exakten Musikstudiums, um nur wieder die Sprache dafür in die Gewalt zu bekommen. —
Eine glänzende Aufführung von Carmen, Ehren-Serata des vielbewunderten Frl. Borghi. Doch war Nizza im Spiel Allem über, was ich bis jetzt an Aufführungen dieser Oper erlebt habe (De Reims als Don José, la Frandin als Carmen)
Der große Erfolg von Lalo, mit seinem „roi d’Ys“ in Paris, macht mir Freude. Ein bescheidner Künstler, dem das Leben schlimm schon mitgespielt hat. Der „große Erfolg“ ging mit dem dritten Akte los — das heißt mit den schönen Melodien: der kluge Mann hatte sie alle bis dahin aufgespart!!
Lieber Freund, vergeben Sie mir diesen vielleicht zu heiteren Brief: aber nachdem ich, Tag für Tag, „Werthe umgewerthet“ habe und sehr ernst zu sein Grund hatte, giebt es eine gewisse Fatalität und Unvermeidlichkeit zur Heiterkeit. Ungefähr wie bei einem Begräbniß… Mit herzlichem Gruß und Dank
Ihr Freund Nietzsche