1883, Briefe 367–478
367. An Malwida von Meysenbug in Rom
<Rapallo, 1. Januar 1883>
Hochverehrte Freundin
Ich stehe eben von einem äußerst schmerzhaften Anfalle meines Leidens auf, mit dem ich „Neujahr feierte“: da finde ich Ihren Brief und Ihre alte Güte vor! Verargen Sie mir meinen neulichen Seufzer nicht (auch braucht Niemand sonst um meine Noth zu wissen) Aber es kommt gerade jetzt Vieles zusammen, um mich der Verzweiflung ziemlich nahe zu bringen. Unter alle Diesem ist, wie ich nicht leugnen will, auch meine Enttäuschung in Betreff von L<ou> S<alomé>. So ein „wunderlicher Heiliger“ wie ich, der die Last einer freiwilligen Ascese (einer schwer verständlichen Ascese des Geistes) zu allen seinen übrigen Lasten und erzwungenen Entsagungen hinzugenommen hat, ein Mensch, der in Bezug auf das Geheimniß seines Lebenszieles keinen Mitwisser hat: ein solcher verliert unsäglich viel, wenn er die Hoffnung verliert, einem ähnlichen Wesen begegnet zu sein, das eine ähnliche Tragödie mit sich herumschleppt und nach einer ähnlichen Lösung ausschaut. Seit Jahren bin ich nun ganz allein, und Sie werden mir zugeben, daß ich „eine gute Miene“ dazu gemacht habe — auch die gute Miene gehört unter die Bedingungen meiner Ascese. Wenn ich jetzt noch Freunde habe, so habe ich sie — ja wie soll ich das ausdrücken? — trotz dem, was ich bin oder werden möchte. So sind Sie mir gut geblieben, liebe verehrte Freundin, und ich wünsche von ganzem Herzen, daß ich dafür zum Danke Ihnen auch noch einmal aus meinem Garten eine Frucht reichen kann, die nach Ihrem Geschmack ist. —
Was Sie vom Charakter L<ou> S<alomé>’<s> sagen, ist wahr, so schmerzlich es mir ist, es einzugestehn. Ich fand eigentlich noch niemals einen solchen naturwüchsigen, im Kleinsten lebendigen, durch das Bewußtsein nicht gebrochnen Egoism vor, einen solchen thierhaften Egoism: und deshalb sprach ich von „Naivetät“, so paradox das Wort auch klingt, wenn man sich dabei des raffinirten auflösenden Verstandes erinnert, den L<ou> besitzt. Aber es will mir scheinen, daß in diesem Charakter noch eine andre Möglichkeit verborgen liegt: wenigstens ist dies der Traum, der mich nie ganz verlassen hat. Gerade bei einer solchen Natur könnte eine beinahe plötzliche Veränderung und Verlegung des ganzen Schwergewichts möglich sein: das, was die Christen eine „Erweckung“ nennen. Die Vehemenz ihrer Willenskraft, ihre „Schwungkraft“ ist außerordentlich. In ihrer Erziehung müssen entsetzliche Fehler gemacht worden sein — ich habe noch kein so schlecht erzogenes Mädchen kennen gelernt. So wie sie augenblicklich erscheint, ist sie beinahe die Caricatur dessen, was ich als Ideal verehre, — und Sie wissen, man wird am empfindlichsten in seinem Ideale gekränkt.
Was Rée betrifft, so kommt er mir immer mehr wie Jemand vor, dessen Lebensflamme halb im Erlöschen ist: — keine Ideale, keine Zwecke, keine Pflichten, keine Instinkte. Es scheint ihm wohl zu thun, in der Nähe L<ou> S<alomé>s zu leben und ihr nützlich (ich möchte sagen: dienstbar) zu sein. Darin geht es ihm anders als mir. Aber auch ich will L<ou> nützlich sein, so gut ich kann: das habe ich ihr und mir versprochen.
Nicht wahr, Sie glauben mir, wenn ich sage „es handelt sich nicht im Entferntesten um eine Liebschaft“? Sie erwähnten Nerina, und mir kam der Gedanke, als ob ich vielleicht eine Parallele zu meinem Freunde G<ersdorff> sein solle?
So viel über dies Thema: es gehört zu den Irrfahrten Ihres Freundes Odysseus. Wäre ich nur etwas klüger! Oder beriethe mich Jemand besser! Aber ein Halb-Blinder lebt zu sehr in seinen Träumen, Bedürfnissen und — Hoffnungen.
Um Nicht-Antwort wird gebeten, meine verehrungswürdige Freundin.
Von Herzen Ihr FN.
368. An Heinrich Köselitz in München
<Rapallo, 10. Januar 1883>
Inzwischen, mein lieber Köselitz, fehlte es mir an Vernunft — und so war ich nicht im Stande Ihren Brief zu beantworten, nicht einmal, ihn richtig zu empfinden. Es war mir, als ob aus einer ungeheuren Fremde her Jemand zu mir spreche.
Neulich unterwegs dachte ich viel an Sie: ich erwog das Problem, welches seit Wagner da ist, und ungelöst ist: wie ein ganzer Akt Oper eine symphonische Einheit als Organism bekommen könne. Dabei gerieth ich auf mancherlei Fragen der Praxis oder der „Praktik“; z.B. der Musiker müßte einen solchen Gesammt-Satz schaffen aus der genauesten Kenntniß des dazu gehörigen Stücks Drama (Affekte, Wechsel und Kampf der Affekte) und alles Scenische muß ihm gegenwärtig sein. Aber nicht das Wort! Der eigentliche Text müßte erst gedichtet werden, nachdem die Musik fertig ist, in einer fortwährenden Anpassung an die Musik: während bis jetzt das Wort es war, das die Musik mit sich fortschleppte.
Dies ist Ein Punkt: den Text nach der Musik zu dichten!
Der andere Punkt ist der, daß der Verlauf der Affekte, der gesammte Aufbau des Aktes etwas vom Schema des symphonischen Satzes haben müßte: gewisse Responsionen und dergl. — daß also der Dichter sofort auf die Aufgabe hin den Akt zu bauen habe, daß er ein symphonisches Ganze auch als Musik werden könne.
Kurz: der Musiker muß vorher den Dichter leiten, und nachher, wenn die Musik fertig ist, erst recht! —
Es thut mir Alles sehr wohl, was Sie über Ihre Erlebnisse schreiben. Auch selbst in meinem Interesse ist es, wenn Sie mit Levi eine gute Tonart des Verkehrs erfinden. Was seinen „Scherz“ betrifft, so habe ich ein Verschen gemacht:
„Mit Wagner bliebe man gerne Freund,
Wär’ er sich nicht selber sein größter Feind.“
Meine Grüße an ihn <Levi>, wenn es Ihnen passend scheint, sie auszurichten. — Irgendwann einmal werde ich doch wohl in München leben. —
Lesen Sie doch einmal die November-Nummer von Schmeitzner’s Zeitschrift. Da ist ein Aufsatz über die „fröhliche Wissenschaft“ aus einer mir unbekannten Feder. Nicht übel! Zum ersten Mal las ich seit 6 Jahren etwas über mich ohne Ekel.
Sonst stinkt das Blatt nach Dühring und Juden-Feindschaft.
Wenn es mir etwas besser geht (die Gesundheit ist sehr rückwärts gegangen!) werde ich auch an Frau Rothpletz schreiben, die mir einen äußerst liebevollen Neujahrsbrief schrieb. Einstweilen sagen Sie ihr den Dank meines Herzens.
Adieu, lieber Freund! Und vorwärts, aufwärts! Die Erde und das Leben sind nur bei dieser schrägen Richtung in die Höhe auszuhalten.
Von Herzen
Ihr F. N.
Anfang Februar werde ich wohl wieder in Genua sein.
369. An Franz Overbeck in Basel
<Rapallo, 20. Januar 1883>
Lieber Freund,
es geht gar nicht gut, und am besten wäre es, ich schwiege davon. Am Anfang Februar will ich nach Genua übersiedeln — ich werde in dem gleichen Hause wohnen, wo ich vorigen Winter verlebte. Einen Ofen werde ich nicht haben — ich habe auch hier keinen. Gefroren hab ich diesen Winter wie noch nie, auch nie so schlecht gegessen. Übrigens geht die Gesundheit stark rückwärts.
Ich verstehe jetzt, welchen Werth für alle Einsiedler der Menschenhaß gehabt hat. Leider bin ich zum Gegentheil geartet. Auch wünschte ich, ich hätte einen felsenfesten Glauben an mich selber: aber dazu bin ich noch weniger angelegt. Ich bin schon viel zu viel krank dazu: und jeder Umschlag des Wetters, jeder trübe Himmel bringt in mir eine große Beängstigung hervor. Das Wetter letzten Sommers in Deutschland und diesen Winters hier ist das Schlimmste, was mir an physischen Widerwärtigkeiten begegnen kann. Im Grunde ist „die fröhliche Wissenschaft“ nur eine überschwängliche Art sich zu freuen, daß man einen Monat reinen Himmel über sich gehabt hat. Man wird eben als Leidender sehr bescheiden und übertrieben dankbar gesinnt — was ich auch in Bezug auf andre Dinge im verflossenen Jahre viel zu viel gewesen bin.
Das „moralische“ Schluß-Ergebniß dieses bösen Jahres heißt so: man hat mich dasselbe Gift hundertmal und in den verschiedensten Dosen schlucken lassen, das Gift „Geringschätzung“, von der schnöden Gleichgültigkeit an bis zur tiefen Verachtung. Das hat bei mir einen Zustand hervorgebracht wie bei einer Phosphorvergiftung: ewiges Erbrechen, Kopfschmerz, Schlaflosigkeit usw. Ich habe Jahre lang nichts von außen her erlebt: im verflossenen Jahre aber sehr viel, leider immer dasselbe. Drum werde ich’s so schwer los. Das beneficium mortis erlange ich aber nicht von mir — ich will noch etwas von mir und darf mich durch schlechtes Wetter und schlechten Ruf daran nicht hindern lassen.
Deutschland ist jetzt für mich eine üble Gegend: gerade die Art Menschen, welche ich dort achte, ist mir äußerst abgeneigt; und die Deutschen sind so ungeschickt in ihren Abneigungen, daß sie immer gleich auch taktlos-unhöflich werden. Ich bin als Student achtungsvoller behandelt worden als im letzten Jahre.
So weiß ich denn gar nicht, wo ein, wo aus. Wüßte ich Jemanden, der mich nach Spanien begleitete! Für Europa sind dort die besten Möglichkeiten reinen Himmels. (Ich bin durch eine Abhandl. in Perthes geogr<aphischer> Zeitschrift sehr gut über Mittelmeer-Klima unterrichtet.)
Frau Rothpletz erfreute mich Neujahr mit einem äußerst gütigen Briefe: sie stellt die Möglichkeit hin, daß wir uns alle zusammen im Sommer wiederfinden — etwa in Tirol oder Südbayern. Aber, wie gesagt, ich fürchte Deutschland.
Ich habe einiges Vertrauen zu irgend einer grandiosen Alpen-Wildniß: ich muß mir Muth machen.
Und immer mehr sehe ich ein, daß ich nicht mehr unter Menschen passe — ich mache lauter Thorheiten (ich bin, im Vertrauen gesagt, 1) viel zu aufrichtig und 2) bis zum Exceß gutmüthig, so daß alles Unrecht immer auf mir liegen bleibt — was auf die Dauer ein sehr übles Resultat giebt.
Adieu, mein lieber Freund, ich bemühe mich allen denen wohlwollend und gerecht zu sein, welche es nicht gegen mich sind.
Den herzlichsten Gruß an Deine liebe Frau, und die besten Wünsche für Euch Beide.
F.N.
Köselitzens Erlebnisse haben manches Parallele mit den meinigen. Aber er hat einen Vorsprung vor mir: er ist vollkommen gesund.
370. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Rapallo, 1. Februar 1883>
Lieber Freund, ich schrieb Ihnen lange nicht, und es war gut so. Meine Gesundheit hatte sich wieder an Zustände gewöhnt, welche ich hinter mir glaubte: es war eine große Leib- und Seelenquälerei — wobei das jetzige Europa-Wetter keinen geringen Antheil hatte.
Inzwischen gab es aber wieder reine klare Tage, und sofort bin ich auch wieder meiner selber Herr geworden. Ein Glück bleibt es bei alledem, wenn man in der Einsamkeit mit sich selber fertig werden kann: aber wie Viele sind gebunden und müssen ihr Elend im Verkehre mit Menschen verdoppelt tragen!
Gefroren habe ich übrigens wie noch niemals, und ebenfalls niemals schlechter gegessen. Eine Veränderung meines Aufenthaltortes ist jetzt nöthig: ich hatte bereits das Zimmer wieder gemiethet, welches ich im letzten Winter in Genua bewohnte — aber die neueste Nachricht ist, daß der Herr, welcher jetzt darin wohnt, sich anders entschlossen hat und bleiben will.
Nun hat mich die alte gute Freundin Meysenbug nach Rom eingeladen: und mir mit Bestimmtheit Jemanden in Aussicht gestellt, der täglich 2 Stunden mit mir schreiben will. Da ich gerade auf das Dringendste Jemanden zum Schreiben und Diktiren nöthig habe, so will ich nach Rom übersiedeln — so wenig es, wie Sie wissen, der Ort meiner Wahl ist.
Dieser bereitwillige „Schreiber“ ist Fräulein Cécile Horner, die Verwandte Brenner’s (ich habe sie nie gesehn)
Aber vielleicht haben Sie Vergnügen daran zu hören, was es zu schreiben und druckfertig zu machen giebt. Es handelt sich um ein ganz kleines Buch — hundert Druckseiten etwa. Aber es ist mein Bestes, und ich habe einen schweren Stein mir damit von der Seele gewälzt. Es giebt nichts Ernsteres von mir und auch nichts Heitereres; ich wünsche von Herzen, daß diese Farbe — welche nicht einmal eine Mischfarbe zu sein braucht — immer mehr zu meiner „Natur“farbe werde. Das Buch soll heißen
Also sprach Zarathustra.
Ein Buch für Alle und Keinen.
Von
F. N.
Mit diesem Buche bin ich in einen neuen „Ring“ eingetreten — von jetzt ab werde ich wohl in Deutschland unter die Verrückten gerechnet werden. Es ist eine wunderliche Art von „Moral-Predigten“.
Mein Aufenthalt in Deutschland hat mich vollkommen zu dem gleichen Gesichtspunkte gebracht wie Sie, liebster Freund, der Ihrige — nämlich daß ich nicht mehr hineingehöre. Und jetzt wenigstens, nach meinem „Zarathustra“, geht es mir auch wie Ihnen: diese Einsicht und „Stellungnahme“ hat mich ermuthigt.
Wohin wir jetzt gehören? — Seien wir glücklich, daß wir eine solche Frage überhaupt stellen dürfen!
Unsre Erlebnisse waren ziemlich gleich: nur haben Sie ein besseres Temperament, eine bessere stillere einsamere Vergangenheit — und eine bessere Gesundheit vor mir voraus.
Ich bin beinahe erstickt. —
Also bis zum 10ten werde ich noch hier sein. Später Roma poste restante.
Ihnen immer sehr in Gedanken und Wünschen nahe
F. N.
Sie haben Overbecks entzückt! Wie mich!
371. An Malwida von Meysenbug in Rom
<Rapallo,> Am 1.ten Februar 1883.
Verehrtestes Fräulein,
die Güte Ihres Vorschlags hat mich bewegt: es war soviel Nachdenken darin — über das, was gerade mir noth thut. Wie selten wird einem das Geschenk einer solchen nachdenklichen Güte!
Der Zufall wollte, daß ich gerade meiner alten Genueser Wirthin versprochen hatte, den Februar in meinem alten Kämmerchen bei ihr zuzubringen. Aber „der Zufall“ will wiederum, daß sie mir vorgestern meldet, besagtes Kämmerchen werde doch nicht frei: der Herr, der bisher darin wohne, habe sich entschlossen, zu bleiben. Also bin ich frei, auch für Rom.
Nehmen wir also an, daß ich Mitte des Monats Februar nach Rom komme. —
Was das Klima Rom’s betrifft, so bin ich freilich besorgt: die intrikate Maschinerie meines Kopfes hält es wirklich nur an wenig Orten aus. Das letzte Mal hatte ich denselben Scirocco dort, der mich aus Messina trieb: ich fand ihn in Orta wieder, dann in Luzern — und endlich hat er mich (in Gestalt von Fräulein L<ou> S<alomé>) auch in Deutschland weidlich gequält - - -
Aber einen Monat versuche ich’s jedenfalls. Meine „Einsiedlerei“ wird ja auch in Rom möglich sein: sie ist bei mir leider eine ganz einfache Sache der Noth, obschon ich reichlich viel guten Willen in diese „Noth“ hineingelegt habe. — Dergestalt suche ich mir alle meine Nothwendigkeiten zu „wenden“.
Unschätzbar ist mir gerade in diesem Augenblick die Möglichkeit, welche Sie mir eröffnen, daß Fräulein Horner bereit sei, nach meinem Dictate zu schreiben. Ich habe gerade etwas zu diktiren und druckfertig zu machen: wenn Fräulein H<orner> mir dabei helfen will, so ist es wirklich eine „Hülfe in der Noth“. Ich wußte gar nicht, wohin mich wenden: da kam Ihr Brief.
Geben Sie mir, meine hochverehrte Freundin, mit Einem Worte noch den Wink, wo die Wohnung ist, welche Sie erwähnten — und verzeihen Sie, was ich Ihren Augen und nicht nur Ihren Augen wieder für Noth gemacht habe!
Von ganzem Herzen der Ihrige
Dr. F. Nietzsche.
Santa Marguerita Ligure (poste restante).
372. An Franz Overbeck in Basel
<Rapallo, 1. Februar 1883>
Zugleich mit Deinem Briefe, für dessen Ton und Willen ich Dir nicht genug danken kann, mein lieber Freund — kam die Meldung aus Genua, daß mein altes Kämmerchen doch nicht zum ersten Februar frei werde: sein bisheriger Inhaber habe sich anders entschlossen. Nun hat Malv<ida> Meysenbug mir schon seit Wochen vorgeschlagen, nach Rom zu kommen: sie hat ein Zimmer ausfindig gemacht, mehr noch: auch Jemanden, der bereit ist, täglich ein Paar Stunden für mich zu schreiben (nämlich Fräulein Horner, die im Hause nebenan wohnt) Rom ist nicht der Ort meiner Wahl, aber augenblicklich weiß ich nicht besser zu wählen. Eben habe ich für die Mitte des Monats Februar meine Ankunft zugesagt. — Nun möchte ich Dich bitten, mir recht bald noch an meine bisherige Adresse das Geld zu schicken (die frcs 400, womöglich in italiänischem Papier) und ebenfalls ein Buch (unter Kreuzband) das ich bei Dir gelassen habe „Italien in 60 Tagen von Gsell-Fels“.
Jetzt hatten wir Regenwetter: aber vorher gab es eine ganze Reihe vollkommen reiner Tage, die ich gut benützt habe. Ich war vorher in einem wahren Abgrund von Gefühlen (meine Briefe waren sehr unvollständig —), aber ich habe mich ziemlich „senkrecht“ aus dieser Tiefe in meine Höhe erhoben. Es wird nun wieder „gehen“: — hoffen wir’s wenigstens!
Inzwischen, im Grunde in ganz wenig Tagen, habe ich mein bestes Buch geschrieben, und, was mehr sagen will, jenen entscheidenden Schritt gethan, zu dem ich im vorigen Jahre noch nicht den Muth hatte. Diesmal hatte ich alle meine zehn Kräfte nöthig — und sie waren auch zu meinen Diensten. Ich bin jetzt noch ein Paar Tage mit der „Nagelprobe“ beschäftigt, eine Sache des feinen Hörens, für die man nicht einsam genug sein kann. Dann brauche ich nur Jemanden, dem ich meinen Text diktire: und dazu ist also Fräulein Horner „vom Himmel gefallen.“
Unter diesen Umständen geht es auch mit der Gesundheit wieder vorwärts. Doch habe ich, wie ich heute ausrechnete, in den letzten zwei Monaten 50 gramm Chloral-Hydrat (puro) verbraucht — ich habe nie mehr geschlafen ohne dies Mittel!
Aber ich habe doch geschlafen, jetzt gegen 14 Tage hintereinander — oh welche Wohlthat! — —
Meine „Moral“ in Bezug auf mich heißt übrigens mehr als je „Einsamkeit“. Mein lieber alter Freund, ich dachte Dir diesmal etwas Erfreuliches zu schreiben? Ist es so? Und ebenso Deiner lieben Frau! Innige Grüße.
Dein F.N.
373. An Franz Overbeck in Basel
<Rapallo, 10. Februar 1883>
Lieber Freund
das Geld ist in meinen Händen: und wieder dachte ich darüber nach, welche unangenehme Mühsal ich Dir nun seit Jahren mache. Vielleicht hat es nun bald sein Ende.
Ich will es Dir nicht verhehlen, es steht schlecht mit mir. Es ist wieder Nacht um mich; mir ist zu Muthe, als hätte es geblitzt — ich war eine kurze Spanne Zeit ganz in meinem Elemente und in meinem Lichte. Und nun ist es vorbei. Ich glaube, ich gehe unfehlbar zu Grunde, es sei denn, daß irgend Etwas passirt, ich weiß durchaus nicht was. Vielleicht, daß mich Jemand aus Europa wegschleppte — ich, mit meiner physikalischen Denkungsweise, sehe in mir jetzt das Opfer einer terrestrisch-klimatischen Störung, der Europa ausgesetzt ist. Was kann ich dafür, daß ich einen Sinn mehr habe und eine neue furchtbare Leidensquelle!
Selbst so zu denken ist schon eine Erleichterung — so brauche ich doch nicht die Menschen als Ursachen meines Elends anzuklagen. Obwohl ich dies könnte! Und nur zu viel auch thue! Alles, worauf ich in meinen Briefen an Dich hingedeutet habe, ist nur das Nebenbei — ich habe eine solche vielfache Last qualvoller und gräßlicher Erinnerungen zu tragen! So ist es mir zum Beispiel noch nicht Eine Stunde aus dem Gedächtnisse weggeblieben, daß mich meine Mutter eine Schande für das Grab meines Vaters genannt hat.
Von anderen Beispielen will ich schweigen — aber ein Pistolenlauf ist mir jetzt eine Quelle relativ angenehmer Gedanken. —
Mein ganzes Leben hat sich vor meinen Blicken zersetzt: dieses ganze unheimliche verborgen gehaltene Leben, das alle sechs Jahre einen Schritt thut und gar nichts eigentlich weiter will als diesen Schritt: während alles Übrige, alle meine menschlichen Beziehungen, mit einer Maske von mir zu thun haben, und ich fortwährend das Opfer davon sein muß, ein ganz verborgenes Leben zu führen. Ich bin den grausamsten Zufällen immer ausgesetzt gewesen — oder vielmehr: ich bin es, der aus allen Zufällen sich Grausamkeiten gemacht hat.
Dies Buch, von dem ich Dir schrieb, eine Sache von 10 Tagen, kommt mir jetzt wie mein Testament vor. Es enthält in der größten Schärfe ein Bild meines Wesens, wie es ist, sobald ich einmal meine ganze Last abgeworfen habe. Es ist eine Dichtung und keine Aphorismen-Sammlung.
Ich fürchte mich vor Rom und kann mich nicht entschließen. Wer weiß, welche Tortur dort auf mich wartet! So habe ich mich daran gemacht, mein eigner Abschreiber zu sein.
Was soll ich thun unter diesem Himmel und Wetter-Wechsel! Ah diese Beängstigung! Und dabei weiß ich, daß, relativ, am Meere es noch „am besten geht“!
Mit herzlichem Danke und Dir und Deiner lieben Frau das Beste wünschend
F.N.
374. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Rapallo, 11. Februar 1883>
Der Gsell-Fels, lieber Freund, ist bis heute Abend (Sonnabend) nicht eingetroffen. Vielleicht war es für Kreuzband zu schwer? Oder als eingebundenes Buch für Kreuzband ungeeignet? Genug, ich vermuthe, daß er noch in Basel ist. — Mit Bedauern! — nun mache ich Dir wieder neue Mühsal!
F.N.
375. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz
<Rapallo, 13. Februar 1883>
Geehrtester Herr Verleger,
Ihr Gruß war zufällig das erste Zeichen von Theilnahme, welches ich in Genua empfieng.
Heute habe ich Ihnen etwas Gutes zu melden: ich habe einen entscheidenden Schritt gethan — und ich meine nebenbei, auch einen solchen, der Ihnen nützlich sein soll. Es handelt sich um ein kleines Werk (kaum hundert Druckseiten), dessen Titel ist
Also sprach Zarathustra.
Ein Buch für Alle und Keinen.
Es ist eine „Dichtung“, oder ein fünftes „Evangelium“ oder irgend Etwas, für das es noch keinen Namen giebt: bei weitem das Ernsteste und auch Heiterste meiner Erzeugnisse, und Jedermann zugänglich. So glaube ich denn, daß es eine „sofortige Wirkung“ thun wird — zumal jetzt, nach verschiedenen Anzeichen zu schließen, die langsame und widerstrebende Art, sich mit mir zu beschäftigen, jetzt an einen gewissen Punkt gelangt ist — Zufällig erfahre ich sowohl aus Wien wie aus Berlin, daß unter „intelligenten Männern“ viel von mir geredet wird. Ich mache Sie auf Herrn Brandes, den Culturhistoriker aufmerksam, der jetzt in Berlin ist: es ist der geistreichste der jetzigen Dänen. Ich erfahre, daß er sich eingehend mit mir beschäftigt hat.
Unsre „Bedingungen“ des Verlags sind uns Beiden bekannt. Nur muß ich diesmal auf zwei Äußerlichkeiten besonderen Werth legen, weil dieses Buch als eine Spitze meiner bisherigen Bücher erscheinen soll. Bei ganz gleichem Formate und Drucke bitte ich um eine schwarze Linie, welche den Text jeder Seite einfaßt: so ist es einer Dichtung würdiger. Und dann: ein stärkeres Velin!
Geben Sie mir gefälligst eine umgehende Benachrichtigung, ob ich Ihnen das Werk schicken soll. Ich arbeite mit allen „Kräften“ (oh meine Augen!) selber an der Abschrift, und will, daß, im Falle Sie einverstanden sind, Teubner diese 6 Bogen in der größten Schnelligkeit absolvirt.
Für mich ist die Zeit einer „Drucklegung“ immer ein Krankheits-stadium. Deshalb so schnell als möglich!
Mit den besten Wünschen Ihnen
zugethan
Dr. F. Nietzsche.
Santa Margherita Ligure,
poste restante.
(Aufrichtig, ich schäme mich von „sofortiger Wirkung“ zu sprechen; aber ich thue es Ihretwegen, der Sie vernünftiger Weise ganz andre Werthschätzungen im Kopfe tragen müssen als ich. Pardon!)
376. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Rapallo, 14. Februar 1883>
Soeben soll das fertige Manusc<ript> an Schmeitzner abgehn. Du siehst, lateinisch zu reden: omnis motus in fine celerior.
Für Rom bin ich immer noch nicht entschlossen (trotz der guten Gesellschaft, die mir versprochen wird: Gräfin Dönhoff und ausgezeichnete Norweger.) — Mir ist zu Muthe, als ob ich in diesem Jahre Niemanden sprechen könne. —
Unglaubliches Wetter. Und wahrlich nicht après nous le déluge!
Dein Freund.
377. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz (Postkarte)
<Rapallo, 14. Februar 1883>
Geehrtester Herr Verleger, um jedem Zeitverluste vorzubeugen, sende ich das Manuscript sofort an Sie ab: es ist eben fertig geworden. Die Verfügung darüber steht bei Ihnen: nur bitte ich mir eine telegraphische Mittheilung darüber aus, daß es in Ihren Händen ist. Nichts als „Arrivato“.
Mit den besten Hoffnungen
Ihr
F.N.
(Santa Margherita Ligure
poste restante.)
378. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Genua, 14. Februar 1883>
Woran starb Wagner? Soeben kommt die Nachricht seines Todes nach Genua. Ich bin heute ohne allen Grund hierher gereist und kaufte eben, wider meine Gewohnheit, die eben erschienene Abendnummer des Caffaro. Mein erster Blick fällt auf das Telegramm aus Venedig.
F.N.
Adr.: Santa Marg. Ligure, immer fort!
379. An Unbekannt (Entwurf)
<Rapallo, Mitte Februar 1883>
Jemand, der so lange allein gelebt hat, erlebt gar keine einzelnen Erlebnisse mehr, sondern nur Symptome allgemeinen Verhaltens zu seinem Leben: und ich habe gräßliche Erinnerungen mit zurück gebracht, und bin nicht im Stande mich von ihnen freizumachen.
380. An Cosima Wagner in Bayreuth (Entwürfe)
<Rapallo, Mitte Februar 1883>
Sie haben Einem Ziele gelebt und ihm jedes Opfer gebracht; über den Menschen hinaus empf<anden> Sie das Ideal dieses Einen, und ihm, welches nicht stirbt, gehören Sie, gehört Ihr Name für immer.
und über die Liebe jenes Menschen hinaus erfaßten Sie das Höchste, was seine Liebe und seine Hoffnung erdachten: Dem dienten Sie, Dem gehören Sie und Ihr Name für immerdar — dem was nicht mit einem M<enschen> stirbt, ob es schon in ihm geboren wurde
So sehe ich heute auf Sie, und so sah ich, wenn gleich aus großer Ferne, immer auf Sie, als auf die bestverehrte Frau, die es meinem Herzen giebt.
Wenige wollen so etwas: und von den Wenigen: wer kann es so wie Sie!
Sie haben es sich früher nicht verwehrt in ernsten Lagen auf meine Stimme zu hören: und eben jetzt, wo mich die erste Nachricht ereilt, daß Sie das Ernsteste jetzt erlebt haben, weiß ich mein Gefühl nicht anders auszuschütten als indem ich ganz an Sie und nur an Sie allein es richte
weiß ich nicht anders zu thun als ich es früher that
als die bestverehrte Frau, die es meinem Herzen giebt.
Wir sind nicht Gegner in kleinen Dingen gewesen
nicht was Sie verlieren, sondern was Sie jetzt besitzen, steht mir vor der Seele: und es wird wenig M<enschen> geben, die mit Einem so tiefen Gefühl sagen: so war es Alles meine Pflicht — es war auch mein ganzer Besitz — was ich um diesen Einen that, und nichts [— — —]
Ich denke, ich spreche mit diesem Allem von Ihnen meine hochverehrte Frau? Aber ich denke, ich sprach mit diesem Allem auch ganz und gar von ihm. Ja es ist jetzt schwer geworden, von Ihnen allein zu reden. —
ich glaube durchaus nicht an irgendwelche noch versteckte Welten, aus denen etwas Tröstungen zu entnehmen wären. Das Leben ist genau so tief und schwerwiegend als wir es tief <und> schwerwiegend zu machen wissen: aber es giebt Einige die aus hundert furchtbaren Zufällen die nicht in unserer Hand stehen, immer wieder Vernunft und Schönheit aufzurichten wissen durch den Glauben an V<ernunft> und Sch<önheit> — das ist nun der beste gute Wille und die beste gute Kraft, das war und ist im Höchsten Ihre Kraft.
Es ist immer noch Kampf; und die ersten Bollwerke sind immer noch zu erstürmen. Da ist der Anblick des Lebens hart, gräßlich, — und wenn man Einen sieht, der um neuer Farben und Töne willen, wie ein — — —
Sie haben es sich früher nicht verwehrt, in ernsten Lagen auch meine Stimme <zu> hören: und jetzt, wo die Kunde zu mir kommt, daß das Ernsteste Sie getroffen hat, weiß ich nicht anders zu thun als ich früher that und bitte Sie desgleichen zu thun — ich habe kein Mittel, das Gefühl, das mir diese Kunde giebt, auszuhalten als indem ich es ganz auf Sie und nur allein auf Sie richte.
Nicht was Sie verlieren, sondern was Sie jetzt erst besitzen, soll nun vor meiner Seele stehn: wie Sie jetzt wohl zu sich sprechen dürfen: dies nun habe ich vollbracht, so wollte es meine Pflicht, was ich um diesen Einen that, und Alles habe ich gethan und dargebracht und mich nicht geschont, ich war unerbittlich, und wo ist der Tropfen Blutes, den ich für mich behielt: eine tiefe Ruhe hinter allem Schmerze: ich fühle es. Und so habe ich es einstmals gewollt.“ —
bis um letzten Blutstropfen sich vergeben und ohne Schonung so — — —
Über die Liebe jenes Menschen hinaus erfaßte ich das Höchste, was seine Hoffnung erdachte: dem diente ich, und diesem Höchsten, das nicht stirbt, gehöre ich an und mein Name für immerdar.
So sehe ich heute auf Sie, und so sah <ich>, wenn gleich aus großer Ferne, immer auf Sie — als auf die bestverehrte Frau, die es meinem Herzen giebt.
Wenige wollen so etwas von sich wie Sie es wollen: und von diesen Wenigen — wer kann es dann so wie Sie es können und konnten! Ein Kampf ist fortwährend, jedes große Leben durch und durch, und es gäbe Gründe über Gründe, wenn der Anblick eines solchen kämpfenden Lebens immer hart und gräßlich wäre.
381. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Rapallo, 19. Februar 1883>
Lieber Freund, jeder Ihrer letzten Briefe war eine Wohlthat für mich: ich danke Ihnen von ganzem Herzen dafür.
Dieser Winter war der schlechteste meines Lebens; und ich betrachte mich als das Opfer einer Natur-Störung. Das alte Sündfluth-Europa bringt mich noch um: aber vielleicht kommt mir noch ein Mensch zu Hülfe und schleppt mich auf die Hochlande von Mexico. Allein kann ich solche Reisen nicht unternehmen: das verbieten die Augen und einiges Andre.
Die ungeheure Last, die in Folge des Wetters auf mir liegt (sogar der alte Aetna beginnt zu speien!) hat sich bei mir in Gedanken und Gefühle verwandelt, deren Druck furchtbar war: und aus dem plötzlichen Loswerden von dieser Last, in Folge von 10 absolut heitern und frischen Januartagen, die es gab, ist mein „Zarathustra“ entstanden, das losgebundenste meiner Erzeugnisse. Teubner druckt bereits daran; ich selber habe die Abschrift gemacht. Übrigens meldet Schmeitzner, daß im vergangnen Jahre alle meine Schriften besser gekauft worden sind, und ich erfahre sonst allerlei über eine wachsende Theilnahme. Sogar ein Mitglied des Reichstags und Anhänger Bismarcks (Delbrück) soll seinen äußersten Unwillen darüber ausgedrückt haben, daß ich nicht — in Berlin lebe, sondern in St. Margherita!!
Verzeihen Sie dies Geschwätz, Sie wissen, was mir sonst jetzt gerade im Kopfe und am Herzen liegt. Ich war einige Tage heftig krank und machte meinen Wirthen Besorgnisse. Es geht nun wieder, und ich glaube sogar, daß der Tod Wagners die wesentlichste Erleichterung war, die mir jetzt geschafft werden konnte. Es war hart, sechs Jahre lang Gegner dessen sein zu müssen, den man am meisten verehrt hat, und ich bin nicht grob genug dazu gebaut. Zuletzt war es der altgewordne Wagner, gegen den ich mich wehren mußte; was den eigentlichen Wagner betrifft, so will ich schon noch zu einem guten Theile sein Erbe werden (wie ich es oft gegen Malvida gesagt habe) Im letzten Sommer empfand ich, daß er mir alle die Menschen weggenommen hatte, auf welche in Deutschland zu wirken überhaupt Sinn haben kann, und sie in die verworrne wüste Feindseligkeit seines Alters hineinzuziehn begann.
Es versteht sich, daß ich an Cosima geschrieben habe.
Im Übrigen, alter Freund, auch Ihnen hat sich mit diesem Tode der Himmel aufgehellt. Es ist jetzt Verschiedenes möglich zB. daß wir noch einmal im Bayreuther „Tempel“ sitzen, um Sie zu hören.
Was Ihre Worte über Lou betrifft, so habe ich sehr lachen müssen. Glauben Sie denn, daß ich darin einen andern „Geschmack“ habe als Sie? Nein, durchaus nicht! Aber im gegebnen Falle handelte es sich verdammt wenig um „mit oder ohne Liebreiz“, sondern darum, ob ein groß angelegter Mensch zu Grunde geht oder nicht. —
Also die Correcturen dürfen wieder zu Ihnen laufen, mein alter hülfreicher Freund? — Schönsten Dank für Alles.
FN.
382. An Malwida von Meysenbug in Rom
<Rapallo, 21. Februar 1883>
Liebe verehrte Freundin,
so geht es! Ich warte Tag um Tag um Ihnen schreiben zu können: „ich komme!“, weil ich Tag um Tag denke, es wird besser gehn. Aber es geht immer schlechter, und jetzt, nach dem Tode Wagner’s zumal, ganz schlecht. Meine Gesundheit ist jetzt, wie Februar 1883 vor drei Jahren; es ist Alles krank an mir, und ich will und mag keinen Menschen sehn und sprechen. Es soll mein altes strenges Selbst-Régime noch einmal versucht werden: denn mein Erfahrungs-satz ist „wenn ich mir selber nicht allein helfe, werde ich keine Hülfe finden.“
Das heißt also: ich komme nicht nach Rom.
W<agner>s Tod hat mir fürchterlich zugesetzt; und ich bin zwar wieder aus dem Bett, aber keineswegs aus der Nachwirkung heraus. — Trotzdem glaube ich, daß dies Ereigniß, auf die Länge hin gesehn, eine Erleichterung für mich ist. Es war hart, sehr hart, sechs Jahre lang Jemandem Gegner sein zu müssen, den man so verehrt und geliebt hat, wie ich W<agner> geliebt habe; ja, und selbst als Gegner sich zum Schweigen verurtheilen müssen — um der Verehrung willen, die der Mann als Ganzes verdient. W<agner> hat mich auf eine tödtliche Weise beleidigt — ich will es Ihnen doch sagen! — sein langsames Zurückgehn und -Schleichen zum Christenthum und zur Kirche habe ich als einen persönlichen Schimpf für mich empfunden: meine ganze Jugend und ihre Richtung schien mir befleckt, insofern ich einem Geiste, der dieses Schrittes fähig war, gehuldigt hatte.
Dies so stark zu empfinden — dazu bin ich durch unausgesprochne Ziele und Aufgaben gedrängt.
Jetzt sehe ich jenen Schritt als den Schritt des alt werdenden Wagner an; es ist schwer, zur rechten Zeit zu sterben.
Hätte er noch länger gelebt, oh was hätte noch zwischen uns entstehen können! Ich habe furchtbare Pfeile auf meinem Bogen, und W<agner> gehörte zu der Art Menschen, welche man durch Worte tödten kann. —
Dies war bei weitem der härteste und qualvollste Winter meines Lebens, und mein Leid gieng außerordentlich in die Tiefe und die Abgründe; — die Anlässe dazu sind fast gleichgültig. Es gab irgend eine große Nothwendigkeit für mich, einmal gemartert zu werden und zu sehn, ob mein Ziel mich leben läßt und am Leben festhalten läßt. Der Tod Wagner’s gab in diese Empfindungen hinein einen tiefen dumpfen Donner; aber vielleicht geht mein Ungewitter jetzt seinem Ende zu.
Mit der wärmsten Dankbarkeit
Ihr Nietzsche.
Ich habe an Cosima geschrieben. Sie werden dies billigen?
383. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Rapallo, 22. Februar 1883>
Lieber Freund, von jetzt an ist meine Adresse
Genova, Salita delle Battestine 8 (interno 6)
Ich bitte, diese Adresse Niemandem mitzutheilen; insgleichen aus meinem Zarathustra-Unternehmen (es wird bereits gedruckt!) eine Sache des Schweigens zu machen.
(Es geht mir sehr, sehr schlecht.)
Treulich F N.
384. An Franz Overbeck in Basel
<Rapallo, 22. Februar 1883>
Lieber Freund, es geht recht übel. Meine Gesundheit ist jetzt auf dem Punkte, wie vor drei Jahren. Alles ist kaput, und der Magen nachgerade so sehr, daß er auch die Schlafmittel nicht mehr verträgt — was schlaflose, äußerst gequälte Nächte zur Folge hat, und in weiterer Folge eine gründliche Nervosität. — Ah, ich bin fürchterlich von der Natur zum „Selbstquäler“ ausge — rüstet. Es versteht sich von selber, daß, von außen her gesehn, ich das vernünftigste Leben führe. Aber meine Phantasie et hoc genus omne von Geist sind stärker als meine Vernunft.
Was Rom betrifft, so habe ich gestern abgeschrieben; ich will Niemanden jetzt sprechen. Auch habe ich auf einem Umwege gehört, daß meine Schwester in Rom erwartet wird, und daß sie über Venedig reisen will.
Sonnabend siedle ich nach Genua über; meine Adresse ist von jetzt ab (und ich bitte darum, sie nicht mitzutheilen!)
Genova (Italia) salita delle Battestine 8 (interno 6)
Ich will auf dem schon gegangenen Wege in größter Zurückgezogenheit meine Gesundheit suchen. Mein Fehler im vorigen Jahre war, daß ich die Einsamkeit aufgab. Ich bin durch das ausschließliche Zusammensein mit idealischen Bildern und Vorgängen so reizbar geworden, daß ich im Verkehr mit den jetzigen Menschen unglaublich leide und entbehre; zuletzt werde ich dabei hart und ungerecht, kurz, es bekommt mir schlecht.
Wagner war bei weitem der vollste Mensch, den ich kennen lernte, und in diesem Sinne habe ich seit sechs Jahren eine große Entbehrung gelitten. Aber es giebt etwas zwischen uns Beiden wie eine tödtliche Beleidigung; und es hätte furchtbar kommen können, wenn er noch länger gelebt haben würde.
Lou ist bei weitem der klügste Mensch, den ich kennen lernte. Aber u.s.w. u.s.w.
Mein „Zarathustra“ wird schon im Druck sein.
Ich habe an Cosima geschrieben, sobald ich konnte. Das heißt: nach einigen der allerschlimmsten Tage, die ich zu Bett zubrachte.
Nein! Dieses Leben! Und ich bin der Fürsprecher des Lebens!!
Sobald die Jahreszeit es erlaubt, will ich in die Berge, zu den Süd-Abhängen des Mont-Blanc.
Es hilft Alles nichts: ich muß mir helfen, oder es ist aus. —
Was macht bei Dir und Deiner lieben Frau die Gesundheit?
Dein Freund F N.
385. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz (Postkarte)
<Rapallo, 23. Februar 1883>
Zugleich mit dem herzlichsten Dank für Ihren Brief sende ich heute meine neue Adresse (die ich auch schon Teubnern mitgetheilt habe)
Genova (Italia)
salita delle Battestine
8 (interno 6)
F.N.
386. An Franz Overbeck in Basel
<Genua, 6. März 1883>
Lieber Freund, Dein Brief that mir herzlich wohl. Verzeihung, wenn ich jetzt wenig schreibe. Ich bin krank, fast vom Augenblick an, wo ich Genua betrat. Fieber, Kopfschmerz, Nachts Schweiß, große Müdigkeit. Zumeist zu Bett; ich habe weder Appetit noch Geschmack. Man nennt diese Krankheit hier Influenza. Dr. Breiting (der erste Arzt Genua’s und mir äußerst zugethan) hat mir Chinin verordnet; das hatte ich mir natürlich auch selber schon verordnet. — Es soll eine Sache von 4—6 Wochen sein. Wie gut, daß ich allein und nicht in Rom bin!
Sonst sieht der Himmel fortwährend rein und klar aus, und auch in mir ist Alles geordneter und zufriedener. Ich begreife eine gewisse Nothwendigkeit für mich, darin, daß ich so gelitten habe; ich habe mir drei oder vier Glücks-Wünsche persönlicher Art, die ich noch hatte, damit aus der Seele geschnitten, und bin wieder freier als ich es vorher war. — Die Loslösung von meinen Angehörigen fängt an, sich mir als wahre Wohlthat darzustellen; ach, wenn Du wüßtest, was ich in diesem Capitel (seit meiner Geburt —) Alles zu überwinden gehabt habe! Ich mag meine Mutter nicht, und die Stimme meiner Schwester zu hören macht mir Mißvergnügen; ich bin immer krank geworden, wenn ich mit ihnen zusammen war. „Gezankt“ haben wir uns fast gar nicht, auch im vorigen Sommer nicht; ich weiß schon mit ihnen umzugehen, aber es bekommt mir schlecht.
Eine andere „Befreiung“ will ich Dir nur andeuten: ich habe es abgelehnt, daß Rée’s Hauptbuch „Geschichte des Gewissens“ mir gewidmet wird — und damit einem Verkehre ein Ende gesetzt, aus dem manche unheilvolle Verwechslung entstanden ist. —
Ob mein letztes Werk gedruckt wird, ist mir zweifelhaft; ich höre und sehe nichts mehr davon. Nun, es hat auch Zeit! —
Malvida schrieb mir eben, auch von Frau Wagner „C<osima> will für die Welt, uns Alle einbegriffen, ebenso abgeschieden sein wie er, will nie die Freunde wiedersehn, nie einen Brief mehr lesen, kurz wie eine Nonne leben, nur seinem Andenken und den Kindern.“ —
Ungefähr will ich’s ebenso machen, wenn auch nicht aus gleichen Motiven. Ich werde „verschwinden“ — ich glaube, das habe ich schon vom Engadin aus Dir einmal in Aussicht gestellt. Vorher aber bedarf ich noch vieler Erwägungen und auch einer langen persönlichen Unterredung mit Dir.
Mein Leben gestaltet sich allmählich und nicht ohne Krämpfe — aber es soll Gestalt bekommen!
So! Und nun will ich mich wieder hinlegen. Was ich müde bin!
Dir und Deiner verehrten Frau immer auf das dankbarste eingedenk
F.N.
Genova Salita delle Battestine
8 (interno 4)
Dienstag den ?
Deussens Vedanta-Werk ist ausgezeichnet. Übrigens bin ich für diese Philosophie beinahe das böse Princip.
387. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Genua, 7. März 1883>
Krank! Lieber Freund, so geht es! Kaum hatte ich Genua betreten, so gieng’s los. Fieber, Frost, Nachts Schweiß, intensiver Kopfschmerz, große beständige Müdigkeit, Mangel an Geschmack und Appetit: das ist das Bild der Krankheit. Ich bin zumeist im Bett und schleiche hier und da einmal in die Stadt. Ein Basler Arzt sorgt für mich und hat mir natürlich Chinin verordnet: aber meine eigne „Weisheit“ hatte schon vorher Chinin „verordnet“. Das ist eine Sache von 4—6 Wochen, sagt man mir; man nennt’s Influenza. — Wie gut, daß ich allein bin!
Für Ihren letzten Brief bin ich Ihnen besonders dankbar. Wirklich, lieber Freund, Sie sind einer der festesten Knoten, mit denen ich mich an’s Leben gebunden fühle; ich kann es gar nicht ausrechnen, wie viele ermuthigende Gefühle ich einem gelegentlichen Hinblick nach Ihnen oder einem gelegentlichen Herblick von Ihnen zu mir verdanke.
So wie Sie’s machen, gefällt mir’s ungemein: Ihre Kraft, Ihre Spannung, Ihre Forderung an sich selber wächst mitten unter der gleichmäßigen ehrlichsten Arbeit und kommt nicht nur wie eine Convulsion einmal „über“ Sie — und deshalb sind Sie in der Praxis stolzer als jene Künstler, bei denen Kraft und Ehrgeiz das Leben zum Krampfe machen.
Habe ich Ihnen gar nichts zu erzählen? — Gestern kam ein deutscher Musiker zu mir, Herr Bungert, im Alter von 35 Jahren, früher Klavierspieler, neuerdings Componist. Er stammt, was Klavierspielen betrifft, aus der Schule Chopin’s (er lebte 4 Jahre in Paris und hatte einen Schüler Chopin’s zum Lehrer); was Contrapunkt betrifft, ist Kiel sein Lehrer. Auch war er schon ein Jahr praktischer Kapellmeister (in Kreuznach). Das Erste, was er mir erzählte, war, daß er mit einer Oper eben fertig sei, deren Text er selber gedichtet habe: sie heiße Nausikaa. Ich erfuhr, daß N<ausikaa> zuletzt sich in’s Meer wirft und sich dem Poseidon zum Opfer bringt. Ein andres Werk von ihm „die Studenten von Salamanca“ sei von 3 deutschen Bühnen angenommen, und er werde deshalb wohl nach Deutschland reisen müssen. Er hatte die Absicht gehabt, der Nausikaa wegen nach Griechenland zu gehen, aber der englische Consul Brown habe ihm klar gemacht, daß man „dies näher haben könne“ und zwar — bei Porto fino. Er hat in einem gut eingerichteten Castell daselbst, das jenem Consul gehört, ganz allein gelebt und die Nausikaa componirt. — Vielerlei gieng mir bei diesen Dingen durch den Kopf. Er scheint den Umgang mit mir zu wünschen, es ist eine Ahnung in ihm, daß es bei mir irgend welche Griechische und auch wohl Goethische Hoffnungen giebt. — Aber er gefällt mir noch gar nicht. Haben Sie je von ihm gehört?
Bungert heißt er.
Endlich, lieber Freund: ich bin ganz zweifelhaft geworden, ob mein Werk, von dem ich Ihnen in einem meiner letzten Briefe schrieb, gedruckt wird. Es giebt Hindernisse. — Und alle Dinge haben Zeit oder sollten sie haben.
Nun wieder in’s Bett.
Mit herzlichem Gruß und Wunsch
F.N.
Salita delle Battestine
8, interno 4.
388. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Genua, 9. März 1883>
Soeben kam „Gsell-Fels Italien“ bei mir an. —
Ich leide gräßlich am Kopfe, Tag für Tag.
Es schneit, seit gestern Abend. Gab es je so viel Schnee in Genua? So war’s, als ich von Leipzig abreiste.
Ein deutscher Componist, Herr Bungert, hat mich besucht; zum ersten Male, daß mich Jemand hier besucht. — Was denkt man über seine Musik bei Euch? — Ich lag zu Bett mit verbundenem Kopfe, und er hat mich ein paar Stunden auf das Beste unterhalten — er erzählte mir seine Opern, die er selbst gedichtet hat, namentlich seine Nausikaa (er lebte in Porto fino) Es ist ein Dichter. —
(Eben blitzt und donnert es). Dein Freund
F.N.
388a. An August Bungert in Genua (Widmung)
Genua, 14. März 1883
Wer viel einst zu verkünden hat,
Schweigt viel in sich hinein:
Wer einst den Blitz zu zünden hat,
Muss lange — Wolke sein.
389. An Paul Deussen in Oberdreis
<Genua, 16. März 1883>
Das ist schön, lieber alter Freund! So soll man’s machen: alle seine sieben Kräfte einzeln entfalten und zuletzt zusammen nehmen und mit sieben Pferden nach Einem Ziele fahren. Da mußte Viel in einem Menschen zusammenkommen, um eine solche Vedanta-Lehre uns Europäern offenbaren zu können; und ich preise nicht am wenigsten, alter Freund, daß Du nicht verlernt hast, tüchtig zu arbeiten. Hieß nicht eine der drei Musen Μελέτη? Der Himmel weiß es: ohne rechtschaffenen Fleiß wächst nur Unkraut aus der schönsten Anlage. In der Nähe gesehn soll auch der beste Künstler sich nicht vom Handwerker unterscheiden. Ich hasse das Lumpengesindel, das kein Handwerk haben will und den Geist nur als eine Feinschmeckerei gelten läßt.
Es macht mir großes Vergnügen, einmal den klassischen Ausdruck der mir fremdesten Denkweise kennen zu lernen: dies leistet mir Dein Buch. Es kommt darin Alles auf’s Naivste an’s Licht, was ich in Hinsicht auf diese Denkweise geargwöhnt habe: ich lese Seite für Seite mit vollkommner „Bosheit“ — Du kannst Dir keinen dankbareren Leser wünschen, lieber Freund!
Der Zufall will, daß man gerade jetzt ein Manifest von mir druckt, welches ungefähr mit derselben Beredsamkeit Ja! sagt, wo Dein Buch Nein! sagt. Das ist zum Lachen; aber vielleicht thut Dir’s wehe, und ich bin mit mir noch nicht einig, ob ich es Dir schicken werde. Um Dein Buch machen zu können, durftest Du nicht so über alle Dinge denken wie ich; und Dein Buch mußte gemacht werden. Folglich — — — — — — — —
Von Herzen dankbar
Friedrich Nietzsche.
390. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Genua, 16. März 1883>
Lieber Freund, es hat sich Nichts verbessert, der Kopfschmerz arbeitet jeden Tag von ½ 12 bis Abends um 7, ich bin fast immer zu Bett, ein Paar Stunden des Vormittags abgerechnet. Dazu haben wir Winter; und eine ganze Woche Sonne war nicht im Stande, den Schnee Genua’s abzuthauen. Mein Arzt widerräth mir Genua, seiner Winde wegen, welche auf mein Gehirn wirken, auch wenn ich im Zimmer bin. Er empfiehlt mir Süd-Spanien. Ich bin ruhig, aber von der schwärzesten Melancholie. Mein Leben ist in allen Fundamenten mißrathen, ich empfinde das jeden Augenblick — und ebenso, daß es so kommen mußte, und daß es meine einzige „Existenzform“ ist.
Herr Bungert und ich, zwei brave Genuesen — wir haben nun 3 Jahre in der größten Nachbarschaft gelebt (auch diesen Winter wieder, in Santa Margar.) — und nichts von einander gewußt. Er führt meine Schriften mit sich herum und hat Vieles „hinter sich“ gelassen, was auch wir „hinter uns“ gelassen haben zB. Schopenhauer. Wenn mich nicht Alles täuscht, so gehört diese neue Bekanntschaft zu den ausgesuchtesten, die mir der Zufall schenken konnte. Er ist selbständig; ich fand nichts Krankhaftes bisher an ihm. Er hat Feuer im Leibe und Muth zu den größten Aufgaben; seine Grundsätze sind streng und den unsern so verwandt als möglich. „Die Studenten von Salamanca“ (aus dem Gil Blas genommen) sind in einem neuen Stile componirt: lange geschlossene symphonische Formen. Was ich von ihm hörte, machte mir im hohen Maaße den Eindruck des Reifgewordenen; er verlangt von einem Stücke, daß jede Note zuletzt dran nothwendig sei und nicht durch eine andre ersetzt werden könne. Es ist ein Dichter; er hat den Kopf voll der griechischen Heroensage, und seine Entwürfe sind jener Welt von Empfindungen entnommen, in der Aeschylus und Sophokles dichteten. Eine Niobe schwebt ihm als sein Äußerstes vor der Seele. — Der germanischen Sage ist er abgeneigt. Von jetzt lebenden italiänischen Dichtern liebt er Stecchetti („Postuma“), und seinetwillen wird er wohl später in Bologna leben. Vorgestern war sein Geburtstag, was zufällig herauskam; ich war den Abend bei ihm, und er spielte mir neue Stücke zB. Genova la superba. Er hat viel italiänische Lieder componirt. Früher gehörte er nach seinem Geschmacke zu den Ultra-Romantikern und Anhängern des „letzten“ Beethoven; aber er hat viel erlebt und sich viel verwandelt. Es ist ein Rheinländer der Abkunft nach. —
So! — Das nenne ich „schwatzen“! — Von Teubner in Leipzig niente. —
Himmel! Was ist das Leben für eine kuriose Erfindung! —
Der Tod Wagner’s ist mir eine große Erleichterung. — Privatissime: es steht bevor, daß ich für ein Jahrzehnd „von der Welt verschwinde“. Aber die Gesundheit redet ihr Wort
Von Herzen der Ihre
F.N.
391. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Genua, 20. März 1883>
Mein lieber Freund,
ich schreibe Ihnen gleich noch ein Paar Worte über Hr. Bungert und schicke auch zugleich etwas Musik von ihm an Sie ab (ich selber kenne dieselbe noch nicht.) Mit seinen gedruckten Sachen steht er bei op. 27; nun ist aber die ganze Genueser Ausbeute noch unedirt. Er lebt von dem, was man ihm für seine Musik bezahlt (man bezahlt sehr viel), hinzugerechnet, daß er wöchentlich etwa 4 Stunden giebt. Er besitzt einen herrlichen Flügel, ein Pianino und eine „comfortable“ Einrichtung für 2 Zimmer — alles erworbenes Hab und Gut; auch eine gute Bibliothek — für griechische Tragödie und für Homer viel Philologisches; dann eine Menge Lyriker. Er hat Vorlieben für Unbekanntes auch innerhalb der deutschen Litteratur; es scheint wirklich das Beste unbekannt, wenigstens mir unbekannt zu bleiben.
In Bezug auf Gedichte ist mir seine Cultur ganz erstaunlich. Wie stark und wie geistreich weiß er einem Gedichte beizukommen! Aber die Musiker sollten auch billigerweise die besten Interpreten sein.
„Wirkung“ seiner Musik auf mich? Ach, Freund, ich bin langsam in der Liebe, ich empfinde das Fremde zu lange, wie alle Einsamen thun; aber ich gebe mir Mühe. Ich sagte ihm neulich, der wahre Künstler sei der, welcher „mit Vernunft rase“; so scheint es mir bei ihm zu stehn und ich habe meine große Freude dran. Sein Affekt geht leicht in die Höhe, und es ist nichts Gewolltes und Geschraubtes daran; auch ist er allen „hysterischen“ Leidenschaften herzlich feind. Es scheint mir, daß er jetzt „machen kann“, was er will; dies ist seine Gefahr; er muß sich durch große Aufgaben erziehn. Das Leben hat ihm vor 3 Jahren die tiefste Wunde gemacht; er meinte, man wachse nur durch große Verluste: erst seitdem hat er seine dramatischen Ziele. Sein nächster Freund ist der Bildhauer Cauer in Rom. Er ist entschlossen von Charakter und kein Schmeichler; die Kellner mögen ihn, obwohl er sie etwas mißhandelt. Er besucht keine Gesellschaften, aber man legt, wie es mir scheint, hier großen Werth darauf, ihn einmal bei sich zu haben; besonders die Familie des deutschen Consuls Leupold und Engländer. Vorgestern überraschte er mich durch die Schnelligkeit, mit der er ein Lied componirte, das ihm die Königin von Rumänien zusandte: es hieß „Alpenglühen“ — nachdem ich es vier Mal singen gehört hatte, schien es mir ein sehr gutes Gedicht. (Besagte Dame wird in Pegli erwartet.) Für den Frühling geht er nach Deutschland, um seine Gil-Blas-Oper aufzuführen (sie ist in Leipzig und Köln angenommen; er corrigirt eben Partitur- und Klavierauszug-Abschriften. Den Klavierauszug hat Blomberg gemacht: wissen Sie aus Basel noch, wer das ist?)
— Ganz unter uns, lieber Freund: der Ort, wohin ich mich zurückziehn werde, ist Barcelona in Spanien, vom Herbste an. Ich will meine Lebensaufgabe schon zu Ende führen — aber damit ist das nicht widerlegt, was ich im letzten Briefe andeutete. (Ich leide viel zu viel, und ich entbehre — Alles!)
Noch fällt mir ein: Bungert findet die Orchestration von Carmen außerordentlich, höchstens zu raffinirt; er erzählte, daß Hector Berlioz selber bei dieser Partitur sehr die Hand im Spiel gehabt habe. — Was seine eigne Orchestration in der Gil-Blas-Musik betrifft, so fürchtet er, daß sie „zu schwer“ ist. — Es giebt eine Ouvertüre „Tasso“ von ihm und eine Symphonie (ungedruckt).
So! Mein lieber alter Freund, ein geschwätziges Brieflein.
Allerschönsten Dank!
Ihr F. N.
(krank)
392. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Genua, 22. März 1883>
Mein lieber Freund,
gestern Abend hörte ich wieder Carmen — es war vielleicht die zwanzigste Aufführung in diesem Jahre, das Haus gestopft voll, wie immer: es ist hier die Oper der Opern. Sie sollten die Todtenstille hören, wenn den Genuesen ihr Leibstück gespielt wird — das Präludium des 4ten Aktes, und das Bis-Geheul hinterdrein. Auch die „Tarantelle“ gefällt ihnen sehr. Nun, alter Freund, auch ich war wieder ganz glücklich, es bewegt sich bei dieser Musik irgend ein tiefer tiefer Grund in mir, und ich nehme mir immer dabei vor es auszuhalten, und lieber noch meine äußerste Bosheit auszuschütten als an mir — zu Grunde zu gehen. Ich dichtete fortwährend dabei Dionysos-Lieder in denen ich mir die Freiheit nehme, das Furchtbarste furchtbar und zum Lachen zu sagen: dies ist die jüngste Form meines Wahnsinns. Wenn ich nur diesem Herrn Gumbert, Pardon! Bungert etwas von dieser Musik beibringen könnte, hinzu zu seinem Schumann-Brahmsschen Schwebe-Idealismus, den ich auf die Dauer nicht aushalte: es fehlen die Knochen. Ich glaube, wir haben uns bereits etwas von einander „entfernt“; und als ich Carmen wieder hörte, war ich noch „entfernter.“
Ah diese verfluchte Gesundheit! Ich liege zu Bett und stehe auf, um mich wieder zu legen. Noch kein Spaziergang. Alle 2 Tage schwätze ich mit Dr. Breiting über Physica und Medica, — das thut mir wohl.
Sie schrieben zuletzt vom „Hochgebirge“? So denke ich auch; ich will an die Südseite des Montblanc, nach Cour majeur. Aber vor Mai geht das nicht. Und wie soll ich bis Mai noch leben! So viele Tage!
Verzeihung, daß ich so oft schreibe: ich vertraue jetzt so wenig Menschen.
In Treue
F N.
393. An Franz Overbeck in Basel
<Genua, 22. März 1883>
Mein lieber Freund, mir ist zu Muthe, als hättest Du mir lange nicht geschrieben. Aber vielleicht täusche ich mich, die Tage sind so lang, ich weiß gar nicht mehr, was ich mit einem Tage anfangen soll: es fehlen mir alle „Interessen“. Im tiefsten Grunde eine unbewegliche schwarze Melancholie. Im Übrigen Müdigkeit. Zumeist zu Bett; auch ist es das Vernünftigste für die Gesundheit. Ich war recht mager geworden, man wunderte sich; jetzt habe ich eine gute trattoria und will mich schon wieder herausfüttern. Aber das Schlimmste ist: ich begreife gar nicht mehr, wozu ich auch nur ein halbes Jahr leben soll, Alles ist langweilig schmerzhaft degoutant. Ich entbehre und leide zu viel und habe einen Begriff von der Unvollkommenheit, den Fehlgriffen und den eigentlichen Unglücksfällen meiner ganzen geistigen Vergangenheit, der über alle Begriffe ist. Es ist Nichts mehr gut zu machen; ich werde nichts Gutes mehr machen. Wozu noch etwas machen! —
Das erinnert mich an meine letzte Thorheit, ich meine den „Zarathustra“ (Ist es jetzt deutlich zu lesen? Ich schreibe wie ein Schwein) Es passirt mir alle Paar Tage, daß ich es vergesse; ich bin neugierig, ob es irgend einen Werth hat — ich selber bin in diesem Winter unfähig des Unheils und könnte mich im allergröbsten Sinne über Werth und Unwerth täuschen. Übrigens höre und sehe ich Nichts davon: äußerste Schnelligkeit war meine Bedingung des Drucks. Nur meine allgemeine Müdigkeit hat mich Tag für Tag verhindert, den ganzen Druck abzutelegraphiren; ich warte mehr als 4 Wochen auf Correcturbogen, es ist unanständig, mich so zu behandeln. Aber wer ist denn noch anständig gegen mich! So nehme ich’s denn hin. —
Der Winter verzögert sich dies Jahr um ein, zwei Monate. Sonst würde ich dran denken können, bald etwas in die Berge zu gehen und Höhenluft zu versuchen. Genua ist nicht das Rechte für mich; so findet Dr. Breiting.
Ich bin auch noch keinen Schritt spazieren gewesen. Die Nächte schwitze ich. Der tägliche Kopfschmerz ist milder geworden, aber immer noch regelmäßig.
Ich habe neulich Liebermeister’s im Hôtel de Gênes besucht; sie sind jetzt in Santa Margherita.
Hoffentlich bist Du mit Deiner lieben Frau in guter Stimmung, das Leben ist Euch wahrlich nicht mißrathen, ich denke mit Vergnügen daran.
Dein Freund
F N.
394. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Genua, 24. März 1883>
Mein lieber Freund, Sie haben mich sehr erbaut mit Ihrem Briefe! Nichts höre ich von Ihnen lieber als Ihre Versprechungen, es sei denn Ihre Erfüllungen, ich meine Ihre Musik. Ich habe gar nicht daran gedacht, daß Sie etwas von B<ungert> zu lernen hätten; und wenn ich von Ihnen im Gespräche ein Wort sagte (natürlich mit jedem Grad von Vorsicht), so nannte ich Sie immer den „Freund meiner Hoffnung“. — In Bezug auf die jetzige und bevorstehende deutsche Cultur — also abgesehn von uns „Zukunfts-Musikern“ — giebt mir B<ungert> Manches zu denken. Sehen Sie, da ist jetzt, abseits von dem Wagnerianismus, in Deutschland eine Musik-Empfindung obenauf, die sich eben, in Gestalt B<ungert>s, der Bühne bemächtigen will; die Vertreter derselben betrachten sich als erwachsen aus Beethoven und Schumann und haben darin Recht. (il motivo ist auch beim „letzten Beethoven“ abhanden gekommen, sein Mangel charakterisirt allen deutschen „Idealismus“, zB. auch die Idealistinnen wie M<alwida> von Meysenbug) Jene Vertreter fühlen sich als die Erben der deutschen Lyrik (Goethe — Heine — Daumer), ihr typisches Verhältniß ist in Bettina von Arnim ausgedrückt (— die sollten sie als ihre Heilige verehren!) — es ist das Verhältniß Goethe : Beethoven, oder vielmehr etwas Drittes, worin diese Beiden in ein Verhältniß kommen. Nun ist mir äußerst interessant, daß dieser lyrisch-romantische Geist, der in Deutschland jetzt der Fürsprecher der Sinnlichkeit ist, die Griechen hinzunimmt und zum ersten Male Homer zum Tönen bringen will. Dieses allgemeine Erlebniß der deutschen Cultur hat in Goethe’s Erlebnissen seine Vorgeschichte. Geht es gut, so kommt so etwas heraus dabei, wie „Hermann und Dorothea“ in Musik: auf mehr warte und hoffe ich nicht dabei. (Ganz persönlich genommen, ist mir diese deutsche Zukunft ziemlich gleichgültig, wie „Hermann und Dorothea“) An „Melodie“ wird es fehlen, hier wie dort, ich meine bei den Wagnerianern. Aber man wird das Gegentheil glauben. —
Ich dachte darüber nach, was eigentlich das ist, was Sie il motivo nennen. Ich dachte beinahe, es sei Musik, die man nicht macht, sondern die man nimmt: Volks-Musik. Man hat jetzt nachgewiesen, daß die beliebtesten Arien Bellini’s (auch Paesiello’s) ihr Motiv aus Liedern haben, die man um Catania herum singt. (Homer nahm die Motive zusammen, über die ein paar Jahrhunderte alle Rhapsoden gesungen hatten.) „II motivo“ scheint mir, auf musikalischem Gebiete das zu sein, was man „Sprichwort“ nennt. Was meinen Sie? — Dabei fällt mir mein „Zarathustra“ ein. —
Man trinkt in Genua Bier.
Was Spanien betrifft, so ist Ihr Argument auch ein Argument gegen Genua. — Lieber Freund, die Wahl Barcelona’s ist das letzte Ergebniß meiner klimatologischen Studien und beinahe die Entscheidung eines Verzweifelnden. Ich überlebe einen solchen Winter, wie diesen nicht wieder, sondern würde mir, wenn wieder mir auf so lange der Himmel verhüllt bliebe, unfehlbar das Leben nehmen. Sie kennen mich glücklicherweise hierin nicht; es ist nicht leicht möglich, mehr zu leiden als ich diesen Winter gelitten habe. Und „es hieng am Wetter!“ — — sagt mein Mephistopheles.
Von ganzem Herzen
Ihr F N.
Zuletzt wollen wir B<ungert> nicht Unrecht thun: das Heft Lieder gehört in seine Vor-Genueser Zeit — er hat Hunderte von Liedern gemacht, und auch jetzt noch 100 ungedruckt „auf Lager“.
395. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz
Genua, Ostern <25. März> 1883.
Werther Herr Verleger,
ich bin Gift und Galle gegen Sie oder Teubner oder die ganze verfluchte Druckerei. Man soll halten, was man verspricht, oder nicht versprechen.
Der Druck sollte beendet sein — ich sandte das M<anu>s<kript> am 14 Februar ab. Und ich habe noch keinen Bogen! So raubt man mir Monate; ich kann ja nichts anfangen, so lange so ein „Druck“ auf mir liegt. — Ich will nicht ein Wort mehr hinzufügen
Nietzsche.
396. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz
Genua, <1.>April 1883
Werther Herr Verleger,
es thut mir wohl, daß ich keinen Grund habe, auf Sie böse zu sein. Was Teubner’s betrifft — so geben mir diese zu verstehen, daß ein Brief von mir verloren gegangen sein müsse. Thatsache ist, daß ich unmittelbar nach Empfang der Druckprobe meine Zustimmung brieflich an Teubners gemeldet habe; ich habe nicht eine halbe Stunde verstreichen lassen. —
Diese fünf Wochen unnützen Aufenthaltes in dieser windigen feuchten und durchfrorenen Stadt sind meiner Gesundheit zum Verhängniß geworden. Fünf Wochen Fieber und Chininessen. Fast immer zu Bett.
Ihr
Nietzsche.
Denken Sie doch über das Titelblatt nach! Teubners sind in Dingen der Form wahre Tölpel.
397. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Genua, 2. April 1883>
Lieber Freund Köselitz, nehmen wir an, daß es jetzt wieder aufwärts geht — vergessen und verbrennen Sie den Unsinn meiner diesjährigen Briefe und glauben Sie kein Wort von alledem, was ein kranker Mensch spricht. Ihr letzter Brief war wieder so reich an kräftigen Einsichten — ich schämte mich ordentlich, daß Sie derlei als Antwort auf meine todtmüde Bett-Briefschreiberei mir sendeten. Natürlich haben Sie Recht, und ich bin ein Unwissender in Dingen der musica. Alle meine Erinnerungen sind hierin zehn bis 20 Jahre alt; und damals war ich noch ein Andrer, oder vielmehr: ich war damals gewiß noch nicht „ich selber“. — Es ist Schade, daß ich Ihnen das Liederheft Bungert’s sendete, ich wußte nicht, was darin stand und wollte ihn wahrhaftig nicht bei Ihnen herabsetzen. Ich halte ihn für etwas — er ist sehr fleißig und unangenehm. Was muß ich aber für Unsinn geschrieben haben, daß Sie glauben konnten, er betrachte Beethoven als überwundenen Standpunkt — und ebenso, daß er eine tiefe Wirkung von mir aus erfahren habe? Von Beidem ist das Gegentheil wahr; es verdrießt mich, ihn derart bei Ihnen „verleumdet“ zu haben. Was Beethoven betrifft, so gehen meine Erinnerungen auf Tribschen zurück. W<agner> liebte die letzten Quartette sehr, er wollte mit ihnen demonstriren, daß Beeth<oven> sich aus der Form nichts mehr gemacht habe; „er hätte hier oder auch dort aufhören können“ — sagte er wohl bei einem Stück. Das allerletzte Quartett ist, wenn ich mich recht erinnere, eine Ausnahme, nach dem Urtheil der Wagnerianer ein „Rückschritt“. — Lieber Freund, für all diese Dinge, wie sie in Wahrheit stehen, müssen Sie mir erst wieder Ohren machen.
Ich dachte oft, daß jetzt für mich die rechte Zeit gekommen sei, mich an Haydn’s Quartetten zu erquicken. Die letzten Beethovenschen sind, nach meiner Erinnerung, als Ganzes eine undeutliche und launenhafte Musik: an einigen Stellen steht freilich der Himmel offner als irgendwo. (Damals sagte ich „das sind Behauptungen, aber keine Beweise: das ist ,gesetzt’, aber nicht — componirt“)
Zarathustra kommt jetzt an die Reihe. Was stand ihm im Wege? Eine halbe Million christlicher Gesangbücher, die Teubner bis Ostern fertig machen mußte. Unter welche Rubrik gehört eigentlich dieser „Zarathustra“? Ich glaube beinahe, unter die „Symphonien“. Gewiß ist, daß ich damit in eine andere Welt hinübergetreten bin — der „Freigeist“ ist erfüllt. Oder?
Von Herzen
dankbar Ihr Nietzsche.
(Ich bleibe bis zum 25ten hier.)
398. An Franz Overbeck in Basel
<Genua, Anfang April 1883>
Mein lieber Freund Overbeck, ich weiß Deinem guten Briefe nichts zu erwidern als: es geht vorwärts. Mit dem Leben bin ich diesmal noch davon gekommen: nun will ich auch noch mit der Gesundheit davonkommen. — So stand es immer mit meinen Erleb- und Erleidnissen: gesetzt ich halte sie aus, so werden sie mir noch zum Gewinn. Ich bin jetzt viel klarer und entschlossener als im vorigen Jahre, und als sehr sehr gebranntes Kind habe ich eine sehr klare und entschlossene Scheu vor dem Feuer: das will in meinem Falle sagen: Menschenscheu. Selbst in diesem letzten Monate (in Genua), der mich mit 4,5 Menschen bekannt gemacht hat, haben sich meine Erfahrungen wiederholt und bestätigt. Hundertmal habe ich mir gesagt, daß das wesentliche Genesungsmittel in den letzten drei Jahren die Enthaltung von allem Verkehre war. Jetzt ist Genua für mich „verspielt und verthan“. Ich bin stolz genug für ein unbedingtes incognito, selbst in ärmlichen Verhältnissen: aber halb geehrt, halb geduldet, halb verwechselt fühle ich mich wie in der Hölle — dazu bin ich nicht „stolz genug“. — Dein Vorschlag im letzten Briefe ist bei weitem das Acceptabelste von Vorschlägen, die mir neuerdings gemacht sind (Jakob Burckhardt hat mich sehr eindringlich aufgefordert, „Weltgeschichte ex professo zu dociren“ — mit Hindeutungen auf seinen Lebensabend) Aber warten wir erst noch Zarathustra ab: ich fürchte, keine Behörde der Welt wird mich darnach noch zum Lehrer der Jugend haben wollen. Übrigens — was stand diesem meinem Zarathustra im Wege? Eine halbe Million christlicher Gesangbücher! Aber jetzt komme ich bei Teubner an die Reihe (weshalb ich bis zum 25ten des Monats noch hier bleiben werde). — Verhältnißmäßig passe ich sehr gut nach Basel und zu den Baslern (besser als Du, liebster Freund!) Auch hier ist der Basler Dr. Breiting mir bei weitem der zuträglichste Verkehr. (Ich aß gestern mit ihm in seinem Hospital, das er commandirt und besuchte mit ihm die Kranken) Aber das Clima Basels ist mir ganz unmöglich, nach einem halben Jahre bin ich wieder halbtodt. Ich brauche reinen Himmel — sonst gehe ich an meinem gräßlichen Temperament zu Grunde (In allen Lebensaltern war der Überschuß des Leidens ungeheuer bei mir)
Zuletzt: es ist möglich, daß ich mit diesem Winter in eine neue Entwicklung eingetreten bin. Zarathustra ist etwas, das kein lebendiger Mensch außer mir machen kann. Vielleicht habe ich jetzt erst meine beste Kraft entdeckt. Selbst als „Philosoph“ habe ich meine wesentlichsten Gedanken (oder „Tollheiten“); noch nicht ausgesprochen — ach, ich bin so schweigsam, so versteckt! Aber gar als „Dichter"! Meine Philologie habe ich vergessen; ich hätte was Besseres in meinen 20-ger Jahren lernen können! Ach, was ich unwissend bin! —
Im Sommer Wald und Hochgebirge, im Herbst Barcelona — das ist das Neueste. Geheim zu halten!
In treuer Freundschaft
F N.
399. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz
<Genua>, Dienstag <2. April 1883>
Werthester Herr Verleger
„es steht nicht in meiner Macht“, den Zarathustra-Text zu Gunsten der ängstlichen Leipziger zu verändern — und es freut mich zu hören, daß Sie selber in dieser Beziehung mich und meine Unabhängigkeit vertreten haben. Was übrigens „den Staat“ betrifft: so weiß ich, was ich weiß. Mag man mich zu den „Anarchisten“ rechnen, wenn man mir übel will: aber gewiß ist, daß ich europäische Anarchien und Erdbeben in ungeheurem Umfange voraussehe. Alle Bewegungen führen dahin — Ihre antijüdische eingerechnet.
Aus einiger Entfernung gesehn sieht der „Antisemitismus“ ganz und gar so aus wie der Kampf gegen die Reichen und die bisherigen Mittel, reich zu werden.
Verzeihung! Wie komme ich dazu zu politisiren! —
Was das Titelblatt zu Zarathustra betrifft: so schlage ich diesmal etwas Neues vor, nämlich daß darauf gar nichts weiter steht als
Also
sprach Zarathustra.
Sehr groß natürlich und in rother Farbe, auf blaßgrünem Grunde. Was urtheilen Sie?
Eine vorläufige Anzeige durch die Augsburger Zeitung würde ich rathsam finden. Ja keine Reclame, lieber Herr Schmeitzner — es würde der „übermenschlichen“ Vornehmheit der Zarathustra-Tendenzen Abbruch thun.
Sie sprachen in Ihrem letzten Briefe von Geld-Überfluß oder etwas Ähnlichem. Wenn es Ihnen bequem fällt, so hätte ich gerne das Honorar hierher und bald — und zwar in französischem Papier. Gesetzt, daß es 6 Bogen werden, so betrüge die Summe gerade frs. 300.
Bitte, es in einem recommandirten Briefe zu senden, an meine angegebene Adresse, ohne eine Bezeichnung, daß Geld darin ist. Bisher habe ich auf diese Art mir alles Geld schicken lassen. —
Treiben Sie ja doch die Druckerei vorwärts! Ich will Genua verlassen und mit Schiff: und vorher soll Alles fertig corrigirt sein!
Mit herzlichem Gruß und Dank der Ihre
Nietzsche
Schlimmer als „starke Ausdrücke“ sind — „schwache Ausdrücke"!
(Auch ein Probeblatt des Umschlags (des Titels) soll Teubner schicken!)
400. An Malwida von Meysenbug in Rom
<Genua, um den 3/4. April 1883>
Verehrte Freundin,
inzwischen habe ich meinen entscheidenden Schritt gethan, Alles ist in Ordnung. Um einen Begriff davon zu geben, worum es sich handelt, lege ich den Brief meines ersten „Lesers“ bei — meines ausgezeichneten Venediger Freundes, der auch diesmal wieder mein Gehülfe beim Druck ist. —
Ich verlasse Genua, sobald ich kann und gehe in die Berge: dieses Jahr will ich Niemanden sprechen.
Wollen Sie einen neuen Namen für mich? Die Kirchensprache hat einen: ich bin — — — — — — — — der Antichrist.
Verlernen wir doch ja das Lachen nicht!
Ganz ergeben der Ihre
F. Nietzsche.
Genova, Salita delle Battestine 8 (interno 4).
Diese Adresse ist im strengsten Sinne nur für Sie.
401. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Genua, 6. April 1883>
Lieber Freund,
beim Lesen Ihres letzten Briefes überlief mich ein Schauder. Gesetzt, Sie haben Recht — so wäre also mein Leben doch nicht mißrathen? Und gerade jetzt am wenigsten, wo ich es am meisten geglaubt habe?
Andererseits gab mir Ihr Brief das Gefühl, daß ich nun nicht mehr lange zu leben habe — und es soll so gut sein! Sie glauben, lieber Freund, es nicht, was für einen Überschuß von Leiden mir das Leben abgeworfen hat, in allen Zeiten, von früher Kindheit an. Aber ich bin ein Soldat: und dieser Soldat ist zuguterletzt noch der Vater Zarathustra’s geworden! Diese Vaterschaft war seine Hoffnung; ich denke, Sie empfinden jetzt den Sinn des Verses an den Sanctus Januarius „der du mit dem Flammenspeere meiner Seele Eis zertheilt, daß sie brausend nun zum Meere ihrer höchsten Hoffnung eilt“ — —
Und auch den Sinn der Überschrift „incipit tragoedia“. —
Genug davon. Ich habe vielleicht keine größere Freude in meinem Leben gehabt als Ihren Brief. —
Nun geben Sie mir einen Rath. Overbeck besorgt sich um mich (geben Sie ihm doch etwas Vertrauen auch in Bezug auf Zarathustra) und hat mir jüngst den Vorschlag gemacht, ich möchte wieder nach Basel zurückkehren und zwar nicht an die Universität; aber etwa als Lehrer am Pädagogium weiterwirken (er schlägt mir vor, „als Lehrer des Deutschen“) Dies ist sehr gut und fein empfunden, ja es hat mich beinahe schon verführt: meine Gegengründe sind Gründe von Wetter und Wind usw. O<verbeck> meint, daß es schon „Anknüpfungspunkte“ geben würde, falls ich dieses Willens sei; man hat mich gut im Gedächtniß, und, die Wahrheit zu sagen, ich bin nicht der schlechteste Lehrer gewesen. Meine Augen und die geringe Arbeitskraft meines Kopfes in Hinsicht auf Dauer wollen in Rechnung gebracht sein: ebenso die Nähe J<acob> Burkhardts, eines der wenigen Menschen, mit dem zusammen ich mich wirklich wohl fühle.
In diesem Sommer will ich einige Vorreden zu neuen Auflagen meiner früheren Schriften machen: nicht als ob neue Auflagen bevorstünden, sondern damit ich noch zur rechten Zeit besorge, was zu besorgen ist. Gar zu gerne möchte ich auch noch den Stil meiner älteren Schriften reinigen und klären; aber das ist nur bis zu einer gewissen Grenze möglich. —
Was macht der Apulische Hirtenreigen? —
Mich ekelt davor, daß Z<arathustra> als Unterhaltungs-Buch in die Welt tritt; wer ist ernst genug dafür! Hätte ich die Autorität des „letzten Wagner“, so stünde es besser. Aber jetzt kann mich Niemand davon erlösen, zu den „Belletristen“ geworfen zu werden. Pfui Teufel! —
Treulich und dankbar
Ihr Freund Nietzsche.
402. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Genua, 17. April 1883>
Nun machen gar noch Sie, lieber Freund, „spanische Schlösser“ wie man in Frankreich sagt — und zwar neuspanische, mexikanische. Ich freue mich darüber! Wir werden dem jetzigen Europa fremd; damit dies Gefühl ein positivum werde, etwas Kräftiges und Schaffendes, wäre es freilich rathsam, es mit der räumlichen Entfremdung zu verstärken. Inzwischen haben wir Beide Grund zu warten: und ich wahrscheinlich doch eher in Barcellona als in Basel. Man verspricht mir für B<arcelona> reinen Himmel und wesentlich nördliche Winde; das Neueste aber ist, daß Genua sich eine direkte allwöchentliche Verbindung mit B<arcelona> herstellt — eine Folge der Gotthardbahn — wodurch uns Barcellona (c. 30 Stunden Fahrt) so nahe gerückt ist wie Neapel. — Ich bemerke ausdrücklich, daß bei dem Overbeckschen Vorschlage gar nicht der Gesichtspunkt materieller Versorgung maaßgebend gewesen, vielmehr der einer Beschwichtigung des Gemüths. Das letzte Jahr hat mir auf Ein Mal so viele Anzeichen davon gegeben, daß man (eingerechnet meine „Freunde“ und Angehörigen) mich, mein eigentliches Leben und Thun, verachtet; und ich bin nicht „gemacht“ zum Ertragen der Verachtung. In der That ist es äußerst zweifelhaft, ob ich jetzt ein „nützlicher“ Mensch bin; wer mich nicht als einen „schädlichen“ ansieht, der doch ganz gewiß als einen höchst überflüssigen Nichtsthuer. Mit „Zarathustra“ gerathe ich nun gar noch unter die „Litteraten“ und „Schriftsteller“, und das Band, das mich mit der Wissenschaft verknüpfte, wird als zerrissen erscheinen. —
Bemerken Sie doch, lieber Freund, daß Heinze bei weitem mein bester Fürsprecher in Universitätskreisen ist: er fällt damit auf und setzt sich dem Argwohne aus. Ich habe ihn gern: es ist eine sehr reinliche wohlmeinende und gerade Art. In Schulpforta war er noch mein Lehrer. Daß er nach Basel berufen wurde, war wesentlich mein Werk; und da ereignete sich das curiosum, daß ich, damals Dekan der philosophischen Fakultät, meinen früheren Lehrer „einzuführen“ hatte. —
Mit Rée habe ich „abgeschlossen": d. h. ich habe mir die Widmung seines Hauptwerks — verbeten. —
Ich will mit Niemandem mehr verwechselt werden.
Meine Erfahrungen in den letzten Wochen haben mir bestätigt, daß die 2-jährige absolute Enthaltung vom Verkehre hier in Genua das Hauptmittel meiner leiblichen Genesung gewesen ist. Die ärmlichste Einsamkeit soll mir recht sein: aber, nochmals, ich will nicht verwechselt werden.
Jene vorgeschlagene Basler Existenz ist mir nicht sicher genug, gerade auch in Hinsicht auf „Beschwichtigung des Gemüths“.
Ich habe, wohlerwogen, noch die Mittel, um 10 Jahre in meiner Weise zu leben. Das kommt von der Sparsamkeit. —
(Neulich imponirte mir ein buffo-Duett durch seinen Geist: hinterher hörte ich, daß es aus der Cenerentola sei.)
Treulich Ihr Freund N.
Von allen Menschen, die ich kenne, sind Sie der Einzige, an dessen Zukunft ich glaube und dessen Werden wirklich Etwas mit meinem Werden Gemeinsames hat. Deshalb darf ich Sie schon gelegentlich um Rath fragen. —
Ich lerne eigentlich jetzt erst Zarathustra kennen. Seine Entstehung war eine Art Aderlaß, ich verdanke ihm, daß ich nicht erstickt bin. Es war etwas Plötzliches, die Sache von 10 Tagen.
403. An Franz Overbeck in Basel
Genova, Mittwoch. <17. April 1883>
Lieber lieber Freund, inzwischen habe ich mir Deinen Vorschlag nochmals überlegt und auch den Venediger maestro zu Rathe gezogen. Das Wetter ist herrlich, meine Gesundheit und mein Muth immer im Wachsen: somit hat meine Überlegung einigen Werth. Es giebt viele ängstliche Zeiten für mich, über die ich schwer hinwegkomme; da zweifle ich denn auch am Werthe meiner Überlegungen und Entschlüsse. Sobald Gesundheit und Wetter sich aber aufheitern, gestehe ich mir immer ein, daß ich mit einem äußerst schmerzhaften Leben doch auf ein Ziel lossteure, um dessentwillen es sich schon lohnt, hart und schwer zu leben. Ich bin mir dessen deutlich bewußt: am schlechtesten ist mir immer bisher jedes Beiseitegehen von meiner Hauptsache bekommen, sei es selbst in Gestalt eines Berufs oder des Arbeitens für Andre (— in welche Rubrik, kurioser Weise, mein letzter Sommer und Herbst gehört) Und diesen Winter hat mich Nichts am Leben erhalten als das plötzliche Zurückspringen auf meine Hauptsache: da liegen meine Pflichten, wo ich an mich die schwersten Anforderungen stellen muß, da liegen auch meine Lebensquellen. Lehrer sein: ach ja, es wäre wohlthätig genug jetzt für mich (vorigen Sommer war ich’s noch und empfand, wie gut dies zu mir passe) Aber es giebt etwas Wichtigeres, gegen das gerechnet mir auch ein nützlicher und wirkungsvoller Lehrer-Beruf nur als Erleichterung des Lebens, als Erholung gelten dürfte. Und erst, wenn ich meine Hauptaufgabe erfüllt habe, werde ich auch das gute Gewissen für eine solche Existenz, wie Du sie mir wünschest, finden. —
Aber vielleicht habe ich sie erfüllt?
Inzwischen kam Zarathustra, langsam, Bogen für Bogen, zum Vorschein. Ja, ich lernte ihn jetzt erst kennen! In jenen 10 Tagen seiner Entstehung hatte ich dazu keine Zeit. Wirklich, liebster Freund, es scheint mir mitunter, als ob ich gelebt, gearbeitet und gelitten hätte, um dies kleine Buch von 7 Bogen machen zu können! ja als ob mein Leben damit eine nachträgliche Rechtfertigung erhalte. Und selbst auf diesen schmerzhaftesten aller Winter sehe ich seitdem mit andern Augen: wer weiß, ob nicht erst eine so große Qual nöthig war, mich zu jenem Aderlaß zu bestimmen, als welcher dies Buch ist? Du verstehst, es ist sehr viel Blut in diesem Buche.
Darf ich Dich bitten, mir die 1000 frcs (in französischem Papier, s il [v]Vous plaît!) baldigst zu kommen zu lassen? An meine Adresse, Salita delle Battestine 8 (interno 4) und recommandirt, aber ohne Angabe des Inhaltes.
Sodann bitte ich Dich noch um die Adresse der verehrten Frau Rothpletz in München, der ich immer noch nicht Dank gesagt habe, daß sie mir so tröstlich zum 1 Januar schrieb. —
Herr Dr. Fuchs kann sich gratuliren, daß er einmal im Leben so gütig beurtheilt worden ist, wie von Dir in Deinem Briefe. Ich weiß etwas zu viel von ihm. —
Von Herzen Dir und Deiner lieben Frau zugethan
Dein Nietzsche.
Ich dankte Dir noch gar nicht für Deinen reichen ausführlichen Brief, den ich um so mehr zu schätzen habe als er Dich des Restes Deiner Mußezeit beraubt hat!
Wenn Du doch aus dieser Universitäts-Welt heraustreten könntest! Und zumal aus der schweren Luft der noch mehr verschränkten als beschränkten Basler!
Hier am Meere giebt es genug kleine Städte, wo man halb so billig und dreimal so gesund lebt als in Basel. —
404. An Malwida von Meysenbug in Rom
<Genua, um den 20. April 1883>
Wollen Sie nicht ein wenig mit lachen, hochverehrte Freundin? Ich lege eine Karte bei, vom Verfasser jenes Briefes — Erwägen Sie doch, es ist gegen das Ende des neunzehnten Jahrhunderts! Und der Schreiber ist ein anscheinend vernünftiger Mensch ein Skeptiker — fragen Sie nur meine Schwester!
Es ist eine wunderschöne Geschichte: ich habe alle Religionen herausgefordert und ein neues „heiliges Buch“ gemacht! Und, in allem Ernste gesagt, es ist so ernst als irgend eines, ob es gleich das Lachen mit in die Religion aufnimmt. —
Wie geht es Ihrer Gesundheit? Ich war im Ausgange des Winters schlimm daran: ein heftiges Fieber hat mich fast fünf Wochen gequält und ans Bett gefesselt. Wie gut, daß ich allein lebe! -
Nicht wahr, Sie heben mir die beiden Curiosa auf oder senden Sie gelegentlich zurück? Bis zum 25ten bin ich (was ich im Grunde sehr bin) noch Genuese.
Von Herzen Sie verehrend
Nietzsche.
Die Bemerkung auf der Mitte der Karte ist gut. — In der That habe ich das Kunststück (und die Thorheit) „begangen“, die Commentare eher zu schreiben als den Text. — Aber wer hat sie denn gelesen? Ich meine: jahrelang studirt? Ein Einziger, so viel ich weiß: dafür hat er nun auch seine Freude am Texte.
In Deutschland fand ich voriges Jahr die Oberflächlichkeit des Urtheils bis zu dem Punkte des Blödsinns gereift, daß man mich mit Rée verwechselte. Mit Rée!!! Ich meine, Sie wissen, was das sagen will. —
405. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Genua, 21. April 1883>
Lieber Freund, in Hinsicht auf Ihre Karte erlaube ich mir, nicht ohne etwas Ironie, Schopenhauers Satz zu citiren: „Moral predigen — ist leicht“.
Ihre Bemerkung über „Räderwerk“ und „Organismus“ finde ich wahr. Es ist ein curiosum: ich habe den Commentar früher geschrieben als den Text. Versprochen ist Alles schon in „Schop<enhauer> als Erz<ieher>“; es war aber ein gutes Stück Weg von „Menschl<iches>, Allzum<enschliches>“ bis zum „Übermenschen“ zu machen. Wenn Sie jetzt einen Augenblick an die „fröhl<iche> Wiss<enschaft>“ zurückdenken wollen, so werden Sie lachen, mit welcher Sicherheit, ja impudentia darin die bevorstehende Geburt „annoncirt“ wird. —
Auf die Gefahr hin, Ihnen einen Augenblick des Ekels zu machen und unter der Bedingung, daß Sie diesen Brief sogleich verbrennen, rechtfertige ich mich wegen des Wortes „Verachtung“, das Sie zu stark und unglaubwürdig finden. Ich habe mich nie von der Meinung Anderer über mich führen lassen; aber mir fehlt die Menschenverachtung und die glückliche Mitgift des Bärenfells — und so bekenne ich, zu allen Zeiten des Lebens sehr an der Meinung über mich gelitten zu haben. Bedenken Sie, daß ich aus Kreisen stamme, denen meine ganze Entwicklung als verwerflich und verworfen erscheint; es war nur eine Consequenz davon, daß meine Mutter mich voriges Jahr einen „Schimpf der Familie“ und „eine Schande für das Grab meines Vaters“ nannte. Meine Schwester schrieb mir einmal, wenn sie katholisch wäre, so würde sie in ein Kloster gehn, um den Schaden wieder gut zu machen, den ich durch meine Denkweise schaffe; ja sie hat mir offne Feindschaft angekündigt, bis zu jenem Zeitpunkte, wo ich umkehren und mich bemühen werde, „ein guter und wahrer Mensch zu werden“. Beide halten mich für einen „kalten hartherzigen Egoisten“, auch Lou hatte von mir die Meinung, bevor sie mich näher kennen lernte, ich sei „ein ganz gemeiner niederer Charakter, immer darauf aus, Andre zu meinen Zwecken auszubeuten“. Cosima hat von mir gesprochen als von einem Spione, der sich in das Vertrauen Anderer einschleicht und sich davonmacht, wenn er hat, was er will. Wagner ist reich an bösen Einfällen; aber was sagen Sie dazu, daß er Briefe darüber gewechselt hat (sogar mit meinen Ärzten) um seine Überzeugung auszudrücken, meine veränderte Denkweise sei die Folge unnatürlicher Ausschweifungen, mit Hindeutungen auf Päderastie. — Meine neuen Schriften werden an den Universitäten als Beweise meines allgemeinen „Verfalls“ ausgelegt; man hat eben etwas zuviel von meiner Krankheit gehört. Aber das thut mir weniger wehe, als wenn mein Freund Rohde sie als „kalt-behaglich“ empfindet und als „wahrscheinlich sehr zuträglich für die Gesundheit“. — Zuletzt: jetzt erst, nach der Veröffentlichung des Zarathustra, wird das Ärgste kommen, denn ich habe, mit meinem „heiligen Buche“, alle Religionen herausgefordert.
— Rée ist immer gegen mich von einer rührenden Bescheidenheit gewesen, dies will ich Ihnen ausdrücklich bekennen. — „Aus der Welt fort in den Wald ziehn! Punktum."
Ihr treugesinnter
Nietzsche
406. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Genua, 23. April 1883>
Heute lernte ich zufällig, was „Zarathustra“ bedeutet: nämlich „Gold-Stern“. Dieser Zufall machte mich glücklich. Man könnte meinen, die ganze Conception meines Büchleins habe in dieser Etymologie ihre Wurzel: aber ich wußte bis heute nichts davon. —
Es regnet in Strömen, aus der Ferne klingt Musik zu mir. Daß mir diese Musik gefällt und wie sie mir gefällt, weiß ich nicht aus meinen Erlebnissen zu erklären: eher noch aus denen meines Vaters. Und warum sollte nicht — ?
Ihr Freund N.
407. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Genua, 27. April 1883>
Lieber Freund,
jetzt ist die Correctur zu Ende: ich drücke Ihnen die Hand! Wie gut Sie verstehen zu corrigiren, und wahrhaftig nicht nur meine Texte, sondern me ipsum — das bewies mir wieder Ihr herrlicher letzter Brief.
Ich hätte Ihnen jene häßlichen Dinge nicht schreiben sollen: zumal sie ganz unvollständig und ungenügend sind, um Ihnen die Qual und Melancholie dieses Winters zu erklären. Was liegt an schiefen Urtheilen über mich! — so habe ich selber in jeder hellen Stunde empfunden. Viel schwerer drückten auf mich eine Anzahl widerlich-schauerlicher Thatsachen, deren Mitwisser ich geworden war, ohne irgend Etwas dabei zu thun zu haben. Am schlimmsten aber litt ich an einem verschwiegenen Ehrenhandel, aus dem ich lange keinen Ausweg sah als meinen Tod. — Zuletzt kam der Tod Wagners. Was riß damit Alles in mir auf! Es ist meine schwerste Probe gewesen, in Bezug auf Gerechtigkeit gegen Menschen — dieser ganze Verkehr und Nicht-Mehr-Verkehr mit Wagner; und mindestens hatte ich es zuletzt hierin zu jener „Indolenz“ gebracht, von der Sie schreiben. Was kann freilich melancholischer sein als Indolenz, wenn ich an jene Zeiten denke, wo der letzte Theil des Siegfried entstand! Damals liebten wir uns und hofften Alles für einander — es war wirklich eine tiefe Liebe, ohne Nebengedanken. —
Jetzt, lieber Freund, will ich zusehn, wie ich alle meine persönlichen Verhältnisse wieder in Ordnung bringe. Meine Schwester hat mir von Rom aus geschrieben, und auf das Versöhnlichste: — zum Danke dafür will ich jetzt über Rom reisen.
Im Übrigen habe ich mir jetzt diesen Gesichtspunkt vor die Seele gestellt: je mehr man mich vergißt, um so besser hat es mein Sohn, als welcher heißt Zarathustra. Woraus sich ergiebt, daß ich ein noch verborgeneres Leben vor mir habe als mein bisheriges war. Von Herzen dankbar
Ihr Freund Nietzsche.
(Ich reise nächsten Donnerstag Nachts, den 3 Mai)
408. An Elisabeth Nietzsche in Rom
Genova Freitag den 27 April. <1883>
Meine liebe Schwester,
es war der reine Zufall, daß Dein Brief in meine Hände kam, denn ich gehe nicht mehr wie sonst zur Post. Aber es soll ein guter Zufall gewesen sein: und so will ich Dir denn gleich antworten. Es freut mich von Herzen, daß Du nicht mehr Krieg gegen Deinen Bruder führen willst. Zu alledem bin ich jetzt auf einem Punkte angelangt, in dem man nicht mehr Krieg gegen mich führen darf, wenn man „weise“ und meine Schwester ist. —
Es war mein schwerster und kränkster Winter; abgerechnet 10 Tage, welche mir gerade genügten, um Etwas zu machen, um dessentwillen sich mein ganzes schweres und krankes Dasein lohnt. Ich hatte aus meiner kurzen „Rückkehr zu den Menschen“ eine solche Summe von widerlich-schauerlichen Eindrücken mitgenommen, daß ich eine Zeitlang ihre Last zu schwer fand. Nun, ich bin über Vieles in meinem Leben schon Herr geworden; aber es gab darin manche heftige Überwindung, um „dem Leben überhaupt“ gut zu bleiben und meine persönlichen Erfahrungen als unwesentlich bei einer solchen Gesammtabschätzung durchzustreichen.
Dies habe ich denn auch diesen Winter wieder gethan: und auf die Dauer werde ich auch alle meine menschlichen Beziehungen, die einstweilen etwas verwirrt sind, wieder in Ordnung gebracht haben, — mit Dir anzufangen.
Und dies wäre der Anfang, daß ich jetzt nach Rom komme. In der That, der Frühling kommt spät, unsre Küstengebirge hier tragen noch Schneekronen. So habe ich denn noch einen Monat Zeit.
Bitte, verhilf mir zu einem guten Zimmer, worin man sich recht ausruhen kann, ich bin oft so müde. Auch kann man mir in Betreff der Stille nirgends mehr genug thun.
Die „ewige Stadt“! Ich bin ihr nicht gut gesinnt und komme nicht ihretwegen nach Rom. Aber sage das ja nicht der verehrten Meysenbug! —
Aber was ist denn das für eine widernatürliche Vermehrung meiner Reichthümer, von der mir eben Overbeck aus Basel schreibt? — Was die Schreibmaschine betrifft, so hat sie ihren „Knacks“ weg: wie Alles, was charakterschwache Menschen eine Zeitlang in den Händen haben, seien dies nun Maschinen oder Probleme oder Lou’s. Aber mein hiesiger Arzt, ein Basler, der mich hier von einer Malariahaften influenza kurirt hat, macht sich ein Vergnügen daraus, sie bei sich zu haben und zu „kuriren“; und wirklich, er zeigte mir neulich einen Vers, den er mit ihr zuwege gebracht hatte und der anfieng:
„Schreibkugel ist ein Ding gleich mir von Eisen“ —
Was nun das „Eiserne“ anlangt: so willst Du, daß es Thon werde. Welcher Gedanke! Liebe Lisbeth, je mehr man mich vergißt, um so besser geht es meinem Sohne, der da heißt: „Zarathustra“: dies ist ein Haupt-Gesichtspunkt — für mich und Dich.
Meine Gesundheit ist ziemlich hergestellt, doch habe ich, zur Beruhigung meines Nervensystems, nöthig gehabt, 4 Monate, Nacht für Nacht Schlafmittel zu gebrauchen: wovon ich mich nun entwöhnen will. —
Die Correctur ist zu Ende, also kann ich reisen. Somit will ich vorschlagen, daß ich nächsten Donnerstag (den dritten Mai) Nachts hier abfahre: Freitag Mittag bin ich dann in Rom.
Bis dahin gieb mir noch Nachricht.
Mit dem herzlichsten Danke
Dein alter Bruder Fritz.
(NB. Ich schreibe an unsere Mäms.)
Meine Grüße an Malvida!
Adresse: salita delle Battestine
8 (interno 4)
409. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz (Postkarte)
<Genua, 27. April 1883>
Werther Herr Verleger, mein Brief ist doch in Ihren Händen? Ich bat mir das Honorar in demselben für Genua aus; nun ist es dafür zu spät. Auch machte ich einen Vorschlag in Betreff des Umschlags: ein eben eintreffender Brief Teubner’s zeigt aber, daß Sie ihn noch gar nicht davon benachrichtigt haben. — Eine Adresse für mich bin ich außer Stande anzugeben; damit Sie aber nicht alle Verbindung mit mir verlieren, will ich Ihnen die jetzige Adresse meiner Schwester schreiben: deren Sie sich nöthigenfalls bedienen mögen.
Roma, via Polveriera 4
(piano 2)
Ergebenst Ihr Nietzsche.
410. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Genua, 29. April 1883>
Lieber Freund, ich danke allerschönstens für Brief und Sendung. Um Dir einen Begriff davon zu geben, daß mit der Gesundheit auch meine Menschlichkeit (sagen wir: „Gutmütigkeit“ —) überhand nimmt, melde ich, daß ich Donnerstag zu versöhnlichen Zwecken nach Rom reisen will (— eine dumme Reise in allen andern Rücksichten!) und daß ich eben an meine Mutter geschrieben habe.
Gestern las ich mich citirt, mit einiger Verwunderung, weil ich vergessen hatte, so ein Wort gesagt zu haben. Nämlich: „gut deutsch sein heißt sich entdeutschen.“ —
Dir und der Deinen das Herzlichste
F. N.
411. An Jacob Burckhardt in Basel
<Genua, 1. Mai 1883>
Hochverehrter Herr Professor,
zuletzt fehlt mir jetzt nichts als ein Gespräch mit Ihnen! Nachdem ich über den „Sinn meines Lebens“ etwas zur Klarheit gekommen bin, hätte ich gar zu gern Sie über „den Sinn alles Lebens“ sprechen hören mögen (ich bin jetzt mehr „Ohr“ als irgend etwas Anderes —) aber der Sommer führt mich diesmal nicht nach Basel, sondern nach Rom! Was das beifolgende Büchlein betrifft, so sage ich nur dies: irgendwann schüttet Jeder einmal sein Herz aus und die Wohlthat, die er sich damit erweist, ist so groß, daß er kaum begreifen kann, wie sehr er eben damit Allen Anderen am meisten wehthut.
Ich ahne etwas davon, daß ich dies Mal Ihnen noch mehr wehe thue als es bisher geschehen ist: aber auch das, daß Sie, der Sie mir immer gut gewesen sind, von jetzt ab mir noch guter sein werden!
Nicht wahr, Sie wissen, wie ich Sie liebe und ehre?
Ihr
Nietzsche.
Roma, via Polveriera 4 (piano 2)
412. An Gottfried Keller in Zürich
<Genua, 1. Mai 1883>
Hochverehrter Herr,
als Antwort auf Ihren gütigen Brief und zugleich als Bestätigung Ihres darin ausgesprochnen Gedankens — daß der große Schmerz die Menschen beredter mache als sie es sonst sind —: möchte sich Ihnen das beifolgende Büchlein empfehlen, das den Titel trägt
„Also sprach Zarathustra.“
Seltsam! Aus einem wahren Abgrunde von Gefühlen, in die mich dieser Winter, der gefährlichste meines Lebens, geworfen hatte, erhob ich mich mit Einem Male und war zehn Tage lang wie unter dem hellsten Himmel und hoch auch über hohen Bergen.
Die Frucht dieser Tage liegt nun vor Ihnen: möge sie süß und reif genug sein, um Ihnen — einem Verwöhnten im Reiche des Süßen und Reifgewordnen! — wohlzuthun!
Von Herzen Sie
verehrend
Prof Dr Nietzsche
Roma, via Polveriera 4 (piano II).
413. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz
<Genua, 1. Mai 1883>
Werthester Herr Verleger,
noch schnell ein Paar Worte, bevor die Noth des Einpackens losgeht! Denn mit Genua hat es nunmehr sein Ende.
Anbei folgen 4 Briefe, welche ich nicht zu lesen bitte — Pardon! — aber die in die betreffenden Freiexemplare eingelegt werden sollen. Die Adresse steht jedes Mal oben auf der ersten Seite.
Die Personen, welche Sie nach meinem Wunsche diesmal mit Freiexemplaren bedenken mögen, sind diese:
Herrn Dr. Sieber, Bibliothekar der
Basler Universitäts-Bibliothek,
zu geehrten Händen
Herrn Prof. Dr. Overbeck in Basel
Herrn Prof. Dr. Jakob Burckhardt in Basel
Frau Marie Baumgartner in Lörrach (Baden)
(Thumringer Strasse)
Herrn Staatsschreiber Gottfried Keller in Zürich
Herrn Prof. Dr. Rohde in Tübingen.
Frau L. Rothpletz in München
(13 Fürstenstraße)
Herrn Baron Hans von Bülow in Meiningen
Herrn Dr. Heinrich von Stein
Privatdozenten der Universität Berlin
Herrn Baron Carl von Gersdorff auf Ostrichen bei
Seidenberg (Schlesien)
Herrn Hofrath Prof. Dr. Heinze in Leipzig
Wenn Sie die Adresse des ausgezeichneten Dänen Hrn. Georg Brandes sich verschaffen können, so geschähe mir ein großer Gefallen, falls Sie ihn mit einem Exemplare in meinem Namen beschenken wollten.
Es ist gar nichts auf die Exemplare zu schreiben, ausgenommen meine römische Adresse, und diese auf die Außenseite der Pakete: also jedesmal
Prof. Dr. Nietzsche, Roma
4 via Polveriera
(piano 2)
Nun mache ich Ihnen wieder diese Mühe, lieber Herr Schmeitzner! Verübeln Sie mir es nicht und bleiben Sie wohlgesinnt
Ihrem „Autor"
Nietzsche
414. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz (Postkarte)
<Rom, 6. Mai 1883>
Werthester Herr Verleger, wie geht es Ihnen? Ich sende Ihnen von Rom aus einen herzlichen Gruß und eine ganz zuverlässige Adresse, welche von nun an an die Stelle der letztgenannten zu treten hat (auch auf allen Freiexemplaren)
Roma, piazza Barberini 56, ultimo piano
56 (sechs und fünfzig)
Ergebenst Ihr
Nietzsche.
415. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Rom, 10. Mai 1883>
Mein lieber Freund, es thut mir wohl zu denken, daß Ihr Herr Vater um Sie ist und das Geheimniß der Venediger Existenz seines Sohnes einmal mit Augen sieht. Es kommt eigentlich in allen Dingen auf dies „mit Augen sehen“ an; auch ich bin sehr zufrieden, zur Correctur meiner Urtheile und der Urtheile über mich, nach Rom gegangen zu sein und „mit Augen gesehn“ worden zu sein. Der vergangne Herbst und Winter ist mir hier recht ferne und fremd geworden; mancherlei darin war vielleicht nur eine furchtbare — Hallucination. —
Im Übrigen mögen zur Erklärung meines damals ganz ungewöhnlichen „Unlustgefühls“ jene elektrischen „Stürme“ ausreichen, welche in den Herbstund Wintermonaten alle Beobachter der elektrischen Strömungen in Erstaunen gesetzt haben: zeitlich fallen sie mit dem Sichtbarwerden großer Sonnenflecken zusammen.
Rom ist kein Ort für mich — so viel steht fest. Ich nehme diesen Monat hin als eine menschliche Erquickung und ein Ausruhen. Niemals noch habe ich so gut gewohnt; zum ersten Male war es, daß es als eine Ehre bezeichnet und empfunden wurde, mich im Hause zu haben: und natürlich war es eine Schweizer Familie, welche mich dermaßen auszeichnete.
Wenn ich sagen wollte, was mir fehlt, so würde ich sagen: Ihre Musik. Es giebt für mich keine köstlichere Art der menschlichen Erquickung und des Ausruhens.
Für den Sommer habe ich ein Projekt: ein gut eingerichtetes Schloß im Walde, von Benediktinern zu ihrer Erholung eingerichtet, mit zusammengeladenen befreundeten Menschen zu füllen. Ich will jetzt mir auch neue Freunde suchen.
In der Hauptsache aber halte ich fest, daß eine tiefe und strenge Einsamkeit, eine tiefere und strengere als je, auf mich wartet.
Wo ich bin, lieber Freund, da wächst auch die Liebe zu Ihnen, und ich will gerne der Herold Ihrer Musik heißen. Bleiben wir doch ja in allen guten Hoffnungen einander treu und gewogen!
Von Herzen Ihr Freund Nietzsche.
Adr.: Roma, Piazza Barberini 56, ultimo piano
416. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Rom, 13. Mai 1883>
Meine liebe Mutter,
eben habe ich zum ersten Male die weißen Hosen angezogen; es ist ungefähr die Zeit dazu, obwohl es bei uns hier viel kühler geblieben ist als bei Dir (nach Deinem letzten Briefe zu schließen, für den ich bestens danke.) Auf den Bergen, die wir um Rom sehen, liegt noch viel Schnee; das erhält ein Klima, wie es kaum erquicklicher zu denken ist. Heute ist eigentlich zum ersten Male der Himmel trübe, die Luft überaus dick und schwül.
Auch die Taschentücher kommen mir sehr zu Nutz, vielen Dank!
Meine weiteren Pläne und die mit ihnen verbundene Wahl eines Aufenthaltes geben mir viel Mühe und Kopfzerbrechen.
Rom selber ist völlig ungeeignet für mich; und dies recht gründlich begriffen zu haben ist ein Vortheil dieser letzten Reise hierher.
Mit den besten Grüben
und Wünschen
Dein F.
Wenn es je noch eine Gelegenheit giebt, etwas hierher zu senden, so bitte ich mir etwas aus, das mir sehr Noth thut — die einzige Sorte von Stahlfedern, mit denen ich bequem schreiben kann. Ich möchte gleich einen langen Vorrath davon, also 2 Gros (das sind 24 Dutzend)
Die Feder heißt
B
S. Roeders Humboldfeder
Berlin
B bedeutet „weich"
Man kann sie direkt bestellen (es genügt: S. Roeder Stahlfederfabrik Berlin) oder bei einem Naumburger Schreib-Papierhändler.
417. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz
<Rom, Mitte Mai 1883>
Werthester Herr Verleger
für Ihre Sendung und noch mehr für Ihre letzte Karte meinen aufrichtigen Dank: ich freute mich über alles eigentlich Persönliche, was letzte Karte enthielt und denke nunmehr, daß Sie auf Ihrer Bahn sind. Vielleicht daß Sie eben damit auch über die „Verlegenheiten des Verlegers“ hinaus kommen oder hinaus sind. —
Von Zarathustra höre ich kein Wort. Unbegreiflich! Lebt er noch? Oder haben Teubners ihn zuletzt noch umgebracht, etwa um seiner „starken Ausdrücke“ willen?
In der Sendung französischen Geldes lag einiger Humor für mich, erstens, weil ich inzwischen nicht nach Frankreich, sondern nach Rom gereist bin: woran ich damals, als ich Ihnen schrieb, noch nicht dachte. Und zweitens weil Sie mich nun gerade zu dem nöthigen, was ich mir ersparen wollte — nämlich: zu einem Banquier zu gehen. Das ist mir nämlich, bei der Schwäche meiner Augen und der gänzlichen Unerfahrenheit in Geldsachen, das Gräßlichste: und man betrügt mich ganz regelmäßig, oder ich lasse Geld liegen — kurz, ich komme schlimm dabei und davon weg.
Nichts für ungut! Ich erzähle es Ihnen nur, damit Sie etwas zu lachen haben.
Adresse nach wie vor: Roma, piazza Barberini 56 ultimo piano
Mit ergebenstem Gruße, auch von Seiten meiner Schwester
Nietzsche
418. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Rom, 20. Mai 1883>
Lieber Freund, ein Zufall erinnert mich daran, daß ich Ihnen im vorigen Jahre noch ein Wort über Ulfilas schuldig geblieben bin. U<lfilas> hat die ganze Bibel übersetzt: für das alte Testament benutzte er die Septuaginta. Alle Gothenstämme nahmen seine Übersetzung an: sie wanderte nach Spanien und Italien mit ihnen. Der größte Theil ist für uns verloren gegangen; vom alten Testament blieben nur Fragmente aus Esra und Nehemia und ein Psalm übrig. —
„Zarathustra“ ist die ächte unverderbte Form des Namens Zoroaster, also ein persisches Wort. Von den Persern wird auf p. 81 Mitte geredet. —
Inzwischen habe ich einen Brief an Sie abgesandt, doch, wie mir scheint, vergessen, auch meine Adresse Ihnen mitzutheilen: Roma, Piazza Barberini 56 ultimo piano. —
Ich bin sehr bewegt und bringe viel Zeit in heiterer Gesellschaft zu; sobald ich allein bin, fühle ich mich so erschüttert wie noch nie im Leben. — Und Sie, lieber Freund? —
419. An Franz Overbeck in Basel
<Rom, 20. Mai 1883>
Mein lieber Freund,
in Hinsicht auf Genesung und Herstellung geist-leiblicher Sicherheit war Rom ein guter Gedanke und hat sich bisher bewährt: ich fand überall und nicht nur bei meiner Schwester das entgegenkommendste Vertrauen — etwas, das ich sehr nöthig hatte, sei es auch nur als Symbol und Vorzeichen für etwas, das ich einmal sehr nöthig haben werde. Die Gesundheit zwar, im wörtlichsten Sinne, ist bisher durch Rom nicht gefördert, und die Großstadt ist sogar meinen Bedürfnissen entgegengesetzt. Für alles das, was Rom anbietet, bin ich zu wenig vorbereitet, oder vielmehr: ich bin zu sehr schon mit Vorbereitungen zu andern Dingen überladen, als daß ich noch genug freien Willen hätte, mich auf so viel Fremdes und Neues einzulassen. Der antike Kopf Epikurs, sowie der des Brutus, gab mir zu denken, ebenso drei Landschaften des Claude Lorrain. Im Grunde fand ich aber noch Nichts, woran ich einen Geist erkannt hätte der zu mir als zu einem Bruder und Freunde redete — und gestern sah ich gar Menschen die heilige Treppe hinauf knien!
Hoffentlich ist inzwischen mein Zarathustra in Deine Hände gelangt; ich selber weiß gar nichts mehr von ihm, seit die Correctur vorbei ist. Mag er seinen Weg allein gehen! —
Was die Verwendung der nächsten Jahre betrifft, so bin ich darüber nicht mehr im Ungewissen. Eine äußere Bedingung ist dazu die oft schon brieflich angedeutete „Weltflucht“: so viel ist klar und wer mir wohl will, wird es sich auch klar machen können. Es kostet mich dieser Entschluß viel mehr Mühe als Du glauben wirst; und die Erwählung des richtigen Ortes bringt mich fast zur Verzweiflung.
Ich meine, daß meine Schwester über die eigentlichen Motive dieser nächsten Schritte gut genug unterrichtet ist und bitte ihr hierüber, wenn sie davon sprechen sollte, Glauben zu schenken. Die Erlebnisse des vorigen Jahres sind ihr zu Gute gekommen — und insofern auch mir. Malvida Meysenbug ist lauter mütterliche Güte gegen mich; sie wünscht mir, was ich mir selber am meisten wünsche und versteht auch Wege und Griffe dazu. (Beiläufig: sie möchte gern, daß ich und Lenbach (der Maler) uns näher befreundeten)
Meine Adresse ist Roma, Piazza Barberini 56 ultimo piano: ich bleibe hier wohl noch bis in den Juni hinein.
Dir und den Deinigen — denn ich nehme an, daß die verehrte Frau Rothpletz bei Dir ist — meine und meiner Schwester allerbeste Grüße.
In Dankbarkeit Dein Freund
F.N.
420. An Karl Hillebrand in Florenz
<Rom, 24. Mai 1883>
Verehrtester Herr,
manche Jahre sind vorüber, in denen ich gegen Sie geschwiegen habe — schwerverständliche Jahre voller Selbstüberwindung und schwarzer Wellen, aus denen ich nunmehr „an die Oberfläche komme“, nicht als ein Ertrunkener, sondern, wie ich meine, voller als je an Leben.
Dies kleine Buch, das ich hiermit Ihrer Güte anheimgebe, ist ein ganz plötzliches Ereigniß, das Werk von zehn vollkommen hellen Tagen dieses schwermüthigsten aller Winter. Jetzt, wo ich es kennen lerne — denn bei seiner Entstehn fehlte mir dazu die Zeit, und inzwischen war ich krank — erschüttert es mich durch und durch und ich bin nach jeder Seite in Thränen. Alles, was ich gedacht, gelitten und gehofft habe, steht darin und in einer Weise, daß mir mein Leben jetzt wie gerechtfertigt erscheinen will. Und dann wieder schäme ich mich vor mir selber: denn ich habe hiermit nach den höchsten Kronen die Hand ausgestreckt, welche die Menschheit zu vergeben hat. —
Wer ist umfänglich genug an Menschlichkeit und Wissen, um einem solchen Narren, wie ich jetzt bin, das zu sagen, was er am liebsten hört, die Wahrheit, jede Wahrheit?
Unter den Lebenden weiß ich nur Sie und Jakob Burckhardt, die mir diesen Dienst leisten könnten — — so bitte ich Sie denn von ganzem Herzen: thun Sie es!
Nicht wahr, Sie wissen, wie hoch ich Sie verehre?
Friedrich Nietzsche.
Roma, piazza Barberini 56 ultimo piano.
421. An Marie Baumgartner in Lörrach
<Rom, 28. Mai 1883>
Inzwischen, verehrteste Frau, wird mein „Zarathustra“ bei Ihnen angelangt sein; und nach dem zu schließen, was Sie mir voriges Jahr über die ersten Zeilen desselben geschrieben haben (sie bildeten den Schluß der „fröhlichen Wissenschaft“); darf ich beinahe mit Sicherheit darauf schließen, daß dieser mein jüngster und liebster Sohn bei Ihnen nicht in der Fremde sein wird.
— Ich bin jetzt auf hoher See und verlange das Höchste von mir und — für mich. —
Im Zusammenhange damit steht nun ein Entschluß, der seit Jahren kommt und geht und wiederkommt und endlich — jetzt!
— mich reif findet und stark genug: der Entschluß, auf ein paar Jahre zu „verschwinden“.
Aber Sie meinen vielleicht, verehrte Freundin, ich sei schon genug „verschwunden gewesen“? — und Ihr letzter äußerst gütiger Brief scheint mir vielmehr den Wunsch auszudrücken, ich möchte aus den dunklen Wassern der Vereinsamung wieder „an die Oberfläche“ kommen!
Fragen Sie hierüber auch meinen Sohn Zarathustra: und wenn Entschuldigen von irgend welcher „Schuld“ dabei Noth thut, so wird er mich auch entschuldigen müssen!
Ich will es so schwer haben, wie nur irgend ein Mensch es hat: erst unter diesem Drucke gewinne ich das gute Gewissen dafür, etwas zu besitzen, das wenige Menschen haben und gehabt haben: Flügel — um im Gleichnisse zu reden.
Bleiben Sie mir gut, auch dann wenn ich „verschwunden“ und „verflogen“ bin!
Von Herzen Ihr Freund
Nietzsche.
422. An Elisabeth Nietzsche in Rom (Postkarte)
<Terni, um den 10. Juni 1883>
Mißrathen! Scirocco hielt sein flammendes Schwert über Aquila. Die Gegend nichts für mich! —
Mit heftigstem Kopfschmerz etc.. bis hierher, Terni, zurückgereist. Strömender Regen. Jetzt zu Bett!
Morgen weiter nach der Schweiz zu. Näheres weiß ich noch nicht.
Von Herzen Dein Bruder (recht verzweifelt aber!)
423. An Elisabeth Nietzsche in Basel (Postkarte)
<Bellagio, 15. Juni 1883>
Im lieblichen Regenneste angelangt. Doch voller Respekt vor den gutgehaltenen Wegen in weitem Umkreis, die ich soeben bei strömendem Regen auf die Probe gestellt habe. Im Gehen dachte ich viel an Dich, und mit der herzlichsten Dankbarkeit.
Fast schaudere ich jetzt vor der Einsamkeit zurück: aber ich habe es schon gelernt, die Zähne auf einander zu beißen.
Hier sagt man, es habe dies Jahr immer geregnet. Ein Zimmer mit Ofen im Engadin! — das wird der Humor der Sache sein!
Dein getreuer Bruder.
424. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Bellagio 15. Juni 1883>
Mein lieber alter Freund, diesmal sende ich, zur Auskunft über mich, keinen gräßlichen Brief (Du wirst mich meiner Briefe halber satt bekommen haben! —), sondern meine fröhliche und mit mir sehr wohl-versöhnte Schwester. Mit der angelegentlichen Bitte an Dich und Deine zu verehrende Frau, ihr die Treue entgelten zu lassen, die sie mir in jenen unwirschen Zeiten bezeigt hat, und mit dem Wunsche, daß ein seit 8 Wochen über Chemnitz („Zarath<ustra>“); gesandter Brief in den Händen von Frau Rothpletz ist, bin ich Dein Freund
N.
425. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Sils-Maria,> 21 Juni 1883.
Meine liebe Mutter und Schwester, dieser Brief wird, wie ich hoffe, Euch wieder bei einander finden; und vielleicht kommt er, wenn Ihr gerade von mir sprecht — nun, ich denke, nichts Schlimmes!
Inzwischen gieng es mir hart. Ich traf im Engadin bei Regen ein und recht durchgefroren: einige Stunden später war Sils-Maria eingeschneit. Ich blieb bis Mittwoch im Hôtel, leider heimgesucht vom bösen Kopfschmerz — dank dem unglaublichen Wetter. Es hat hier „immer geregnet“ — ganz so, wie man mir’s am Lago maggiore sagte. Die Gegend und ganze Art des Engadin gefällt mir wieder ausnehmend, es bleibt mir die liebste Gegend — aber es muß wärmer werden! Hier in meinem ungeheizten Zimmer fühle ich mich schlechter als in den kältesten Januartagen der Genueser Küste. Zudem fehlen immer noch (heute Donnerstag!) meine Sachen aus Rom.
Die Leute sind so gut gegen mich und freuen sich meiner Wiederkehr, zumal die kleine Adrienne. Im Hause selber, wo ich wohne, kann ich engl. Biskuits, Corned-beef, Thee, Seife und eigentlich alles Mögliche kaufen: das ist bequem.
Irgend ein reicher Freund sollte mir hier ein Haus von 2 Zimmern bauen: denn auf die Dauer mag ich in diesem ganz niedrigen, weißgetünchten Raum nicht leben. Daß ich aber noch manchen Sommer hier herauf muß — ist mir sehr wahrscheinlich.
Ihr könnt nicht glauben, wie melancholisch ich in der Ebene bin. — Hier oben bin ich mehr chez moi. —
Nun bitte, bitte: eine große Wurstsendung! Etwas recht Gutes! Auch eine Schinkenwurst dabei! Natürlich auf meine Unkosten! Aber recht bald, daß ich mich von innen her erwärme.
Wie kam’s doch, daß ich mich für die schwarze Weste nicht bedankt habe? Sie sitzt gut und war mir sehr nützlich. Dagegen sind meine 4 Paar weiße Hosen eine Ironie auf diesen Engadiner „Winter“. —
Glücklicherweise bin ich jetzt durch 3 Jahre eingeschult, Kälte zu ertragen.
Meine Stimmung ist gut.
Euch herzlich zugethan
Fritz.
Notiz, die allein von unsrer Mutter gelesen werden darf: bitte, besorge in meinem Namen für den 10. Juli Jakob Burckhardt, Der Cicerone. Neueste Auflage.
426. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Sils-Maria, kurz nach dem 21. Juni 1883>
Meine liebe Mutter
Eine Stunde nach dem Abgange meines Briefes kam Deine Sendung an: schneller konnte meine Bitte nicht erfüllt werden! In der That war Alles darin, was ich haben wollte — und Einiges mehr. Z.B. der herrliche Honig. Doch wollen wir’s ja nicht ein zweites Mal probiren! Gewöhnlich läuft der Honig unterwegs aus — wovon mir greuliche Geschichten erzählt wurden. Aber es ist so kalt! Es ist ein vollständiger rauher Winter hier: und sehr trübe dazu, wenn es nicht schneit oder regnet. Abscheulicher Wind!
Trotzdem — es wird schon gehen und besser werden.
Die Wurst ist ausgezeichnet, insgleichen die Süßigkeiten. Die Federn sind die richtigen, das ist eine wichtige Sache!
Sage doch meiner Lisbeth, daß die Kisten von Rom aus mich 87 frs. gekostet haben: und die Bücher sind dabei so verdorben worden, daß ich sagte: „noch zwei Mal und es ist Maculatur“.
Es ergab sich, daß ich in der weißgetünchten Stube es nicht aushielt — meiner Augen halber. So habe ich angeordnet, daß sie neu und zwar grünlich gestrichen wird.
Alle Kranken fand ich hier gesund geworden: und die Alten eher jünger als vor 2 Jahren. So den alten Pfarrer von 81 Jahren: er hat diesen Winter keine seiner Funktionen ausgesetzt und geht Sonntag in das tiefste Gebirge stundenweit um ein Kind zu taufen.
Euch von Herzen dankbar
F.
(Später doch noch eine Wurst- und Schinkensendung!)
NB. ich vergaß für die Abschrift der Recension zu danken. Das ist nun freilich die schüchternste und befangenste Art, von mir zu reden. In Anbetracht aber, daß es ein Leipziger Professor ist, der so schreibt, so ist vielleicht sogar noch der Muth anzuerkennen! — Im Vergleiche zu diesem armen Volke lebe ich freilich im „siebenten Himmel“ der Erkenntniß!
427. An Carl von Gersdorff in Ostrieben
Sils-Maria, Oberengadin (Schweiz) Ende Juni 1883.
Mein lieber alter Freund Gersdorff,
inzwischen habe ich erfahren, daß Dir etwas sehr Schmerzliches widerfahren ist — der Verlust Deiner Mutter. Als ich dies hörte, war es mir ein rechter Trost, Dich nicht allein im Leben zu wissen, und ich gedachte der herzlichen und dankbaren Worte, mit denen Du in Deinem letzten Briefe an mich, Deine Lebens-Gefährtin erwähntest. Wir haben es in unserer Jugend schwer gehabt, Du und ich — aus verschiedenen Gründen; aber es wäre eine schöne Billigkeit darin, wenn unserem Mannes-Alter einiges Milde und Tröstliche und Herzstärkende begegnete.
Was mich betrifft, so habe ich eine lange schwere Askese des Geistes hinter mir, die ich freiwillig auf mich nahm und die nicht Jedermann sich hätte zumuthen dürfen. Die letzten sechs Jahre waren in diesem Betracht die Jahre meiner größten Selbstüberwindung: wobei ich noch absehe von dem, was mich Gesundheit, Einsamkeit, Verkennung und Verketzerung überwinden ließ. Genug, ich habe auch diese Stufe meines Lebens überwunden — und was jetzt noch vom Leben übrig ist (wenig, wie ich glaube!) soll nun ganz und voll das zum Ausdruck bringen, um dessentwillen ich überhaupt das Leben ausgehalten habe. Die Zeit des Schweigens ist vorbei: mein Zarathustra, der Dir in diesen Wochen übersandt sein wird, möge Dir verrathen, wie hoch mein Wille seinen Flug genommen hat. Laß Dich durch die legendenhafte Art dieses Büchleins nicht täuschen: hinter all den schlichten und seltsamen Worten steht mein tiefster Ernst und meine ganze Philosophie. Es ist ein Anfang, mich zu erkennen zu geben — nicht mehr! — Ich weiß ganz gut, daß Niemand lebt, der so Etwas machen könnte, wie dieser Zarathustra ist —
Lieber alter Freund, nun bin ich wieder im Ober-Engadin, zum dritten Male, und wieder fühle ich, daß hier und nirgends anderswo meine rechte Heimat und Brutstätte ist. Ach, was liegt noch Alles verborgen in mir und will Wort und Form werden! Es kann gar nicht still und hoch und einsam genug um mich sein, daß ich meine innersten Stimmen vernehmen kann!
Ich möchte Geld genug haben, um mir hier eine Art ideale Hundehütte zu baun: ich meine, ein Holzhaus mit 2 Räumen; und zwar auf einer Halbinsel, die in den Silser See hineingeht und auf der einst ein römisches Castell gestanden hat. Es ist mir nämlich auf die Dauer unmöglich, in diesen Bauernhäusern zu wohnen, wie ich bisher gethan habe: die Zimmer sind niedrig und gedrückt, und immer giebt es mancherlei Unruhe. Sonst sind mir die Einwohner von Sils-Maria sehr gewogen; und ich schätze sie. Im Hôtel Edelweiß, einem ganz vorzüglichen Gasthofe, esse ich: allein natürlich, und zu einem Preise, der nicht gänzlich im Mißverhältniß zu meinen kleinen Mitteln steht. Ich habe einen großen Korb Bücher mit herauf gebracht: und auf drei Monate ist es wieder abgesehn. Hier wohnen meine Musen: schon im „Wanderer und sein Schatten“ habe ich gesagt, diese Gegend sei mir „blutsverwandt, ja noch mehr“. —
Nun habe ich Dir Etwas von Deinem alten Freunde und Einsiedler Nietzsche erzählt — ein Traum von dieser Nacht brachte mich dazu.
Bleib mir gut und treu! — wir sind alte Kameraden und haben Manches gemeinsam gehabt!
Dein
Friedrich Nietzsche.
428. An Heinrich Köselitz in Venedig
Sils-Maria, Engadin (Svizzera) <1. Juli 1883>
Wie kommt es doch, lieber Freund Köselitz, daß ich so lange nicht an Sie geschrieben habe? — so fragte ich mich eben. Aber ich war so unsicher und unschlüssig inzwischen, ein Hauch von Krankheit lag noch auf mir: da wollte ich nicht schreiben (ich habe diesen Winter leider viel zu viel Briefe geschrieben, die voller Krankheit sind —) Sodann mißrieth mir Einiges: so der Versuch, in Italien einen Sommeraufenthalts-Ort für mich zu finden. Einmal versuchte ich’s im Volsker-Gebirge und einmal in den Abruzzen (in Aquila) Nun ist mir verwunderlich gewesen, warum ich jetzt jedes Jahr, wenn der Frühling kommt, den heftigsten Trieb fühle, noch südlicher zu gehn: so dies Jahr nach Rom, voriges Jahr nach Messina; vor zwei Jahren war ich drauf und dran, mich nach Tunis einzuschiffen — da kam der Krieg. Die Erklärung liegt wohl darin, daß ich die Winter über jedesmal so an der Kälte gelitten habe (3 Winter ohne Ofen!) daß mit dem Erwachen der Wärme ein wahrer Heißhunger nach Wärme in mir erwacht. — Dies Jahr kam noch ein Heißhunger nach menschlichen, ich meine humanen Beziehungen hinzu: und namentlich nach „menschlicheren“ als das vorige Frühjahr mir gebracht hat. In der That, so wie ich jetzt Alles überschaue: so war das, was mir im vorigen Jahr und diesem Winter begegnet ist, von der schauerlichsten und bösesten Art: und ich wundere mich, daß ich mit dem Leben davon gekommen bin — wundere mich und zittere jetzt noch dabei.
— Man hat mir in Rom sehr viel Liebes und Herzliches erwiesen; und wer mir gut gewesen ist, ist es jetzt mehr als je.
Von Zarathustra höre ich jetzt eben, daß er noch „unversandt“ in Leipzig wartet: sogar die Freiexemplare. Das machen die „sehr wichtigen Verhandlungen“ und beständigen Reisen des Chefs der alliance antijuive, des Herrn Schmeitzner: da muß „der Verlag einmal etwas warten“: so schreibt er. Es ist wahrhaftig zum Lachen: zuerst das christliche Hinderniß, die 500 000 Gesangbücher, und nun das judenfeindliche Hinderniß — das sind ganz „Religionsstifterliche Erlebnisse“.
Malvida und meine Schwester waren erstaunt, wie bitter (verbittert) Zarathustra ausgefallen sei; ich — wie süß. De gustibus usw. —
Nun habe ich wieder mein geliebtes Sils-Maria im Engadin, den Ort, wo ich einmal sterben will; inzwischen giebt er mir die besten Antriebe zum Noch-Leben. Ich bin im Ganzen merkwürdig schwebend, erschüttert, voller Fragezeichen —: es ist kalt hier oben, das hält mich zusammen und stärkt mich. —
Ich will 3 Monate hier sein: aber was wird dann? Ach Zukunft! - - -
Fast jeden Tag denke ich mir aus, wie ich einmal wieder zum Hören Ihrer Musik komme; sie fehlt mir, ich weiß so wenig Dinge noch, die mir von Grund aus wohlthun. Aber Sils-Maria und Ihre Musik gehören dazu.
Ihr letzter Brief enthielt sehr schöne Gedanken, für die ich mich recht bedanke! Ich sah daraufhin mir noch einmal Epicur’s Büste an: Willenskraft und Geistigkeit sind im höchsten Grade an dem Kopfe ausgeprägt.
Ihnen nahe und von Herzen treu
F. N.
429. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Sils-Maria, Anfang Juli 1883>
Meine liebe Schwester
nun bin ich auch in Besitz Deines Briefes, wie ich schon längst im Besitz und Genuß Deiner Baseler Sendung bin; und ich wünschte Etwas zu haben, das ich Dir entgegen senden könnte, um nicht bloß mit Worten der Dankende zu sein. Aber Sils-Maria ist eine Art Ende der Welt; in Naumburg ist man „der Welt“ viel näher; leider, wie ich aus Deinem Briefe mit Betrübniß entnehme, auch „der bösen Welt“. Mach Dir doch ja um meinetwillen keine neuen Sorgen und Aufregungen; ich weiß es so schon gar nicht wieder gut zu machen, daß ich Dir in den letzten 12 Monaten der Störenfried Deines Lebens werden mußte.
Es war gut, daß wir in Rom zusammen waren; und wenn ich auch zu den schweigsameren Menschen gehöre, so wirst Du doch genug gehört und errathen haben, um zu wissen, wie es mit mir steht. — Das, was der Mensch sein Ziel nennt (das, woran er im Grunde bei Tag und Nacht denkt): das legt eine wahre Eselshaut um sein Wesen, so daß man ihn beinahe todtschlagen kann — er überwindet’s und geht, als der alte Esel, mit dem alten I-A seinen alten Weg. So steht’s jetzt mit mir. —
Hier habe ich mich auf 3 Monate eingemiethet: in der That, ich bin der größte Thor, wenn ich mir durch italiänische Luft den Muth nehmen lasse. Hier und da taucht der Gedanke in mir auf: was geschieht nachher? (Schreibe mir doch einmal über den Eindruck, den Lugano auf Dich gemacht hat.) Meine „Zukunft“ ist mir die dunkelste Sache von der Welt; da ich aber noch viel fertig zu machen habe, sollte ich auch nur an dieses Fertig-machen als meine Zukunft denken und das Übrige Dir und den Göttern überlassen. - - -
Die Gegenwart verlangt übrigens — Würste und Schinken: alle übersandten Fressalia habe ich mit dem größten Danke gegen die Geberin aufgespeist, insgleichen mit dem besten Appetite: mein Magen ist ganz in Ordnung.
Sollte Dein Geburtstag in der Nähe sein? Ich habe nicht die geringste Ahnung mehr, ob es Juni oder Juli ist: so leben die Philosophen — ohne Zeit. — Für den genannten Fall habe ich unsrer guten Mutter einen Wink gegeben, der hoffentlich nicht zu spät gekommen ist. Unter allen Umständen bin ich Dein getreuer Bruder und habe die allerherzlichsten Wünsche für Dich jederzeit bei mir.
Dein F.
(Pfefferkuchen bekommt mir nicht in dieser Höhe.)
430. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Sils-Maria, 6. Juli 1883>
Soeben, mein liebes Lama, sagt man mir, daß wir den 6ten Juli haben: so lasse ich schnell noch ein Brief-Täubchen abfliegen, daß Dir zur angemessenen Stunde meine allerschönsten Gratulationen überbringen mag.
Burckhardt’s Cicerone, dessen neueste Außage zu besitzen Du einmal den Wunsch geäußert hast, soll in meinem Auftrage auf Deinem Geburtstags-tische liegen; es ist wirklich eins der besitzenswürdigsten Bücher und beinahe belehrender als ein Aufenthalt in Rom: für uns Beide soll das Buch aber ein Erinnerungs-zeichen sein an das vielerlei Gute, was wir dort zusammen gesehn (und nicht gesehn) haben —eingerechnet die Genüsse anderer Art zB. in den trattorie.
An letztere werde ich eben durch meine oede langweilige Leguminosen-Suppe erinnert: zu der bin ich aber heute verurtheilt, weil mein Magen in Folge eines äußerst schmerzhaften 2tägigen Anfalls ganz geschwächt ist. Es geht mir eigentlich nicht gut; denn ich mache jede Veränderung des Wetters mit durch; namentlich hat mir bisher jede Bedeckung des Himmels meinen Kopfschmerz gebracht; — gemäß der Nähe der Wolken bin ich sogar hier in diesem Punkte noch empfindlicher als in Genua. Die Moral meiner Gesundheit heißt nach wie vor: „wo es jährlich 200 bewölkte Tage giebt, bist Du 200 Tage unwohl und leidest: wo es 40 bewölkte Tage giebt, hast Du für 320 gute Chancen — um nicht mehr zu sagen“.
Zudem: es ist hier ein Winterchen fortwährend: ich bin äußerst dankbar für den Besitz des Fußsacks (sage das unserer lieben Mutter, insgleichen meinen herzlichsten Dank für ihren zweiten Brief!).
Das Zimmer habe ich dunkel mir tapeziren lassen, aber es ist und bleibt kalt und sehr niedrig! - - -
Aber das sind Allotria; jetzt, meine liebe Schwester, eine Hauptsache, eine ganz ernsthafte Bitte an Dich! Du sollst Schmeitznern die bestimmte Erklärung abnöthigen, mündlich oder schriftlich, wie Du es am besten vermagst, daß er den 2ten Theil Zarathustra unverzüglich in Druck giebt, sobald das Manuscript in seine Hände kommt. Ich will damit zu Ende kommen und von dieser Expansion des Gefühls erlöst sein, die solche Produktionen mit sich führen: es ist mir öfter der Gedanke gekommen, daß ich an so Etwas plötzlich sterbe. Er soll es in der Hand haben, wann er diesen zweiten Theil (genau vom Umfange des ersten) ausgeben will: aber ich will den Druck hinter mir haben und muß dies verlangen: es ist eine Gesundheitssache ersten Ranges. Dieses Frühjahr bin ich durch die nichtswürdige Bummelei der Herrn Teubner 4 Wochen länger krank gewesen als ich hätte sein müssen. Dafür will ich Schmeitznern versprechen, daß nächstes Jahr von mir nichts zu drucken ist: meine Absicht ist nun, Vorträge auszudenken und auszuarbeiten, und den „Text“ für meine Vorträge aus meinem Zarathustra selbst zu nehmen. —
Aus Allem wirst Du errathen, daß besagter 2ter Theil wirklich existirt: Du kannst Dir von der Vehemenz solcher Entstehungen nicht leicht einen zu großen Begriff machen. Darin aber liegt ihre Gefahr. — Um des Himmels Willen, bringe dies mit Schmeitzner in’s Reine; ich selber bin jetzt zu reizbar gestimmt. — Ach, wie schön, daß ich Dir so Etwas schreiben kann! —
Ganz von Herzen
Dein Bruder.
431. An Franz Overbeck in Basel
<Sils-Maria, 9. Juli 1883>
Mein lieber Freund Overbeck! Der Zufall (oder die Post) wollte, daß Dein Brief erst den 4ten Juli in meine Hände gelangte — und seitdem war ich nicht wohl. So komme ich spät zu Dir, ganz wie mein Sohn Zarathustra, der sich nach meinem Willen schon diese Ostern meinen Freunden präsentiren sollte: aber da kam erst „das christliche Hinderniß“ (die 500 000 Gesangbücher, von denen ich wohl schrieb?) und nun steht ihm wieder „das judenfeindliche Hinderniß“ im Wege. Denn wirklich, es verhält sich so: Herr Schmeitzner meldete jüngst, die „äußerst wichtigen“ Verhandlungen und Reisen in Sachen des Antisemitenthums machten, daß der Verlag zurückstehn müsse die sämmtlichen Exemplare des Zarath<ustra>, eingerechnet die Freiexemplare seien noch in Leipzig! — Bravo! Aber wer erlöst mich von einem Verleger, der die antisemitische Agitation wichtiger nimmt als die Verbreitung meiner Gedanken? Ich meine hier nicht einmal besonders stolz zu reden — —
Ich erkannte auf der Theeund Leguminosen-Sendung mit herzlichem Danke die Handschrift Deiner lieben Frau; ich habe ihr Mühe gemacht! Ach, und ich muß fortfahren, ihr Mühe zu machen! Erstens brauche ich bald wieder Thee (bei diesem Kalk-Wasser braucht man doppelt so viel und bringt es doch nicht zu einem wohlschmeckenden Getränke: übrigens bin ich kein Freund von dieser Qualität, ich hätte gern ein Pfund von einem feineren Thee) Sodann: doch ich schreibe lieber bald einmal direkt an Deine verehrte Frau.
Ich habe hier sehr an der Kälte gelitten: ein wahres Glück, daß ich durch 3 ofenlose Winter einigermaßen abgehärtet bin. Doch wirken diese kalten Stuben sehr auf die Stimmung, in Genua so wie hier. Ein Gefühl von Welt-Fremdheit, Vorüber-Eilendem, Wanderer-haftem sitzt sehr tief in mir drin — und, die Wahrheit zu sagen, schwerlich nur in Folge der großen Unbehaglichkeit meines äußeren Lebens. Es kommt selten noch ein warmer Ton zu mir; und Vieles vom Allerbesten, das Anderen das Herz warm macht, ist mir gleichgültig geworden. Um ein Wort von meiner Gesundheit zu sagen: so bin ich einer der geduldigsten Menschen und balancire von einer Weise in die andre. Aber der Überschuß kranker, schmerzhafter, mindestens tief gehemmter Tage ist außerordentlich: obschon ich gegen mich als Patienten alle erdenkliche Vorsicht, Strenge und Selbstüberwindung gelten mache. Zweierlei scheint mir incurabel: das Eine, daß jedes regelmäßige geistige Arbeiten, nach einer gewissen Zeit (c. 2 Wochen) einen tiefen Verfall nach sich zieht, weil es zu intensiv ist (der Zeit nach gar nicht: da geben ja schon die Augen sehr bestimmte Grenzen!) Sodann: mein Gefühl, sei es des Angenehmen oder des Unangenehmen, hat so heftige Explosionen, daß ein Augenblick, im strengsten Sinne, hinreicht, um, durch eine Veränderung der Blut-cirkulation wahrscheinlich, mich vollkommen krank zu machen (etwa 12 Stunden später ist es entschieden, es dauert 2—3 Tage) Endlich: jeder bedeckte Himmel setzt mich tief herab; hier oben, wo die Wolken nahe sind, entsteht unvermeidlich sogar Kopfschmerz dabei. Also: Gegenden, wo es 200 bedeckte Tage giebt, nehmen mir 200 Tage weg — und umgekehrt.
Sonst ist der Engadin mir lieb und werth, und bis zur Mitte September soll er mir’s bleiben. Wie gern hätte ich Dich einmal recht nahe, alter lieber Freund!
F.N.
432. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Sils-Maria, 10. Juli 1883>
Mein liebes Lama, also so weit ist meine Zarathustra-Angelegenheit vorwärts gerückt, daß ich Ende dieser Woche bereit bin zur Absendung des druckfertigen Manuscriptes.
Ah, ich kann nicht ausdrücken, wie groß die Genugthuung ist, welche ich bei diesen Worten empfinde. Damit, daß ich diesen 2ten Theil gemacht habe, ist das ganze Jahr schon gerechtfertigt, insbesondere die Reise nach dem Engadin: und sogar auch die Reise nach Rom bekommt nun eine neue Bedeutung: es war ein tiefes Ausruhen in diesem römischen Aufenthalt; und gerade auch in der Zerstreuung und dem Lärm meiner Wohnung lag etwas Nützliches, ebenso in dem Klumpfuß auf der Eisenbahn und dem vielen verdorbenen Magen und schlechten Nächten. Alles hinderte mich zu arbeiten und nachzudenken; und es ist kaum zu sagen, wie schwer es ist, mich von mir selber wegzuziehn. — Von dieser negativen Wohlthätigkeit Rom’s könnte ich nun noch zur positiven übergehen — aber meine Augen sind übel daran, und ich habe noch Anderes zu schreiben.
Unter allen Umständen muß jetzt unverzüglich der Druck losgehen! oder ich breche mit Schmeitzner (wozu ich allen Grund habe — —)
So lange er glaubt, daß seine Agitation eine wichtigere Angelegenheit sei als die Verbreitung meiner Bücher und Gedanken: ist es für mich die äußerste Geduldsprobe meines Stolzes, mit ihm zu verkehren. —
Im letzten Winter habe ich Alles so eingerichtet, daß der erste Theil Zarathustra Ostern in den Händen meiner Leser sein konnte: und habe den höchsten Fleiß nöthig gehabt, um es so einzurichten. Ein verlornes halbes Jahr der Wirkung meiner Gedanken kommt recht sehr in Betracht, namentlich in Hinsicht auf die Dauer meines eignen Lebens. —
Daß il negro immer noch auf der Wanderschaft ist, thut mir recht Leid. Herrig soll mir sehr willkommen sein.
Der Brief an Frau R<ée> ist, litterarisch betrachtet, Deine beste Leistung bisher; gebe der Himmel, daß es nie wieder zu solchen Anlässen kommt, Dich litterarisch auszuzeichnen! Übrigens kann ich schwören, daß die mir in Deinem Briefe zugesprochene Denk- und Handlungsweise mit der Wahrheit übereinstimmt, und nicht nur eine „schöne Farbe“ ist. Mein Mitleid hatte über meinen Stolz gesiegt, und die Absicht zu helfen über die Absicht, mir zu nützen — (in der „fröhlichen Wissenschaft“ steht zu lesen: „wo liegen deine größten Gefahren? — Im Mitleiden.“);
Rée habe ich auch in dieser Sache viel zu gut behandelt: und ungefähr 10 Briefe an ihn nicht abgeschickt (vielmehr an Stelle eines jeden einen neuen geschrieben — ich fürchtete immer, er könnte sich das Leben nehmen. Zuletzt hat er über seinen verrückten Freund wohl nur gelacht!)
Bitte, bringe die Sache mit Schmeitzner-Teubner in Ordnung. Sobald Du das Ja-wort hast, telegraphire mir „Ja“.
Dir und unsrer lieben Mutter das Herzlichste!
Dein F.
Es geht wieder besser mit der Gesundheit, seit ich täglich saure Milch nehme, wie in Tautenburg.
433. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Sils-Maria, 13. Juli 1883>
Lieber Freund,
ich hatte rechte Sehnsucht nach einem Briefe von Ihnen; und als ich vorgestern das Ersehnte Mittags auf meiner Serviette liegend fand, glaubte ich, daß mir lange keine bessere Mahlzeit aufgetischt sei. Es war ein Klang aus Ihrer Musik in Ihren Gedanken, das erquickte mich — ob es mir gleich wieder einen Heißhunger nach dieser Musik machte, der ja jetzt unstillbar scheint. Wenigstens möchte ich nicht deswegen die Cholera nach Venedig beschwören, daß Sie von dort flüchten müßten! (Es gehört zu den schauerlichen Erinnerungen aus meiner Studentenzeit, daß ich eine Nacht mit einer Cholera-leiche zugebracht habe)
Die Wünsche auf Ihrer Postkarte, die so geheimnißvoll klangen, müssen wohl gut auf mich gewirkt haben — vielleicht hat sich inzwischen gerade das erfüllt, was Sie mir im Stillen gewünscht haben.
Nicht wahr, lieber Freund? Dies ist eine allgemeine Wahrheit: „der zweite Vers ist schwerer, als der erste Vers“.
Nun, ich habe den zweiten Vers hinter mir — und jetzt wo er fertig ist, schaudert mir bei der Schwierigkeit, über die ich hinweg bin, ohne an sie gedacht zu haben.
Seit meinem letzten Briefe gieng es mir besser und muthiger, und mit Einem Male hatte ich die Conception zum zweiten Theile Zarathustra — und nach der Conception auch die Geburt: Alles mit der größten Vehemenz.
(Dabei ist mir der Gedanke gekommen, daß ich wahrscheinlich an einer solchen Gefühls-Explosion und -Expansion einmal sterben werde: hol’ mich der Teufel!)
Das Manuscript für die Druckerei wird übermorgen fertig sein, es fehlen nur noch die letzten 5 Abschnitte; und meine Augen ziehn meinem „Fleiße“ Grenzen.
Wenn Sie die Schlußseite des ersten Z<arathustra> lesen, so werden Sie die Worte finden „— und erst, wenn ihr mich Alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren.
Wahrlich, mit andern Augen, meine Brüder, werde ich mir dann meine Verlorenen suchen; mit einer andern Liebe werde ich euch dann lieben.“
Dies ist das Motto zum zweiten Theil: aus ihm ergeben sich, was dem Musiker zu sagen fast unschicklich ist, andre Harmonien und Modulationen, als im ersten Theile.
In der Hauptsache galt es, sich auf die zweite Stufe zu schwingen, — um von dort aus noch die dritte zu erreichen <deren Name ist: „Mittag und Ewigkeit“: das sagte ich Ihnen schon einmal? Aber ich bitte Sie inständig, davon gegen Jedermann zu schweigen! Für den dritten Theil will ich mir Zeit lassen, vielleicht Jahre —)
Wenn ich nun wieder mit der Bitte zu Ihnen komme, mir bei der Correktur zu Hülfe zu kommen — so geht das eigentlich über alle Grenzen von Freundschaft und Schamhaftigkeit hinaus: und wenn Sie es nicht zu Stande bringen, mich darin zu rechtfertigen — ich bringe es nicht zu Stande!
Dabei bleibt Ihnen die Hoffnung, daß aus dem Drucke jetzt nichts wird. Vielleicht trenne ich mich von Schmeitznern: er behandelt unverhohlen seine antisemitische Agitation als eine weit wichtigere Angelegenheit als die Verbreitung meiner Gedanken. —
Geben Sie mir doch noch genaue Auskunft über die Schritte und Fortschritte Ihrer Partitur: Sie schwiegen so lange davon! Und welche Pläne giebt es? Und was macht die göttliche Nausikaa?
Von Herzen Ihr Freund
Nietzsche.
434. An Paul Rée in Flims (Entwurf)
<Sils-Maria, Mitte Juli 1883>
Zu spät, fast ein Jahr zu spät erhalte ich Aufschluß über den Antheil, den Sie an den Vorgängen des letzten Sommers haben: und ich habe noch nie so viel Ekel in meiner Seele beisammen gehabt, wie jetzt, bei dem Gedanken, daß solch ein schleichender verlogen heimtückischer Gesell jahrelang als mein Freund hat gelten können. Dies heiße ich ein Verbrechen und nicht nur an mir — sondern zu oberst an der Freundschaft und selber noch am hohlsten Namen „Freundschaft“. Pfui, mein Herr! Man wird sich vor Ihnen hüten müssen, und nicht einmal wie vor einem anständigen Bösewicht, sondern wie vor einem unanständigen! Also von Ihnen stammt die Verunglimpfung meines Charakters, und Frl. S<alomé> ist nur das Mundstück, das sehr unsaubere Mundstück Ihrer Gedanken über mich gewesen? Sie sind es, der, in meiner Abwesenheit natürlich, von mir wie von einem gemeinen und niedrigen Egoisten redet, der immer darauf aus sei, Andre auszubeuten? Sie sind es, der behauptet hat, ich habe unter der Maske der Idealität in Bezug auf Frl. S<alomé> die schmutzigsten Absichten verfolgt? Sie sind es, der über meinen Geist zu äußern wagt, ich sei verrückt und wisse nicht, was ich wolle? Nun verstehe ich freilich diesen ganzen Handel besser, der mich beinahe den achtungswürdigsten und mir nächststehenden M<enschen> entfremdet hätte: Niemand konnte je begreifen, wie ich auf die Seite solcher M<enschen>) treten konnte, die sich wahrscheinlich schon überall durch falsches Spiel gegen mich verdächtig gemacht haben. Je nun, ich habe meinen Freund zu vertreten geglaubt, wenn ich Sie eine ganze Reihe von Jahren hindurch vertheidigt und gegen Mißtrauen geschützt habe: und ich hatte dazu genug Anlaß, da Sie nicht zu denen gehören, welchen Vertrauen entgegengebracht wird. Vielleicht hat mir in den letzten 7 Jahren Nichts so im Wege gestanden, als eben dies, daß ich Sie in Schutz nahm. In der That, in der Menschen-Kennerei hab ich’s, nach dieser Probe zu schließen, nicht weit gebracht, und ich errathe, wie vielen Hohn und Spott Sie in dieser Hinsicht gegen mich schon haben laut werden lassen. Bravo! Aber ich will lieber von solchen M<enschen> wie Sie sind, verhöhnt werden, als daß ich sie verstünde. In der That, ich verstehe gar nicht mehr, was Sie von mir und mit mir gewollt haben. R<ichard> W<agner> warnte mich ein Mal vor Ihnen und sagte: „der wird einmal schlecht an Ihnen handeln, der führt Nichts Gutes im Schilde.“
Nachdem Sie diesen Brief geschrieben haben, bleibt gar kein Zweifel mehr über Ihren Charakter: Wir wollen uns bei Frl. S<alomé> bedanken, daß sie zuerst den Schleier von diesem Isisbilde gehoben hat. — Ich aber habe Sie Jahrelang für rechtschaffen gehalten und in diesem Punkte gegen Jedermann vertheidigt! Es steht schlimm mit meiner Menschenkennerei! — es ist kein Zweifel: und Sie haben allen Grund, über mich zu lachen.
ich hätte große Lust, Ihnen mit ein paar Kugeln eine Lektion in der praktischen Moral zu geben: und vielleicht erreiche ich im günstigsten Falle, Sie ein für alle Mal von der Beschäftigung mit Moral abzubringen — —: dazu nämlich mein Herr Dr. Rée gehören nur reine Hände aber nicht Schlammfinger!
435. An Georg Rée in Stibbe (Entwurf)
<Sils-Maria, Mitte Juli 1883>
Unsre kurze Bekanntschaft von Leipzig her muß mich rechtfertigen, wenn ich heute an Sie schreibe, was ich Ihrem Bruder Paul selber nicht schreiben mag: daß jeder weitere Verkehr zwischen ihm und mir unter meiner Würde ist. Jetzt erst, fast ein Jahr zu spät kommen mir wesentliche Thatsachen zur Kenntniß, welche Ihren Bruder heillos vor mir compromittiren — nachdem ich inzwischen mir die höchste Mühe gegeben hatte, sein verdächtig gewordenes Benehmen gegen mich zu entschuldigen und ins mildeste Licht zu rücken. Es ist beinahe ein Zufall, daß ich jetzt davon erfahre: im vorigen Jahre, ebenso wie bei meinem diesjährigen Aufenthalte in Rom hatte ich immer verlangt, daß in meiner Gegenwart nicht von den häßlichen Vorgängen des vorigen Sommers geredet würde. Jetzt aber höre ich, daß die ganze abscheuliche Verunglimpfung, die mir und meiner Schwester von Frl. S<alomé> angethan ist, ganz und gar auf Ihren Bruder zurückfällt: daß dieses Mädchen eben nur das Mundstück für seine Gedanken gewesen ist — Bisher hat es Jedermann, mit dem ich mich in nähere Verbindung setzte, dies für eine Ehre und Auszeichnung gehalten: — ich halte es selber dafür — darüber sage ich kein Wort weiter. — Ihr Bruder hat diese Gesinnung gegen mich reichlich zur Schau getragen: aber, wie ich nun weiß, hinter meinem Rücken als schleichender, verleumderischer, verlogener Gesell an mir gehandelt. Er also ist es, welcher von mir als einem niedrigen Ch<arakter> und gemeinen Egoisten redet, der Alle nur zu seinen Zwecken ausbeuten wolle: er ist es, der mir vorwirft, ich hätte unter der Maske idealer Ziele in Bezug auf Frl. L<ou> die schmutzigsten Absichten verfolgt; er ist der, der es wagt, von meinem Geiste verächtlich zu sprechen, als ob ich ein Verrückter sei, der nicht wisse, was er wolle. — Nun verstehe ich es allerdings, wenn er mir diesen Winter schrieb, er habe gegen mich das Gefühl von Schuld — ohne sich näher darüber auszulassen. Ich mag alle diese schleicherischen Duckmäuser nicht, seine Art hat mir lange schon Bedenken gemacht, aber ich meinte, es sei ein Mensch, den anzutreiben und in geistiger Arbeit zu erhalten meine Schuldigkeit sei. Ich sagte ihm voriges Jahr einmal: „wir haben uns nie gezankt, aber auch nie übereingestimmt.“
Und so bleibt es dabei: Ihr Bruder gereicht mir, wie nicht minder Ihnen und Ihrer verehrungswürdigen Mutter zur Schande: ich habe lange nichts so Bitteres erlebt.
Unter dieses Wort Schuld fällt es vor Allem, wie schamlos er mich über Frl. S<alomé> belogen hat: er predigte von ihr, wie als ob sie zu gut für diese Welt sei, eine Märtyrerin der Erkenntniß von Kindesbeinen an, vollkommen selbstlos, als ob sie alles Glück und alles Behagen des Lebens für die Wahrheit zum Opfer gebracht hätte. — Nun Herr R<ée>, es wächst alle Jubeljahre Einmal ein M<ensch> dieser Art auf Erden: und ich würde um die Erde reisen, um ihn kennen zu lernen. Ich habe nun dieses Mädchen kennen gelernt und mit der größten Hartnäckigkeit versucht, den letzten Schatten jenes Bildes von ihr festzuhalten. Unmöglich! (ihre Mutter selber hat mich vor ihr gewarnt) Ich war einfach der Belogene: und so oft ich Ihrem Bruder mein sehr strenges Urtheil über den Charakter dieses Mädchens gab, meinen Sie, daß er je nur ein Wort der Entschuldigung und der Milde für sie gehabt hätte? Er sagte immer nur: Sie haben vollkommen über Lou Recht, aber es ändert meine Beziehungen zu ihr in Nichts“. Brieflich nannte er sie einmal sein Verhängniß: quel goût! Diese dürre schmutzige übelriechende Äffin mit ihren falschen Brüsten — ein Verhängniß!
Pardon!
Wie sie selber über Ihren Bruder spricht und denkt, das soll die Sache meiner Diskretion sein. In Leipzig rief sie ihn nie anders als Dreckel! was mich empört hat.
436. An Louise von Salome in Petersburg (Entwurf)
(Sils-Maria, Mitte Juli 1883)
Hochverehrte Frau
Ich bin Ihnen die Antwort auf die Bedenken schuldig geblieben, welche Sie in Ihrem Brief an mich äußerten, im Grunde, weil diese Bedenken sich mir selber inzwischen allzuschwer in der Wirklichkeit aufdrängten. Was war das für eine Täuschung, in welche man mich versetzt hatte! Man hatte mir von Ihrem Frl. Tochter gesprochen und geschrieben, wie als ob sie fast zu gut für diese Welt sei, eine Märtyrerin der Erkenntniß von Kindesbeinen an, jedes Glück und jedes Behagen des Lebens ja die Gesundheit hingebend für das Eine: Wahrheit, vollkommen selbstlos, und bewährt in einer langen Schule der Aufopferung. Ich will nicht davon reden, welche Mühe ich mir gegeben habe, auch den letzten Schatten dieses Bildes aufrecht zu erhalten und wie viel ich dabei zu vergessen und zu vergeben gehabt habe. Noch weniger aber will ich Ihnen als der Mutter aussprechen, welches Bild mir schließlich übrig geblieben ist.
Meine Schwester und ich — wir haben Beide alle Gründe, die Begegnung mit Ihrem Frl. Tochter im Kalender unseres Lebens schwarz anzustreichen. Daß wir Beide es sehr gut mit ihr gemeint haben, steht außer allem Zweifel. —
Mit ausgezeichneter Hochachtung Ihr ergebenster
437. An Malwida von Meysenbug in Rom
Sils-Maria, Engadin (Schweiz) <Mitte Juli 1883>
Meine liebe hochverehrte Freundin,
oder ist es unbescheiden, wenn ich Sie so nenne? Gewiß ist, daß ich ein unbändig gutes Zutrauen zu Ihnen habe: und so wird es auf die Worte nicht sehr ankommen.
Ich habe einen schlimmen Sommer gehabt und habe ihn noch. Die böse Geschichte des vorigen Jahres stürzte noch einmal über mich her; und ich habe so viel hören müssen, was mir diese herrliche Natur-Einsamkeit verdorben und fast zur Hölle gemacht hat. Nach Allem, was ich nun erfahren habe, ach viel zu spät! — sind diese beiden Personen Rée und Lou nicht würdig, meine Stiefelsohlen zu lecken — Pardon für dies allzumännliche Gleichniß! Es ist ein langes Unglück, daß dieser Rée, ein Lügner und schleichender Verleumder von Grund aus, mir über den Lebensweg gelaufen ist. Und was habe ich lange Geduld und Mitleid mit ihm gehabt! „Es ist ein armer Bursch, man muß ihn vorwärts treiben“ — wie oft habe ich mir das gesagt, wenn mir seine ärmliche und unaufrichtige Manier zu denken und zu leben Widerwillen machte! Ich vergesse den Ingrimm nicht, den ich 1876 empfand, als ich hörte, er werde mit zu Ihnen nach Sorrent kommen. Und vor zwei Jahren wiederholte sich nochmals dieser Ingrimm: ich war hier in Sils-Maria und wurde krank bei der Nachricht meiner Schwester, daß er hier herauf kommen wolle. Man soll seinen Instinkten besser vertrauen, auch den Instinkten des Widerstrebens. Aber das Schopenhauerische „Mitleiden“ hat immer in meinem Leben bisher den Haupt-Unfug angestiftet — und deshalb habe ich allen Grund, solchen Moralen gut zu sein, welche noch ein paar andere Triebfedern zur Moralität rechnen und nicht unsere ganze menschliche Tüchtigkeit auf „Mitgefühle“ reduziren wollen. Dies nämlich ist nicht nur eine Weichlichkeit, über die jeder großgesinnte Hellene gelacht haben würde — sondern eine ernste praktische Gefahr. Man soll sein Ideal vom Menschen durchsetzen, man soll mit seinem Ideale seine Mitmenschen wie sich selber zwingen und überwältigen: und also schöpferisch wirken! Dazu aber gehört, daß man sein Mitleiden hübsch im Zaume hält, und daß man, was unserm Ideale zuwider geht (wie z.B. solches Gesindel wie L<ou> und R<ée>) auch als Feinde behandelt. — Sie hören, wie ich mir „die Moral lese": aber um bis zu dieser „Weisheit“ zu kommen, hat es mich fast das Leben gekostet. —
Ich hätte den Sommer mit Ihnen und in dem edlen Kreise, der Sie umgiebt, leben sollen: aber nun ist es zu spät!
Von ganzem Herzen Ihnen zugethan und dankbar
Nietzsche
438. An Ida Overbeck in Basel
<Sils-Maria, Mitte Juli 1883>
Liebe verehrte Frau Professor,
inzwischen kam der Brief meines Freundes Overbeck, und ich erlaube mir heute einmal, ihm so zu antworten, und zu danken! daß ich an Sie schreibe, an die ich seit langer Zeit keinen Brief abgeschickt habe! Seien Sie froh deshalb: denn Alles, was ich in dem letzten Zeiträume an Briefen „verfaßt“ habe, gehört unter die Rubrik: Krankheit und Schwermuth — und auch die Dinge, von welchen ich zu erzählen (oder eigentlich nicht einmal zu erzählen) hatte, waren aus dem Reiche des Daseins, welches man am besten verhüllt. Es war mein schwerster und kränkster Winter; und die Erlebnisse, die ihn dazu machten, hätten Einen über Nacht zu einem „Timon von Athen“ machen können. Was liegt daran, daß in ihnen allen Nichts ist, dessen ich mich zu schämen hätte und Manches, das eine andre Würdigung und Theilnahme hätte finden dürfen, als es sie zB. bei meinen Angehörigen gefunden hat! In dem finde und fand ich keinen Trost und keine Erleichterung. Im Gegentheil: wenn ich selber irgendwie mehr zu dieser Gattung von „Wirklichkeit“ gehörte, ihr gleichartiger wäre, so würde ich wahrscheinlich Alles viel leichter ertragen haben — — und tragen. So aber fiel es wie ein Wahnsinn über mich her; und es ist durch Nichts wieder gut zu machen, daß meine Phantasie und mein Mitleid jetzt nun ungefähr ein Jahr in dem Schlamm dieser Erfahrungen hat waten müssen. Ich glaube mehr bereits ausgestanden zu haben, fünf Mal mehr, als genügt, einen normalen Menschen zum Selbstmord zu bringen: und es ist noch nicht zu Ende. Das Unglück wollte, daß ich voriges Jahr im Grunde nur Dinge zu hören und errathen bekam, die zu diesen nächsten Erlebnissen den entsprechenden Rahmen bildeten; insbesondere sind mir einige Proben einer abgründlichen Perfidie der Rache (seitens jenes jüngst gestorbnen großen Musikers R<ichard> W<agner>) zu Ohren gekommen. Der Contrast all dieser Dinge zu dem Seelen-Zustand, in welchem ich vorigen Frühling lebte, war ganz und gar schauerlich, und stark genug, ein Glas zu zerbrechen, das auch ziemlich viel schon ausgehalten hat.
Jetzt gehen diese Dinge wieder von Neuem vorwärts. Meine Schwester will ihre Rache an jener Russin haben — nun gut, aber bis jetzt bin ich das Opfer von alledem gewesen, was sie in dieser Sache gethan hat. Sie merkt nichts davon, daß kaum ein Zoll noch fehlt zum Blutvergießen und zu den brutalsten Möglichkeiten — und ich lebe und arbeite hier Oben diesen Sommer wie Einer, „der sein Haus bestellt.“ — —
In der That, ohne die Ziele meiner Arbeit und die Unerbittlichkeit solcher Ziele lebte ich nicht mehr. In so ferne heißt mein Lebensretter: Zarathustra, mein Sohn Zarathustra! —
Was den betrifft: so habe ich Alles dazu gethan, daß er diese Ostern bei meinen Freunden erscheinen konnte — Der Rest ist Schweigen.
Das Geld bitte ich meinen Freund, hierher zu senden. Mit Thee bin ich durch meinen Wirth versorgt worden, der Commissionär für Genfer Geschäfte ist. Die Leguminose ist sehr empfehlenswerth. — Wollen Sie einen guten Zwieback-Bäcker mit dem beifolgenden Zettel versehen und den Freund bitten, daß er die Bezahlung übernimmt? (In Genua zahle ich für den feinsten Zwieback in der ersten Conditorei 1 frc. 60 das Kilo)
Und nun den herzlichsten Gruß und die alte Bitte um Nachsicht!
Ihr F.N.
Auch Ihrer Frau Mutter den wärmsten und dankbarsten Gruß und meine Bitte um Verzeihung dafür, daß mein Brief an Sie immer noch — in Chemnitz liegt! — Was ist jetzt ihre Adresse?
439. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Entwurf).
<Sils-Maria, kurz nach Mitte Juli 1883>
Dein Bruder ist ganz eigentlich unglücklich: ich habe nämlich den Brief an G<eorg> R<ée> abgeschickt.
Nein, ich bin nicht gemacht zu Feindschaft und Haß: und seit diese Sache so weit geschritten ist, daß eine Versöhnung mit jenen Beiden nicht mehr möglich ist, weiß ich nicht mehr wie leben; ich denke fortwährend dran. Es ist unverträglich mit meiner ganzen Philosophie und Denkweise — es zieht mir jedes hochstrebende Gefühl nieder, daß ich in die Rubrik menschlicher Feindseligkeiten gerathen bin und mit solchem armen Volke! Bis dahin habe ich nie Jemanden gehaßt, auch W<agner> nicht, dessen Perfidien bei weitem über die Leistungen L<ou>’s hinausgingen. Jetzt erst fühle ich mich gedemüthigt.
440. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Sils-Maria, kurz nach Mitte Juli 1883>
Mein liebes liebes Lama,
eben habe ich, in einem Briefe an Georg Rée, den ich in Leipzig kennen gelernt habe, meine Beziehungen zu Paul R<ée> abgebrochen.
Stelle Dir vor! Der Übelstand bei dieser ganzen Sache war für mich, daß ich den besten Theil der facta nicht wußte: während sie Dir wahrscheinlich allzugegenwärtig waren, da Du jenen Scenen beigewohnt hast — ich aber nicht! — Mit R<ée> hätte ich ja unter keinen Umständen wieder verkehren können, wenn das Bild, welches Frl. Salomé von mir entwarf, in Wahrheit auf ihn zurückgeht. Deine beiden letzten Briefe haben mir erst Lichter angezündet! Ich wußte auch das Stärkste von dem nicht, was sie über Rée selber geurtheilt hat. Welche Hülfe wäre das mir in diesem Winter gewesen! —
Seit diese Sache wieder losgelassen ist, leide ich daran wie an einem Wahnsinn und habe bei Tag und Nacht keine Ruhe. Ich meinte, es sei genug, daß ich diesen Winter fünf Mal mehr darum ausgestanden habe als genügt, einen normalen Menschen zum Selbstmord zu bringen. Und nun erst sind wir in das sanglante Stadium der Sache getreten! Es ist ein Ehrenhandel in bester Form geworden.
Ich merkte der Sache in den ersten fünf Minuten ihren lebensgefährlichen Charakter an; und als ich von Tautenburg fortgieng, war ich äußerst glücklich, einer solchen Sache durch sehr viel Selbst-Überwindung eine leidlich harmlose Wendung gegeben zu haben (auf meine Unkosten natürlich; was ich aber nicht gar zu schwer taxirte) Was liegt daran, daß man einem Manne Etwas als Schwäche gegen ein Mädchen auslegt! — in diesem Punkte nehmen es Männer und Frauen nicht gar so streng. Es schien mir aber meiner sehr würdig, statt auf Rache und Vergeltung, auf den Nutzen der Person hinzuarbeiten, welche sich schlecht gegen mich benommen hatte.
Schließlich, schließlich, mein liebes Lama, blieb ich als der Einzige übrig, „der sich schlecht benommen hatte“; — seit Deinem Schritte, aus dem geschlossen wurde, daß meine nächsten Angehörigen nicht an meine „Idealität“ in dieser Sache glaubten, wendete sich Alles zu meinen Ungunsten. —
Pardon! Es soll das letzte Wort in der Sache zwischen uns sein, deren Consequenzen ich nunmehr stillschweigend über mich ergehn lassen will.
Schmeitzner telegraphirte mir Dienstag Nachmittag: woraus ich schließe, daß es doch erst Dein zweiter Brief war, der ihn zur Raison gebracht hat. Es ist mir ganz unschätzbar, daß ich jetzt noch diese Drucksache abmachen kann; ich bin wie Einer, der keine Zeit mehr hat. Also nochmals meinen allerinnigsten Dank für diese Wohlthat! —
Was meine Lebensweise betrifft: so erzähle ich Dir als Curiosum, daß ich seit wir uns nicht gesehn haben, Mittag für Mittag (außer wenn ich krank war) Dasselbe gegessen habe (es giebt einfach um diese Stunde nichts anderes): nämlich: reine Bouillon (2 Teller), ein Beefsteak mit Piselli (das kostet zusammen 2 fr. 50 cs. — was Dir einen Begriff von den hiesigen Preisen geben mag!)
Deuschland ist mir unsäglich verleidet. Vielleicht gehe ich den Winter nach San Remo, wo es viel mehr heitere Tage giebt als in der Umgebung Genua’s. Und es ist doch nur ein Katzensprung weiter. — Bevor ich den dritten und letzten Theil Zarathustra nicht fertig habe, ist das Leben für mich noch unerlöst. Dies privatissime!
In Treue Dein Bruder.
Zwei Briefe an Dich und einen Brief an Paul Rée, die ich inzwischen schrieb, habe ich nicht abgesendet, sondern wieder zerrissen. — Schone mich, bitte! —
441. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Sils-Maria, 24. Juli 1883>
Mein lieber Freund, die Angst überkommt mich, Sie möchten krank sein? Oder habe ich wirklich mit der Bitte zu viel erbeten, die ich im letzten Briefe aussprach und Ihnen wehe gethan? (Ich wünschte auch für den zweiten Theil Zarathustra, an dem gedruckt wird, Ihre Beihülfe in der Correctur) Ich kann mir es sehr gut vorstellen, daß dies leidige Corrigiren Ihnen zum Tode fatal geworden ist und bin nicht im Geringsten gegen Sie „böse“, wenn Sie mir dies sagen: — glauben Sie doch ein wenig mehr daran, daß ich Ihnen von Grund aus gut bin und mir selber nicht den Schmerz anthun möchte, Ihnen Etwas Lästiges zugemuthet zu haben. — Und dann: ich hörte so gerne von Ihren Arbeiten und Plänen, falls es erlaubt ist, davon zu hören? —
Ihr alter Freund Nietzsche.
442. An Ida Overbeck in Basel (Entwurf)
<Sils-Maria, kurz vor dem 29. Juli 1883>
Soeben kamen auch die Zwiebäcke an: ich finde sie kräftig und mild, so wie ich alle Dinge mir wünsche — und welcher Art auch Ihr Brief war für dessen Vertrauen ich Ihnen meinen herzlichsten Dank zu sagen habe. Schließlich darf ich sogar glücklicherweise die Vermuthung aussprechen, daß wenn Sie die böse Geschichte, „in deren Schatten ich wandle“ sehr viel genauer kennen würden, Sie mir ihrethalben auch noch sehr viel gewogener sein würden. Vertrauen Sie doch diesem Worte und denken Sie nicht an „Schwäche“ und dergleichen; wenn ich an dieser Geschichte zu Grunde gehe, so ist es, weil ich mir in Bezug auf einen sehr natürlichen Zug des menschl<ichen> Herzens, nämlich „Rache“ schlechterdings nicht nachgeben will, also in Folge einer Stärke. Glauben Sie auch nicht an Rückfälle: leider handelt es sich um einen Vor-Fall, um etwas für mich Neues, von dem ich erst seit drei Wochen weiß und dessentwegen ich Höllentage und Nächte erlebt habe. Besorgen Sie sich auch nicht über die falsche Stellung zwischen meiner Schwester und mir (die Wahrheit ist, daß alle meinen bisherigen Stellungen zu allen M<enschen> falsche sind: sie ist ebenso oder mehr beleidigt als ich und hat ihr gutes Recht) und wenn sie durchsetzen will, daß L<ou> wieder nach Rußland zurückgeschafft wird, so stiftet sie, falls sie es erreicht, mehr Nutzen als ich mit meinem Ascetismus. Sie ist voriges Jahr zu schonend gegen mich gewesen und so sind mir erst seit 3 Wochen die gravirendsten Thatsachen dieser Geschichte bekannt geworden, die sie mir in Tautenburg verschwiegen hat. In Rom wollte ich nicht, daß von alledem geredet werde. Ein Brief an Frau Rée (übrigens ein Frauenzimmer-Meisterstück) dessen Kopie sie mir schickte, gab mir neue Lichter — und neue Qualen: Dr. Rée tritt auf einmal in den Vordergrund: über einen M<enschen> mit dem man jahrelang Liebe und Vertrauen gemein gehabt hat, umlernen zu müssen ist fürchterlich, und ich möchte mir in dieser Wüste Labung und Trost aus den Fingern saugen.
Von Steinach schwieg ich: ich habe mich hier bis Mitte Sept. eingemiethet, das Zimmer tapeziren lassen und will die absolute Einsamkeit benutzen. Im Winter und Frühjahr habe ich zu viel Zeit durch Krankheit verloren — es war ein typhöser Zustand, von dem ich mich nur ganz langsam erholt habe. (Sonderbar, ich hatte bis dahin noch nie an Fieber gelitten) Ach, wenn Sie wüßten, was die Probleme mir für Noth machten, mit denen ich mich jetzt herumschlage, und das schreckliche Gefühl der Verantwortlichkeit auf der höchsten Spitze der Erkenntniß! Wenn in dieses Uhrwerk schwieriger Vorstellungen und hoher Gefühle auf einmal die Sandund Schmutzkörner des Lebens hineingerathen — so entsteht etwas [von] wie tiefste Desperation. Glauben Sie mir, wenn ich diese 2 Jahre leben bleibe, so ist es eine Leistung ersten Ranges. Bis Ende Sept<ember> möchte ich eine größere philos<ophische> Abhandl<ung> fertig haben: inzwischen druckt man eifrig am zweiten Bande meines Zarathustra.
Ich habe einmal den Glauben gehabt, einen solchen M<enschen> gefunden zu haben. Als ich diesen Glauben verlor, da war es nicht eine Enttäuschung, sondern die Ent<täuschung>. Ich hatte den besten Willen, ihn umzuschaffen zu dem Bilde, welches ich mir von ihm gemacht hatte: man hat mich dabei gestört —; wer weiß, wie weit ich es gebracht hätte!
Sonderbar! Noch in einem ihrer jüngsten Briefe sagte M<alwida von Meysenbug>, sie habe seit Olga Niemanden so zärtlich geliebt als L<ou>.
443. An Ida Overbeck in Basel
<Sils Maria, kurz vor dem 29. Juli 1883>
Meine liebe Frau Professor,
soeben kamen auch die Zwiebäcke an: ich finde sie mild und kräftig, so wie ich alle Dinge mir wünsche — und welcher Art auch Ihr Brief war, für den ich Ihnen den herzlichsten Dank zu sagen habe. Glücklicherweise darf ich sogar die Vermuthung aussprechen, daß wenn Sie diese böse Geschichte, in deren Schatten ich wandle, sehr viel genauer kennen würden, Sie mir ihrerhalben noch sehr viel gewogener sein würden. Vertrauen Sie doch diesem meinem Worte und denken Sie nicht an „Schwäche“ und „Allzumenschliches“ und dergleichen; und wenn ich an dieser Geschichte auch zu Grunde gehn sollte, so geschähe es, weil ich mir auch hier wieder zehn Mal zu viel zugemuthet habe als sonst Menschen thun, und gegen mich unerbittlich bleibe — also aus einer Stärke und nicht aus einer Schwäche. Glauben Sie auch nicht an „Rückfälle“: leider handelt es sich jetzt um Vor-Fälle, um Dinge die für mich neu sind und derentwegen ich Höllentage und -Nächte verlebt habe: nun, ich würge daran — und habe schon Manches im Leben hinunter gewürgt!
Bemerken Sie doch: die einzige meiner würdige Position in dieser Sache ist — daß ich ihr Opfer bin. —
Besorgen Sie sich auch nicht in Betreff einer „falschen Stellung“ von mir zu meiner Schwester (die Wahrheit ist, daß alle meine Stellungen zu allen Menschen falsch sind — wer kennt mich denn!); sie hat in dieser Sache ihr gutes Recht, überdies ist sie ebenso sehr oder mehr beleidigt als ich — und wenn sie durchsetzen will, daß Frl. S<alomé> wieder nach Rußland zurückgeschafft wird, so stiftet sie, falls sie es erreicht, mehr Nutzen, als ich mit meinem Ascetismus, der durchaus auf Rache verzichten will. Wir sind jetzt sehr gute Freunde, besser als je. Aber sie auf meinen Standpunkt versetzen? — Warum?
Meine Schwester ist voriges Jahr zu schonend gegen mich gewesen: ist es nicht toll, daß mir die gravirendsten Thatsachen dieser bösen Geschichte erst seit drei Wochen bekannt worden sind! — in Tautenburg hat sie dieselben mir verschwiegen, und in Rom verlangte ich, daß von dieser ganzen Sache nicht geredet werde. Erst ein Brief meiner Schwester an Frau Rée (beiläufig gesagt, ein Frauenzimmer-Meisterstück von Brief!), dessen Kopie sie mir schickte, gab mir Lichter und welche Lichter! Dr. Rée tritt auf Ein Mal in den Vordergrund: über einen Menschen, mit dem man sich lange Jahre in Vertrauen und Liebe verbunden gefühlt hat, umzulernen, so umlernen zu müssen — ist ganz und gar fürchterlich, und ich möchte mir einen Tropfen Trost und Labsal inmitten dieser Wüste aus den Fingern saugen. — Vielleicht bringt der Herbst noch ein kleines Pistolenschießen.
Von Steinach schwieg ich; ich habe mich hier bis Mitte September eingemiethet, mit meinem ganzen Hab und Gut (104 Kilo Bücher!) habe mir das Zimmer tapeziren lassen und will meine absolute Einsamkeit gehörig benutzen. Es ist mir nämlich im letzten Winter und Frühling gar zu viel Zeit verloren gegangen (durch Krankheit: es war ein typhöser Zustand, von dem ich mich äußerst langsam erholt habe). Ach, wenn Sie wüßten, was die Probleme mir für Noth machen, mit denen sich Geist und Herz jetzt bei mir herumschlagen — dies schreckliche Gefühl der Verantwortlichkeit auf der höchsten Spitze der Erkenntniß! Wahrhaftig, ganz abgesehn von allen elenden Erfahrungen und der ungeheuren Vereinsamung, in der ich seit Jahren lebe — das, was mich am stärksten am Leben festhält, ist auch das, was mir die tiefsten Nöthe und Desperationen bringt und bringen muß —: nun sollte man mich billiger Weise noch mit überflüssigen Nöthen verschonen!
Glauben Sie mir: wenn ich diese 2 Jahre leben bleibe, so ist es eine Leistung ersten Ranges.
— Lesen Sie doch auf dem beiliegenden Bogen „die heilige Katharina in Rom“ — da ist ein Ideal freilich in mittelalterlicher Verkleidung vorgeführt. Ich habe einmal den Glauben gehabt, einen Menschen dieses Ideals gefunden zu haben. Als ich diesen Glauben verlor, da war es nicht „Eine Enttäuschung“, sondern — die Enttäuschung. Nun, ich hatte sogar den Willen dazu, mir den Menschen umzuschaffen zu dem Bilde, welches ich mir von ihm gemacht hatte: — und wer weiß, wie weit ich’s darin gebracht hätte! Aber man hat mich gestört. —
Die Blätter sind aus dem Buche des Berliner Privatdozenten Heinrich von Stein (das ist übrigens der gegenwärtige Verehrer von Frl. S<alomé>, also mein „Nachfolger“, hierin, wie in andern Dingen).
Sonderbar! Noch in einem ihrer letzten Briefe an mich schrieb Malvida v. Meysenbug, sie habe seit Olga Niemanden so zärtlich geliebt wie Frl. Salomé. —
Im Herbst soll eine größere philosophische Arbeit fertig sein. Am zweiten Bande Zarathustra wird bereits eifrig gedruckt.
Ihnen und meinem Freunde den Ausdruck dankbarster Gesinnung! Das Geld ist in meinen Händen.
F.N.
444. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Sils-Maria, Ende Juli 1883>
Meine liebe Schwester,
Dein Brief hat mir gut gethan — etwas, das jetzt selten ein Brief bei mir hervorbringt. Was Herrn Schmeitzner betrifft: so wird Deine Vermuthung berechtigt sein. Alles erwogen, war er in einer greulichen Klemme und mußte schon nolens volens den 2ten Zarathustra sofort acceptiren; er hat auf einer Karte gemeldet, daß das Ms. sofort an die Druckerei abgeht. Es ist beinahe zum Lachen, wie Jemand gezwungen werden kann, gerade das zu thun, was er am wenigsten thun möchte (nämlich: noch Etwas drucken und seine Schulden vermehren) Auf die Dauer freilich bin ich der, welcher am schlimmsten dabei fährt: denn, ich sehe es deutlich kommen — eines Tages ist der gute excentrische Bursche banquerott, und meine Ersparnisse sind dahin (in Wahrheit: verwendet zum Besten der antisemitischen Agitation — was wieder der Humor an der Sache ist!)
Übrigens hat er auch als Politiker Unglück, und ich verstehe seinen Stoßseufzer in dem Briefe an Dich nur gar zu gut! — Ich gratulire aufrichtig dem Dr. Förster, daß er noch zur rechten Zeit Europa und die Judenfrage hinter sich gelassen hat. Denn wehe einer Partei, welche genöthigt ist, nach so kurzem Bestände schon einen solchen Tisza-Prozeß auf ihr Conto zu schreiben! Ja, wenn der verkommenste Adel der Welt, der ungarische, zu einer Partei gehört, da ist Alles verloren. —
Ich war dieser Tage etwas verstimmt über Frau Overbeck, welche mir, gewiß in der „wohlmeinendsten“ Absicht, aber doch ungeschickt und unbescheiden bis zum Exzeß, einen kleinen moralischen Brief geschrieben hat über „Schwäche“, „Närrisch-sein, Allzumenschliches“ usw. und mit der Versicherung „ich kann mich noch immer nicht überzeugen, daß ich an Ihnen ernstlich irre zu werden hätte“: nebst der Belehrung, daß „man nur durch Fehler und Schwächen zu seinen höchsten Tugenden komme“. Man kann gar nichts Dümmeres thun als klagen: man diskreditirt sich bei seinen Freunden und diskreditirt sich seine Freunde.
Ich habe mir diese Sache ad notam genommen — aber sehr artig geantwortet, wie sich von selbst versteht (auch mit der Bemerkung, daß wir (Du und ich) jetzt sehr gute Freunde sein, vielleicht bessere als je, und daß Du, wenn Du erreichtest, daß Frl. S<alomé> nach Rußland zurückgeschafft würde, wahrscheinlich mehr Nutzen stiftetest, als ich mit meinem Ascetismus, der auf alle Vergeltung verzichten wollte)
Inzwischen gab es einen Höllen-Tag, in Folge dessen ich ein paar Tage krank war. Ich hatte eben zu Mittag gegessen, da meldet mir der Wirth meines Hotels „um drei Uhr kommt Familie Rée, 8 Personen“. Ich kann nicht beschreiben, was die nächste Stunde mir Alles durch den Kopf gieng: ich lief zur Post, es war strömendes Regenwetter, ich bestellte für den nächsten Morgen mir einen Platz, ich wollte nach Basel, endlich mußte ich zu Bett: und wahrhaftig, ich zitterte bei jedem Geräusch im Hause. Ich bin ganz und gar nicht gemacht zur Feindschaft. — Zuletzt ergab sich, daß ein Mißverständniß, ein ähnlich klingender Name an Allem schuld war. Aber ich habe doch, in Folge dieses Tages, meinen Brief an Georg Rée abgesandt. —
Es ist hier, seit Wochen! äußerst kalt, die Berge tief bis hinab beschneit, die Fremden unzufrieden. Ich selber bin sehr arbeitsam; wenn ich aus meiner Arbeit zu mir komme, bin ich aber die Beute der Melancholie — das ist nicht zu ändern! Ich sehe und weiß, wie groß meine Vereinsamung ist; und diese unheilvolle Geschichte trennt immer mehr Menschen von mir ab. — Es gab in diesem Frühjahr auch von Overbeck’s Seite einen Brief, den ich mir hinter die Ohren geschrieben habe: er demonstrirte, ich hätte als Schriftsteller jedes erlaubte Maaß dessen überschritten, was die Leser sich gefallen lassen könnten und dürfe mich gar nicht wundern, wenn man sich gegen mich wende (nebst Bemerkungen darüber, daß meine Aphorismen-Form auch die beste Geduld zuletzt zur Verzweiflung bringe: ungefähr war dies der Sinn.) Früher würde er sich das Alles nicht erlaubt haben zu sagen, aber nach dieser Geschichte darf man’s!
Nächstens schreibe ich auch unsrer guten Mutter, deren Brief von gestern mich wahrhaft gerührt hat. Aber bis Mitte Sept. bin ich hier fest gemiethet und will weiter arbeiten.
Dein Bruder F.
445. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz
Sils-Maria, Engadin Schweiz 31 Juli 1883.
Geehrtester Herr Verleger,
in Betreff des Correctur-Ganges habe ich in diesen Tagen an Naumann geschrieben; namentlich daß das Manuscript nicht an mich, sondern immer an Hrn. Köselitz geschickt wird. Thun Sie Alles, daß es keine Stockungen und Bummeleien à la Teubner giebt!
Was den ersten Zarathustra betrifft: so habe ich Alles gethan, daß er um Ostern in den Händen der Leser sein konnte. Ein halbes Jahr früher oder später — das ist für ein kurzes Menschenleben, wie es das meinige sein wird, sehr viel — ich sage kein Wort mehr.
Ihr ergebenster
Dr Nietzsche.
NB. Der erste Bogen ist in meinen Händen. Sollen die Bogen immer an Sie zurück geschickt werden? —
446. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Sils-Maria, 3. August 1883>Freitag.
Mein lieber Freund, ich fürchte, daß es Post-Unfug gegeben hat: bis heute ist Nichts von Ihren Correcturen in meine Hände gelangt, wohl aber Ihre Karte, die mit der Absendung des ersten Bogens gleichzeitig ist: und inzwischen müssen Ihnen noch 2 Bogen zugegangen sein. Was thun! Ich vertraue mir selber nicht in Betreff jener feinen Kleinigkeiten der Correctur, die Ihr Auge und Ihr Geschmack sieht — ja nicht einmal in den groben „Großigkeiten“ vertraue ich mir.
Ihr Brief gab mir wieder zu denken und dafür dankbar zu sein, was für ein guter Leser Sie sind — und wie Sie nicht nur das „zwischen den Zeilen Stehende“ lesen, sondern auch das, was zwischen ihnen stehen sollte, aber nicht dasteht! Im Übrigen sehen wir zu, was Zarathustra selber zu Ihrem Briefe zu sagen hat; und es stünde schlimm, wenn er dazu gar Nichts zu sagen hätte.
Ihre Farben-Bemerkung über „Gewitterhaft-Violett“ war mir interessant, und in gleichem Maße wie Ihre vorjährigen Worte über die Farben meiner „Musik“ — sit venia verbo! Auch, was Sie über „complementirende Menschen“ sagen, gehört noch in dies Bereich Ihres venezianischen Farbensinns: ich selber könnte mir sehr gut Wesen vorstellen, welche sich so zu allen anderen verhalten wie Erlösungen, Zwecke und Rechtfertigungen, — aber ich fand Niemanden der Art. Mein Glaube ist, daß es höhere und tiefere Menschen giebt, und viele Stufen und Distanzen; und es ist unerläßlich, daß der höhere Mensch nicht nur höher steht, sondern auch den Affect der Distanz fühlt und zeitweilig zu erkennen giebt — unerläßlich mindestens dafür, daß sein Höher-sein wirkt, also höher macht. Wenn ich den ersten Zarathustra ganz verstehe: so will er eben an solche sich wenden, welche im Gedränge und mitten im Gesindel lebend entweder ganz und gar die Opfer dieses Distanz-Affektes werden (des Ekels, unter Umständen!) oder ihn ablegen müssen: denen redet er zu, sich auf eine einsame glückselige Insel zu flüchten — oder nach Venedig. —
Gerade Epicur gilt mir als negatives Argument für meine Forderung: bis jetzt hat es ihm alle Welt entgelten lassen, und schon von seiner Zeit an, daß er sich verwechseln ließ und es mit der Meinung über sich leicht, göttlich-leicht nahm. Schon in der letzten Zeit seiner Berühmtheit haben sich die Schweine in seine Gärten gedrängt; und es gehört zu den großen Ironien der fama, daß wir einem Seneca zu Gunsten der Epikurischen Männlichkeit und Seelenhöhe Glauben schenken müssen — einem Menschen, dem man im Grunde immer sein Ohr, aber niemals „Treu und Glauben“ schenken sollte. In Corsica sagt man: Seneca è un birbone. —
Eben erfuhr ich, daß ich wieder einmal dem Tode entgangen bin: denn es war eine Zeitlang höchst wahrscheinlich, daß ich den Sommer auf Ischia, in Casamicciola, zubringen würde.
Adieu, mein lieber, lieber Köselitz! In Ihrer Umarbeitung von „Sch<erz>, L<ist> und R<ache>“ liegt viel Charakter, guter Charakter — bravo! bravissimo!
Ihr Freund Nietzsche.
447. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Sils-Maria, 3. August 1883, Abends>
Lieber Freund, Ihr Bogen I ist doch noch angekommen, nach Umschweifen. Mit Bogen 4 wird nun auch das M s. Ihnen regelmäßig zugehen: — für mich ist dies eine wahre „Erleichterung des Gemüths“, denn heute, beim Durchsehen der ersten Bogen litt ich förmlich Scham vor Ihnen, in Anbetracht der wahnsinnig albernen Einfälle, die in ihnen zu lesen waren, Dank den Leipziger Setzern und Correktoren. „Zuletzt denkt Freund Köselitz, Zarathustra ist verrückt geworden (oder, was schlimmer wäre, Leipzigerisch)!“ — also sprach ich zu meinem Herzen.
Einen Brief an Sie sandte ich heute Morgen ab.
Es giebt in meinem Kopf jetzt wieder manchen schlimmen Nagewurm.
Ihr Freund
F. N.
448. An Ida Overbeck in Steinach am Brenner (Entwurf)
<Sils-Maria, kurz vor dem 14. August 1883>
Ich will nur gleich direkt noch einmal an Sie schreiben und gut zu machen suchen, was ich mit dem letzten Briefe schlecht gemacht habe. Es muß ein sehr ungeschickter Brief gewesen sein, denn erstens hat er Sie betrübt, und zweitens hat er den Eindruck gemacht als ob ich mich zu vertheidigen hätte. Die Wahrheit zu sagen: zur Moralität ermahnt zu werden macht mich ungeduldig und der Ausdruck „falsches Mitleid“ angewendet auf den tiefsten Schmerz meines Lebens, hat mir sogar wehe gethan. Trotzdem sind das Empfindungen, die nicht 2 Tage bei mir anhalten, solchen M<enschen> gegenüber von deren gründlichem Wohlwollen ich überzeugt bin. Ich sehe, daß ich auf Ihren Brief diese Worte geschrieben habe „man thut nichts Dümmeres als klagen: man diskreditirt sich damit vor seinen Freunden und diskreditirt sich selber dadurch seine Freunde“. Indeß: „diese Weisheit“ soll in unserm Falle unanwendbar, oder ein überwundener Standpunkt sein, nicht wahr? — Übrigens ist die ganze böse Geschichte so complicirt, daß ich Jedem nur dankbar sein muß, der ihretwegen an mir noch immer nicht ernstlich irre geworden ist.
Meine Erfahrung vom vorigen Jahre hat mir eine seltsame Beobachtung an die Hand gegeben: ich, lange Zeit dem praktischen Leben fremd, handle in 50 Fällen 49 Mal nach einem Motive, an welches man nicht denkt, wenn man mich handeln sieht. Daraus ergiebt sich, daß ich fast immer Mißdeutung errege und meist, in unglücklichen Fällen, das Opfer meiner Handlungsweise bin. — Nun denke ich aber über Opfer, Enttäuschung, Schmerz und dergl. so: es kommt nur darauf an, daß man’s aushält — dann sind es die mächtigsten Förderungen und Quellen des Lebens. Und was dies Jahr betrifft, das noch nicht zu Ende ist — so kann ich jetzt schon sagen, daß ich niemals mich in solchen Höhen der Empfindung gefühlt habe, wie in diesem unheimlichen Jahre, und daß ich mehr als Eine Stunde mir schon wieder gesagt habe: ein solcher Schmerz, (es war als ob ich an allen verwundbaren Stellen auf Einmal mit dem Messer gestochen würde!); ist eine hohe Auszeichnung. Sie wissen viell<eicht> daß ich stolz darauf <bin>, in physischen Martern zu den M<enschen> zu gehören, welche am meisten Erfahrung haben. Ich habe Leib und Seele in solcher Beschaffenheit daß ich mit Beiden furchtbar leiden kann: und was die Seele betrifft, war ich voriges Jahr wie Einer, der viele, viele Jahre lang keine Erlebnisse mehr erlebt hatte: weshalb jede Haut der Seele und jede natürliche Schutzmaßregel mir fehlten.
Man hat mich in fürchterlicher Weise belogen, mißbraucht, verhöhnt in der Ehre beeinträchtigt — dies ist jetzt kein Zweifel. Wenn sich meine Freunde darüber empören und eine Genugthuung an den Übelthätern suchen, so ist das in Ordnung: dies nenne ich „das gute Recht meiner Schwester.“ Der Übelstand ist, daß alle diese feindl<ichen> Maßregeln sich gegen Personen richten, welche ich geliebt habe und welche ich viell<eicht> jetzt noch liebe: mindestens bin ich jeden Augenblick bereit, den ganzen Kram von Beleidigung und mir erwiesenem Schaden wegzuwerfen, wenn ich wüßte, ich könnte ihnen wirklich nützen.
Da überhaupt wieder in dieser Sache gehandelt wird (ich hatte meine Schwester dringend gebeten, es zu lassen), so bin ich gezwungen, mit meiner Schwester zu handeln; denn man hat sie im vorigen Jahre, von Seiten der Familie R<ée> in Stich gelassen, ebenso wie mich. Unter dem Eindruck einiger empörenden Details, die ich ein Jahr zu spät erfuhr, habe ich an Georg R<ée> den Rittergutsbesitzer auf Stibbe einen fulminanten Brief geschrieben. Er hat mir darauf mit einem Injurien-Prozeß gedroht — und darauf wieder habe ich mit etwas Anderem gedroht. Nun wollen wir sehen, wie es weiter geht.
Lou ist, was mächtige Energie des Willens und Originalität des Geistes betrifft, ein Wesen ersten Ranges und ebenso in Betreff einer wirklichen Genialität der Begabung für meine persönlichen Interessen habe ich [—] „es ist ewig schade um sie“, dies Wort hat hier sein Recht: — Nach ihrer praktischen Moralität mag sie ins Zuchthaus oder Irrenhaus gehören: — Für Rée und das ihn Auszeichnende mag sprechen, daß M<alwida> von M<eysenbug> ihn jahrelang, als den besten Ausdruck menschl<icher> Güte verehrt hat.
449. An Ida Overbeck in Steinach am Brenner
<Sils-Maria, kurz vor dem 14. August 1883>
Meine liebe Frau Professor,
ich will nur gleich noch einmal direkt an Sie schreiben und gut zu machen suchen, was ich mit dem letzten Briefe schlecht gemacht habe. Es muß ein sehr ungeschickter Brief gewesen sein, denn erstens hat er Sie betrübt, und zweitens hat er den Eindruck gemacht, als ob ich mich zu vertheidigen hätte. Die Wahrheit zu sagen: zur Moralität vermahnt zu werden macht mich ungeduldig, und der Ausdruck „falsches Mitleiden“, angewendet auf den tiefsten Schmerz meines Lebens, hat mir sogar wehe gethan. Aber das sind Empfindungen, die nicht zwei Tage bei mir anhalten, solchen Menschen gegenüber, von deren gründlichem Wohlwollen ich überzeugt bin. Übrigens ist die ganze böse Geschichte so complicirt, daß ich es hochzuschätzen habe, wenn Jemand ihretwegen „noch immer nicht ernstlich an mir irre geworden ist“ — so sehr ich auch das entgegen gesetzte Bewußtsein habe, das ich schon in meinem Briefe ausdrückte, das Bewußtsein, in meinem ganzen praktischen Verhalten zu Menschen niemals Höheres gewollt und niemals sublimer gehandelt zu haben. Was meine Schwester betrifft, so habe ich es weder im vorigen Jahre noch in diesem an Deutlichkeit darüber, was ich will, fehlen lassen; aber wenn man nicht zusammen lebt, so geschieht Manches, dessen Folgen man anzuerkennen hat, nachdem es nicht mehr möglich ist, es ungeschehn zu machen. Ich habe mich gewiß nicht gegen Sie über meine Schwester beklagt, sondern über das Fatalistische darin, daß Alles, was sie in dieser Sache gethan hat — und zwar zur Rettung und Wiederherstellung meiner Ehre (eingerechnet ihre eigne Genugthuung) — sich gegen mich wendet. Als ich gerade mit meinem zweiten Zarathustra fertig geworden war, (beiläufig: ich habe noch in keinem Jahre diese Höhen der Empfindung erreicht und bin wahrscheinlich deshalb der beneidenswürdigste aller Sterblichen) da bekam ich ganz unerwarteter Weise ihren Brief an Frau R<ée> nebst einigen Details über die ganze Geschichte, die mich dermaaßen empörten, daß ich an den Rittergutsbesitzer Rée, den Bruder meines ehemal. Freundes einen fulminanten Brief schrieb. Der hat mir darauf mit einem Injurien-Prozeß gedroht: und ich habe darauf mit etwas Anderem gedroht. Nun wollen wir sehen, wie die Sache weiter läuft. — Meine Schwester schrieb mir zuletzt noch, daß sie mir jene Dinge aus Schonung voriges Jahr verschwiegen habe; und in der That, vielleicht war es wirklich nöthig, mir diese ganze auf Jahre sich zurückerstreckende Enttäuschung tropfenweise und allmählich einzugeben — wahrscheinlich lebte ich andernfalls nicht mehr. Ich war voriges Frühjahr wie Einer, der viele, viele Jahre von außen her nichts mehr erlebt hatte; meiner Seele fehlte die Haut sozusagen und alle natürlichen Schutzmaaßregeln. Das, was ich von da an erlebt habe, ist so complizirt schmerzhaft, daß ich meine, es sei nach allen an mir überhaupt verwundbaren Stellen das Messer gestoßen worden.
Und nun noch ein Wort über Frl. S<alomé>. Ganz abgesehn von der idealistischen Beleuchtung, in der man mir sie vorgeführt hatte (als eine Märtyrerin der Erkenntniß fast von Kindesbeinen an und noch mehr Heldin als Märtyrerin) ist und bleibt sie mir ein Wesen ersten Ranges, um die es ewig schade ist. Gemäß der Energie ihres Willens und der Originalität ihres Geistes war sie zu etwas Großem angelegt: nach ihrer thatsächlichen Moralität mag sie freilich eher ins Zuchthaus oder Irrenhaus gehören. Mir fehlt sie, selbst noch mit ihren schlechten Eigenschaften: wir waren verschieden genug, daß aus unsern Gesprächen immer etwas Nützliches herauskommen mußte, ich habe Niemanden so Vorurtheilsfrei, so gescheut und so vorbereitet für meine Art von Problemen gefunden. Mir ist seitdem, als ob ich zum Stillschweigen oder zu einer humanen Heuchelei im Verkehre mit allen Menschen verurtheilt sei. —
Bitten Sie doch ja Freund Overbeck, daß er seinen herrlichen Gedanken eines Zusammentreffens in Schuls festhält. Und Sie selber, meine liebe verehrte Frau Professor, bleiben Sie mir gut und — zuversichtlicher!
Allseitig die besten Grüße!
Von Herzen Ihnen
ergeben — Nietzsche
Wir sind bei Bogen 4 Zarathustra II. Drucker ist Naumann: den ersten Theil rückt Teubner nicht heraus, wahrscheinlich, weil Hr. Schm<eitzner> seine Schulden nicht bezahlen kann. —
450. An Franz Overbeck in Steinach am Brenner (Entwurf)
<Sils-Maria, 14. August 1883>
Ich will auch an Dich, lieber Freund, noch ein Paar aufrichtige Worte schreiben, wie ich es jüngst an Deine Frau gethan habe. Ich habe ein Ziel, welches mich nöthigt, noch zu leben und dessentwegen ich auch mit den schmerzhaftesten Dingen fertig werden muß: ohne diesen Zwang, der über mir steht, würde ich es leichter nehmen — nämlich längst nicht mehr leben. Und nicht nur hätte mir Jeder, der in diesem Winter meinen Zustand aus der Nähe gesehn, begriffen hätte, sagen dürfen: mach Dir’s doch leichter! Stirb!“ sondern auch schon früher, in den furchtbaren Jahren physischer Leiden, stand es so mit mir. Selbst noch meine Genueser Jahre sind eine lange lange Kette von Selbst-Überwindungen und nicht im Geschmacke irgend eines M<enschen>, den ich kenne. Also, lieber Freund, der „Tyrann in mir“ der unerbittliche wird mich vielleicht auch diesmal triumphiren lassen (was körperliche Qualen betrifft — nach Länge Intensität und Mannichfaltigkeit darf ich mich zu den Erfahrensten und Erprobtesten und Siegreichsten unter den Menschen zählen) Und wie meine Denkweise ist, so verlangt sie sogar einen absoluten Sieg: nämlich die Verwandlung des Erlebnisses in Gold und Nutzen höchsten Ranges. Einstweilen bin ich aber immer noch der leibhaftige Ringkampf: beim Lesen der Aufforderung Deiner lieben Frau hatte ich den Eindruck, als ob Jemand den alten Laokoon auffordere, er möge doch seine Schlangen überwinden. Pardon!
Meine „Angehörigen“ und ich wir sind von einander zu verschieden: sie wissen nicht genau was mir noththut. Die Maßregel, die ich den Winter über nöthig befand, keine Briefe mehr von daheim zu empfangen, ist aber nicht mehr aufrecht zu erhalten. Ich blute aber noch an jedem verächtlichen Wort, das gegen Rée oder Frl. S<alomé> geschrieben wird — ich bin nicht zur Feindschaft gemacht, während meine Schwester mir kürzlich schrieb, es sei ja ein „frischer fröhlicher Krieg.“
Ich habe die stärksten abziehenden Mittel angewendet, die ich kenne, und namentlich an meine höchste und schwerste Produktivität appellirt. (Inzwischen ist wieder die Skizze zu einer „Moral für Moralisten“ fertig geworden) Aber von außen her kommt mir Nichts entgegen: umgekehrt, es ist gleichsam alles verschworen, mich in meinem Abgrund festzuhalten: so das entsetzliche letztjährige Winter-Wetter, wie es die Küste von Genua noch kaum erlebt hat, so wieder dieser kalte trübe Sommer ohne Sonnenschein. Das Mißgeschick Köselitzens im vorigen Herbst hat mich tief verletzt; der Tod W<agner>’s aber war viell<eicht> die schauerlichste Complikation dieses Winters, aus Umständen, von denen ich nicht reden kann. Das langwierige Nervenfieber gab mir einen Begriff von der tiefen Erschütterung meines Wesens — denn ich hatte überhaupt bis dahin noch nie Fieber gehabt und mich für unfähig dazu gehalten)
Denke doch daran, Etwas absolut Abziehendes ausfindig zu machen: ich bin eine so concentrirte Natur, daß es jetzt der äußersten und extremsten Mittel bedarf, um mich abzuziehn. Die Gefahr ist groß. Soll ich eine Übersiedelung nach Mexico vornehmen?
451. An Franz Overbeck in Steinach am Brenner
<Sils-Maria,> Dienstag. <14. August 1883>
Mein lieber Freund Overbeck,
ich will auch an Dich noch ein Paar aufrichtige Worte schreiben, wie ich es jüngst an Deine verehrte Frau gethan habe. Ich habe ein Ziel, welches mich nöthigt, noch zu leben und dessen-wegen ich auch mit den schmerzhaftesten Dingen fertig werden muß. Ohne dieses Ziel würde ich es leichter nehmen — nämlich, längst nicht mehr leben. Und nicht nur diesen Winter hätte ein Jeder, der meinen Zustand aus der Nähe gesehn und begriffen hätte, mir sagen dürfen: „mach Dir’s doch leichter! Stirb!“ — sondern auch früher schon, in den furchtbaren Jahren physischen Leidens, stand es ebenso mit mir. Selbst noch meine Genueser Jahre sind eine lange lange Kette von Selbstüberwindungen um jenes Zieles Willen und nicht im Geschmacke irgend eines Menschen, den ich kenne. Also, lieber Freund, der „Tyrann in mir“, der unerbittliche, will, daß ich auch dies Mal siege (was körperliche Qualen betrifft, nach Länge Intensität und Mannichfaltigkeit, so darf ich mich zu den erfahrensten und erprobtesten Menschen rechnen: ist es denn mein Loos, daß ich’s auch noch in Betreff der seelischen Qualen sein muß?) Und wie meine Denkweise und letzte Philosophie nun einmal ist, so habe ich sogar einen absoluten Sieg nöthig: nämlich die Umwandlung des Erlebnisses in Gold und Nutzen höchsten Ranges. — —
Einstweilen bin ich freilich immer noch der leibhaftige Ringkampf: so daß ich bei den neulichen Aufforderungen Deiner lieben Frau ungefähr den Eindruck hatte, als ob Jemand den alten Laocoon auffordere, er möge doch seine Schlangen überwinden.
Meine Angehörigen und ich — wir sind zu verschieden. Die Maaßregel, die ich diesen Winter für nöthig befand, keine Briefe mehr von daher zu empfangen, ist aber nicht mehr aufrecht zu erhalten (ich bin nicht hart genug dazu) Aber ein jedes verächtliche Wort, was gegen Rée oder Frl. S<alomé> geschrieben wird, macht mir das Herz bluten; es scheint, ich bin schlecht zur Feindschaft gemacht (während meine Schwester mir zuletzt noch schrieb, ich solle guter Dinge sein, es sei ja „ein frischer fröhlicher Krieg“)
Ich habe die stärksten abziehenden Mittel angewendet, die ich kenne, und namentlich an die höchste und schwerste eigne Produktivität appellirt. (Inzwischen ist die Skizze zu einer „Moral für Moralisten“ fertig geworden) Ach, Freund, ich bin ja ein alter geriebener Moralist der Praxis und Selbstberherrschung, ich habe hier so wenig etwas versäumt, wie etwa diesen Winter bei der Selbst-Behandlung im Nervenfieber. Aber von außen her werde ich nicht unterstützt; im Gegentheil, es scheint gleichsam Alles verschworen, mich in meinem Abgrunde festzuhalten: — so das entsetzliche letztjährige Winter-Wetter, wie es die Küste Genuas noch kaum erlebt hat, so wieder dieser kalte trübe regnerische Sommer.
Aber die Gefahr ist groß. Ich bin eine allzu concentrirte Natur, und was mich auch trifft, bewegt sich nach meinem Mittelpunkte. Das Unglück des vorigen Jahres ist nur im Verhältniß zu dem mich beherrschenden Ziele und Zwecke so groß; ich war und bin furchtbar zweifelhaft über mein Recht geworden, mir ein solches Ziel zu setzen — das Gefühl meiner Schwäche überfiel mich, in einem Momente, wo Alles, Alles, Alles mir hätte Muth machen sollen!
Denke doch daran, liebster Freund Overbeck, etwas absolut Abziehendes ausfindig zu machen! ich glaube, es bedarf jetzt der äußersten und extremsten Mittel — Du kannst Dir nicht vorstellen, wie bei Tag und Nacht dieser Wahnsinn in mir wüthet.
Daß ich in diesem Jahre meine sonnenhellsten und heitersten Dinge erdacht und geschrieben habe, viele Meilen hoch über mir und meinem Elende: das gehört eigentlich zum Erstaunlichsten und Schwerst-Erklärlichen, was ich weiß.
Ich habe, soweit ich berechnen kann, noch das nächste Jahr nöthig zu leben — hilf mir dazu, daß ich noch fünfzehn Monate aushalte.
Wenn es irgendwie Dir möglich ist, den Gedanken einer Zusammenkunft in Schuls zu verwirklichen: so gieb mir einen Wink — ich bin Dir äußerst dankbar auch schon für den Vorschlag.
Treulich Dein
Nietzsche.
452. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Sils-Maria, 16. August 1883>
Woher, lieber Freund, haben Sie nur alle diese herrlichen Epicurea? Ich meine nicht nur Epikurische Worte, sondern alles das von Epicur’s Garten-Luft und -Duft, was mir aus jedem Ihrer neuerlichen Briefe entgegenkommt. Ach, ich hätte dergleichen so nöthig — eingerechnet das göttliche Kunststück „den Massen auszuweichen“. Denn, die Wahrheit zu sagen, ich bin beinahe zerdrückt. — Doch ich will von Anderem sprechen.
Das Schicksal Ischia’s hat mich immer mehr erschüttert; und außer alle dem, was jeden Menschen angeht, giebt es Etwas daran, das mir persönlich nahe geht, auf eine eigne schauerliche Weise. Diese Insel lag mir so in den Sinnen: wenn Sie Zarathustra II zu Ende gelesen haben werden, wird dies Ihnen deutlich sein, wo ich meine „glückseligen Inseln“ suchte. „Cupido mit den Mädchen tanzend“ ist nur in Ischia sofort verständlich: (die Ischiotinnen sagen „Cupedo“). Kaum bin ich mit meiner Dichtung fertig, bricht die Insel in sich zusammen. — Sie wissen, daß in der Stunde, in der ich den ersten Zarath<ustra> im Druck-Manuscript vollendete — Wagner gestorben ist. — Dies Mal bekam ich in der entsprechenden Stunde Nachrichten, die mich so empörten, daß es wahrscheinlich diesen Herbst ein Pistolen-Duell giebt. Silentium! Lieber Freund! — —
Inzwischen habe ich die Skizzen zu einer „Moral für Moralisten“ gemacht und in vielen Punkten mich geordnet und zurechtgerückt. Die durchgehende unbewußte ungewollte Gedanken-Congruenz und -Zusammengehörigkeit in der buntgeschichteten Masse meiner neueren Bücher hat mein Erstaunen erregt: man kann von sich nicht los, deshalb soll man es wagen, sich weithin gehen zu lassen. —
Ich gestehe, was ich mir jetzt sehr wünschte — daß einmal ein andrer Mensch eine Art Résumé meiner Denk-Ergebnisse machte und mich selber dabei in Vergleichung zu bisherigen Denkern brächte. Es verlangt mich, aus einem wahren Abgrunde unverdientester und sehr ausgedehnter Geringschätzung heraus, in welchen mein ganzes Thun und Trachten seit 1876 steht, nach einem „Wort der Weisheit“ über mich.
Zarathustra-Bogen sind ausgeblieben — ich mag nicht an Schm<eitzner> schreiben; ich glaube, daß es ihm nicht gut geht, in Folge dieser Antisemitica. Vom ersten Z<arathustra> ist noch kein Exemplar in die Welt gebracht; so viel ich verstehe und errathe, rückt Teubner die Exemplare nicht heraus, weil Schm<eitzner> ihm nicht seine Schulden bezahlen kann. Silentium! Bitte!! —
Ich gehe, soweit ich nicht krank bin (oder halb wahnsinnig, was auch vorkommt) mit Gedanken über eine Rede herum, die ich im Herbst in Leipzig an der Universität halten will: „die Griechen als Menschenkenner“ ist das Thema. Ich habe nämlich den ersten Schritt dazu gethan, um dort an der Universität Vorlesungen halten zu können — zunächst, für 4 Semester, eine Schilderung der „griechischen Cultur“ — wozu ich hier mir einen Entwurf machte. Silentium zum dritten Male! —
Inzwischen kann alles Mögliche geschehn. Ach, Freund, wohin ist jener Monat des Sanctus Januarius!!! Seitdem bin ich wie zum Tode verurtheilt und nicht nur zum Tode, sondern zum „Sterben“.
Leben Sie wohl! Wer steht mir jetzt so nahe wie Sie?
Ihr Nietzsche.
453. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Sils-Maria, Mitte August 1883>
Meine liebe Schwester,
ich schreibe unmittelbar nach Empfang Deines Briefes, der mir wieder Deine für mich wohlwollenden Absichten recht zum Bewußtsein bringt. Es geht in meinem Kopfe drunter und drüber, ich thue wahrscheinlich eine Ungerechtigkeit nach der andern, richte eine Teufelei nach der andern <an>, erreiche unter allen Umständen, daß ich selber dabei zehn Mal mehr leide als irgend Jemand — und wünsche täglich auf irgend eine Weise erlöst zu sein. Ich bin sehr froh, daß ich einige Briefe an Dich — Nachtgeburten — zerrissen habe; aber doch ist mir ein Brief an unsere Mutter entschlüpft, der noch in dieselbe Gattung gehört. Das Schlimme ist, ganz wie letzten Winter, ein mir persönlich im höchsten Grade nachtheiliges Ausnahme-Wetter: ich bin im buchstäblichen Sinne bei bedecktem Himmel und heranziehenden Wolken ein anderer Mensch, schwarzgallig und sehr bösartig gegen mich, mitunter auch gegen Andre. (Zarathustra I und II sind Licht- und Heiterer-Himmel-Ausgeburten, ebenso der Sanctus Januarius. Wer mich nach solchen Dingen beurtheilt, beurtheilt mich hundert Mal zu günstig, à la Köselitz.) Mein eigentliches Recept heißt deshalb immer noch das Thal von Oaxaca in Mexico, welches im Jahre c. 33 betrübte Tage hat, im Übrigen Tag und Nacht reines wolkenloses Engadiner Himmels-Wetter, ca. 220! während Sils im Jahre 80 heitere Tage hat. (die Höhe ist die gleiche wie hier, es ist eine Schweizer-Colonie, die Preise außerordentlich billig)
Andererseits thäte mir ein Bischen Dociren sehr gut: nur habe ich eine gräßliche Erinnerung speziell an die Leipziger Universität — ich bin diesen Empfindungs- und Urtheils-Maaßstäben auf eine fast lächerliche Art entwachsen — oder wie Du’s nennen willst. Die Zukunft der Menschheit — daran zu denken ist mein einziges Labsal, das Gegenwärtige will ich nicht mehr sehn und hören, es erstickt, drückt, quält mich, es macht mich arm und kleinmüthig — — Am wenigsten aber könnte ich jetzt Vorlesungen aus dem Ärmel schütteln, alte noch weniger als neue. Mein allgemeinster Gesichtspunkt ist, daß ich nächstes Jahr hier oben meinen Zarathustra-Schluß mache — der Gedanke daran, wie er mir vorschwebt, macht mich fast schwindeln, die Aufgabe ist ungeheuer schwer und einstweilen weit über das Maaß meiner Kräfte gehend.
Darauf hin will ich diesen Winter leben, mich recht hell und ruhig und fest machen und abwarten, ob ich’s leisten kann.
Mit Overbeck habe ich ein baldiges Zusammentreffen in Schuls in’s Auge gefaßt. Den September will ich mich von hier fortmachen; und wenn Ihr mich sehr lockt, so komme ich doch noch nach Naumburg (Versprechen möchte ich’s nicht, das hängt von meiner bösen Gesundheit, respective vom Wetter ab) Ich muß heitre Menschen um mich haben, in Ermangelung des heitern Himmels. Und ein Bischen geehrt werden und nicht beschimpft und verdächtigt.
Herzlich dankend
Dein F.
Ich will meine Bücher für nächsten Sommer gleich hier Oben in meinem Zimmer lassen.
454. An Franz Overbeck in Steinach am Brenner (Postkarte)
<Sils-Maria, 18. August 1883>
Herrlich, lieber Freund! Und meinen allerbesten vorläufigen Dank! Also am gleichen Abende mit Dir komme ich in Schuls an; zum Aufenthalte schlage ich Piz Chiampatsch vor: — das von Dir genannte Haus wird hier als todt bezeichnet. Sieh doch ja zu, daß wir es zusammen auf 3—4 Tage bringen; der Himmel weiß, oder weiß es nicht einmal, wann mir eine solche Freude wieder bescheert wird! Ich erhob mich heute von einem schweren Anfalle. Immer noch ganz allein; doch hat mich mein „Leibarzt“, Dr. Breiting von Genua, besucht — was noth that.
Von Herzen Dir und den verehrten Deinigen zugethan
N.
Danke Deiner lieben Frau für einen sehr liebenswürdigen Brief!
455. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Sils-Maria, gegen den 20. August 1883>
„Vorüber, ihr Schafe, vorüber!“
Mich krankes Schaf zu weiden
In schönen Einsamkeiten,
Das lag mir in dem Sinn.
Nun ist der Sommer gangen;
Das Lama und die Schlangen,
Die nahmen mir ihn hin.
Räuberlied
Nun ruhen alle Wälder,
Der Hüter schläft der Felder,
Und auch das liebe Vieh.
Du aber, meine Seele,
Auf! Schrei aus voller Kehle:
„Die Börse! Ou la vie!“
Injurien-Prozeß
Vor strömendem Geblüte
Da förchtet sich der Jude,
Es macht ihn mißvergnügt.
Viel lieber strömt er Gelder
An seine Rechtsanwälter
Bis so — „die Ehre siegt.“
Ergebung in Gott
Laß nur das Lama schnauben
Es wächst aus sauren Trauben
Zuletzt doch süßer Wein.
Der Liebe Unterpfänder
Sind kleine Mißverständer
Und große obendrein!
456. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Sils-Maria, 21. August 1883>
Verbrennen Sie doch, lieber Köselitz, meinen letzten Brief, wie jene Winter-Briefe, und verwischen Sie auch die Spur davon, wenn es geht, aus Ihrem Gedächtniß. Ich habe es schwer; aber wer giebt mir das Recht, damit es Ihnen schwer zu machen! Um so mehr als Sie einer der besten Erleichterer meines Lebens und meiner Gedanken sind! — Morgen treffe ich mit Overbeck zusammen, um zu berathschlagen (besser wär’s freilich „um Rad-zu schlagen“); Mir fehlt allzusehr heiterer Himmel, Zutrauen der Menschen und Ihre Musik —!
Meinen ergebensten Dank für Ihre unverbesserlich guten Correcturen!
Von ganzem Herzen
Seneca exul.
(Ich bleibe noch bis Ende August in Sils-Maria.)
456a. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Entwurf)
<Sils Maria, 25./26. August 1883>
Muß ich’s denn immerfort noch büßen, mich wieder mit Dir versöhnt zu haben? Ich bin Deine unbescheidene Moralschwätzerei gründlich müde.
Und so viel steht fest, daß Du und Niemand anders mein Leben in 12 Monaten dreimal in Gefahr gebracht hast!
Einem Menschen wie mir — seine höchste Thätigkeit zu zerstören! Ich habe noch Niemand gehaßt, Dich ausgenommen!
457. An Heinrich Köselitz in Venedig
Sils-Maria, 26. August 1883.
Wie gut that mir wieder Ihr Brief, Freund Venetianer! — das heiße ich „Vorlesungen über griechische Cultur“ vor Einem, der sie nöthig hat — und nicht vor Leipziger Studenten et hoc genus omne! Die kuriose Gefahr dieses Sommers heißt für mich — um das böse Wort nicht zu scheuen — Irrsinn; und wie ich im vorigen Winter zu einem wirklichen langen Nervenfieber wider alles Vermuthen gekommen bin — ich, der ich noch niemals Fieber gehabt hatte! — so könnte auch das noch passiren, woran ich ebenfalls nie bei mir geglaubt habe: daß mein Verstand sich verwirrt. Man hat mich ein Jahr lang zu einer Gattung von Gefühlen gehetzt, denen ich mit allerbestem Willen abgeschworen habe und über die ich in der gröberen Form wirklich glaubte Herr geworden zu sein: Rachegefühle und „ressentiment’s“. — Und dabei haben sich meine Triebe und Absichten verwirrt und sind labyrinthisch geworden: so daß ich oft nicht weiß, wie herauskommen. — Der Gedanke der Vorlesungen in Leipzig war ein Gedanke der Verzweiflung, — ich wollte eine Distraction durch stärkste tägliche Arbeit, ohne eigentlich auf meine letzten Aufgaben zurückgeworfen zu sein. Aber der Gedanke ist bereits wieder bei Seite gethan: und Heinze, der jetzige Rector der Universität hat mir klaren Wein darüber eingeschenkt, daß mein Gesuch in Leipzig scheitern werde (und wohl auch an allen deutschen Universitäten); die Fakultät werde es nicht wagen, mich dem Ministerium vorzuschlagen — von wegen meiner Stellung zum Christenthum und den Gottes-Vorstellungen Bravo! Dieser Gesichtspunkt gab mir meinen Muth wieder.
Auch die erste Besprechung des ersten Zarathustra, die mir zugesandt wird (von einem Christen und Antisemiten, und, sonderbarer Weise, im Gefängnisse entstanden) macht mir Muth, insofern auch da sofort die populäre Position, die einzig an mir begriffen werden kann, eben meine Stellung zum Christenthum, gut und scharf begriffen ist. „Aut Christus, aut Zarathustra!“ Oder auf Deutsch: es handelt sich um den alten längst verheißenen Antichrist — so empfinden es die Leser. Da werden alle Vertheidiger „unsrer Lehre vom Weltheilande“ feierlich herbei gerufen („umgürtet euch mit dem Schwerte des heiligen Geistes“!!) gegen Zarathustra: und dann heißt es „Bezwingt ihr ihn, so wird er der Eure und wird treu sein, denn an ihm ist kein Falsch; bezwingt er Euch, so habt ihr euren Glauben verwirkt: das ist die Buße, die ihr dem Sieger zahlen müßt!“
Hier, lieber Freund, so lächerlich es Ihnen vielleicht klingen mag, hörte ich zum ersten Male von außen her, was ich von innen her lange hörte und weiß: ich bin einer der furchtbarsten Gegner des Christenthums und habe eine Angriffs-Art erfunden, von der auch Voltaire noch keine Ahnung hatte. — Aber das geht Sie „Gott sei Dank!“ nichts an.
Worum ich Epicur beneide, das sind seine Schüler in seinem Garten; ja, da läßt sich schon das edle Griechenland, und da ließe sich gar das unedle Deutschland vergessen! Und daher meine Wuth, seit ich im breitesten Sinne begriffen habe, was für erbärmliche Mittel (die Herabsetzung meines Rufs, meines Charakters, meiner Absichten) genügen, um mir das Vertrauen und damit die Möglichkeit von Schülern zu nehmen. „Um des Ruhmes willen“ habe ich nicht Eine Zeile geschrieben, das glauben Sie mir wohl: aber ich meinte, meine Schriften könnten ein guter Köder sein. Denn zuletzt: der Trieb des Lehrens ist stark in mir. Und insofern brauche ich sogar Ruhm, daß ich Schüler bekomme — zumal es mit einer Stellung an Universitäten nach der letzten Erfahrung unmöglich ist. — Ich war ein Paar Tage mit Overbeck zusammen — ein paar reine sonnenhelle Tage, an denen auch Ihrer viel gedacht wurde!
F. N.
Ihren Worten über Epicur, wie den früheren über Seneca, weiß ich Nichts an die Seite zu stellen — an Sach-Kenntniß.
458. An Franz Overbeck in Steinach am Brenner
<Sils-Maria, 26. August 1883>
Lieber Freund
die Trennung von Dir warf mich in die tiefste Melancholie zurück, und die ganze Rückreise wurde ich böse schwarze Empfindungen nicht los; darunter war ein wahrer Haß auf meine Schwester, die mich nun ein Jahr lang mit Schweigen zur Unrechten Zeit und mit Reden zur unrechten Zeit um den Erfolg meiner besten Selbst-Überwindungen gebracht hat: so daß ich schließlich das Opfer eines schonungslosen Rachegefühls bin, während gerade meine innerste Denkweise allem Sich-Rächen und Strafen abgesagt hat: — dieser Conflict in mir nähert mich Schritt für Schritt dem Irrsinn, das empfinde ich auf das Furchtbarste — und ich wüßte nicht, inwiefern eine Reise nach Naumburg diese Gefahr verringern könnte. Umgekehrt: es könnte zu schauderhaften Augenblicken kommen — und auch jener lange genährte Haß könnte in Wort und That zum Vorschein kommen: wobei ich bei weitem am meisten das Opfer sein würde. Auch Briefe an meine Schwester zu schreiben ist jetzt nicht mehr rathsam — außer solchen von der harmlosesten Form (ich schickte ihr zuletzt noch einen Brief voller lustiger Verschen) Vielleicht war meine Versöhnung mit ihr in dieser ganzen Geschichte der verhängnißvollste Schritt — ich sehe jetzt ein, daß sie dadurch geglaubt hat, ein Recht zu ihrer Rache an Frl. S<alomé> zu bekommen. — Pardon! Nach unserer Übereinstimmung über das Bedenkliche an dem Leipziger Plan that es mir wahrhaft wohl, einen Brief Heinze’s vorzufinden, mit dem diese ganze Angelegenheit — ein Schritt der Verzweißung meinerseits — zu Ende gebracht ist. Ich lege Dir den Brief bei, insgleichen die erste öffentliche Äußerung über Zarathustra I; sonderbarer Weise ist letztere in einem Gefängnisse niedergeschrieben. Was mir Vergnügen macht, das ist zu sehen, daß gleich dieser erste Leser ein Gefühl davon hat, worum es sich hier handelt: um den längst verheißenen „Antichrist“. Seit Voltaire gab es kein solches Attentat* gegen das Christenthum — und, die Wahrheit zu sagen, auch Voltaire hatte keine Ahnung davon, daß man es so angreifen könne. — Was Zarathustra II betrifft, so schreibt Köselitz: „Z<arathustra> wirkt ungeheuer stark; es wäre aber verwegen, schon darüber mich äußern zu wollen: er hat mich umgeworfen, ich liege noch am Boden.“ — Du verstehst! Inzwischen, während ich mit Dir zusammen war, hat mir mein alter Schulfreund Krug seinen Besuch machen wollen (der „Direktor des königl. Eisenbahn-Betriebs-Amts in Cöln“ ist, wie auf seiner Karte steht)
Köselitzens Brief enthält Worte über Epicur (wie früher einmal über Seneca) welchen ich Nichts an die Seite zu setzen wüßte, an tiefster Sach- und Menschenkenntniß dieser Philosophie: er deutet an, daß er „Leibphilologen“ habe, die er in die Bibliothek treibe, die Kirchenväter und andre Scribenten auf Epicur hin anzusehn. Welche Wohlthat war es, Dich und Dein herzliches Vertrauen einmal so in der Nähe zu haben! Und wie gut verstehen und verstanden wir uns! Möge Deine besser gesicherte Vernunft meinem ins Schwanken gerathenen Kopfe eine Stütze sein und bleiben!
Von Herzen Dein Freund Nietzsche.
459. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Sils-Maria> Mittwoch <29. August 1883>
Meine liebe Schwester
es ist heute, wie schon seit drei Tagen ein vollkommen reines Wetter — und ich überschaue mit Heiterkeit und Sicherheit, was ich bisher erreicht und nicht erreicht habe und was ich von mir noch will. Du weißt es nicht; und deshalb darf ich es Dir nicht verübeln, wenn Du mich gerne auf einem anderen Boden und gesicherter, geschützter sehest. Dein Brief an G<eorg> R<ée> gab mir zu denken, und noch mehr Deine gelegentliche Bemerkung, mein Zustand in Basel sei doch wohl der beste bisher gewesen. Ich hingegen urtheile so: der ganze Sinn der furchtbaren physischen Schmerzen, denen ich ausgesetzt war, liegt darin, daß ich durch sie allein aus einer falschen, nämlich hundertmal zu niedrigen Auffassung meiner Lebens-Aufgabe herausgerissen worden bin. Und da ich zu den bescheidenen Menschen von Natur gehöre, so bedarf es der gewaltsamsten Mittel, um mich zu mir selber zurückzurufen. Auch die Lehrmeister, die meine Jugend gehabt hat, sind wahrscheinlich, im Verhältniß zu dem, was ich zu thun habe, nur geringere und vorübergehende Kräfte; daß ich über ihnen ihr Ideal geschaut habe, über all diesen Schopenhauer’s und Wagner’s — das hat mir sie ganz entbehrlich gemacht, und ich könnte mich jetzt gar nicht unbilliger beurtheilen, als wenn ich mich nach diesen von mir in jedem Sinne überwundenen Zeitgenossen beurtheilte. Jedes Wort meines Zarathustra ist ja siegreicher Hohn und mehr als Hohn über die Ideale dieser Zeit; und fast hinter jedem Wort steht ein persönliches Erlebniß, eine Selbst-Überwindung ersten Ranges. Es ist ganz nothwendig, daß ich mißverstanden werde; mehr noch, ich muß es dahin bringen, schlimm verstanden und verachtet zu werden. Daß meine „Nächsten“ [Verwandten] damit anfangen mußten, begriff ich vorigen Sommer und Herbst, und hatte das herrliche Bewußtsein, eben damit auf meiner Bahn zu sein. Dies Gefühl steht auch im Z<arathustra> überall zu lesen. Der schlimme Winter und meine unterliegende Gesundheit haben mich davon entfernt und muthlos gemacht; und ebenso haben die kleinlichen Dinge, welche seit einigen Wochen über mich herstürzen, mir wieder die größte Gefahr gebracht — nämlich meinen Weg zu verlassen. Sobald ich jetzt sagen muß: „ich halte die Einsamkeit nicht mehr aus“, so empfinde ich eine unsägliche Erniedrigung vor mir selber — ich bin dem Höchsten, das in mir ist, abtrünnig geworden.
Was liegt an diesen Rées und Lou’s! Wie kann ich ihr Feind sein! Und wenn sie mir Schaden gethan haben — ich habe genug Nutzen von ihnen gehabt und gerade darin, daß es so ganz verschiedene Arten Menschen sind als ich bin: darin liegt für mich eine reichliche Compensation, ja eine Aufforderung zur Dankbarkeit gegen die Beiden. Es sind beides originale Menschen, und keine Kopien: deshalb hielt ich es mit ihnen aus, so sehr sie mir wider den Geschmack giengen. In Betreff der „Freundschaft“ habe ich bis jetzt überhaupt Entbehrung geübt (und Schmeitzner z.B. behauptet, ich hätte gar keine Freunde, „ich sei zehn Jahre lang vollkommen in Stich gelassen worden“); Was die ganze Richtung meiner Natur betrifft: so habe ich keinen Genossen (auch Köselitz nicht!) niemand hat eine Ahnung davon, wann mir Trost, eine Ermuthigung, ein Händedruck Noth thut; dies war z. B. im höchsten Grade voriges Jahr der Fall, nach meinem Aufenthalte in Tautenburg. Und wenn ich klage, dann glaubt alle Welt ein Recht zu haben, ihr Bißchen Machtgefühl an mir als einem Leidenden auszulassen; man nennt’s Zuspruch, Mitleiden, guten Rath usw.
Aber so gieng es immer solchen Menschen, wie ich bin; mein ganz persönlicher Übelstand ist die schlimme Gesundheit, welche als Erniedrigung meines eignen Kraftgefühls, als Mißtrauen gegen mich selber sich geltend macht: und da ich unter diesem europäischen Himmel mindestens zwei Drittel des Jahres leidend und schwermüthig bin, so gehört ein unglaubliches Glück dazu, daß ich’s noch länger aushalte. Glück nenne ich hier nur das Ausbleiben solcher Unglücksfälle, wie der letztjährigen — also daß keine Steine in mein Uhrwerk gerathen. Ich kann nämlich an kleinen Steinchen zu Grunde gehen, weil das Uhrwerk jetzt im höchsten Grade complizirt ist, und die Verantwortlichkeit in den allerhöchsten Fragen der Erkenntniß auf mir lastet. — In summa um doch eine praktische Consequenz aus diesen Allgemeinheiten zu ziehn: meine liebe liebe Schwester, erinnere mich mit keinem Wort, weder mündlich noch schriftlich, an die Dinge, welche mich um mein Selbst-Vertrauen, ja fast um das Resultat meines Lebensweges bringen wollten! Rechne es auf meine Gesundheit, daß sie so sehr auf mich wirken und gewirkt haben! Schaffe Vergessen und irgend etwas Neues und ganz Verschiedenes davon, daß ich über den Verlust solcher „Freunde“ lachen lerne! Und denke daran, daß einem Menschen wie ich bin, niemals die Gegenwart gerecht werden darf, und daß jeder Compromiß zu Ehren des „guten Rufs“ meiner nicht würdig ist.
Geschrieben bei reinem Himmel, mit hellem Kopfe, gutem Magen und in früher Morgenstunde.
Von Herzen Dein Bruder.
Die Correktur wird mich noch ein paar Wochen hier festbinden.
460. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Sils-Maria, Ende August 1883>
Zunächst, lieber alter Freund, noch eine Erinnerung aus der Zeit, wo ich eifrig genug Democritea und Epicurea trieb — eine auch für Philologen noch unerschöpfte Welt der Forschung! Sie wissen: die Bibliothek in Herculanum, deren Papyrus man äußerst langsam und mühselig zum Reden bringt, ist die Bibliothek eines Epicureers; also es giebt Hoffnungen für die Aufdeckung ächter Schriften Epicur’s! Ein Stück aus einer solchen ist zB. von Gomperz (in den Berichten der Wiener Academie) entziffert worden: es handelt von „der Freiheit des Willens“ und ergiebt als (wahrscheinliches) Resultat, daß Epicur ein heftiger Gegner des Fatalismus war, aber dabei — Determinist: — was Ihnen Vergnügen machen wird! (Damals trieb ich die Atomenlehre bis hin zum Quartanten des Jesuiten Boscovich, der zuerst mathematisch demonstrirt hat, daß die Annahme erfüllter Atompunkte eine für die strengste Wissenschaft der Mechanik unbrauchbare Hypothese sei: ein Satz, der jetzt unter mathematisch geschulten Naturforschern als kanonisch gilt. Für die Praxis der Forschung ist er gleichgültig.)
Gestern kamen, von Naumann gesandt, die Aushängebogen des zweiten Z<arathustra> an; beim Durchsehen derselben fand ich 4 Druckfehler, welche ich Ihnen mittheile, für die einstmalige Möglichkeit einer zweiten Auflage, welche Sie wohl erleben werden, ich aber nicht! p. 6 oben muß es heißen: Denkbarkeit, nicht Dankbarkeit.
p. 7 ganz unten euch, nicht auch.
p. 38 Rosenhänge, nicht Rosengänge
p. 44 schreien, nicht schreie.
Sonst nimmt sich das Buch gut und reinlich aus. Ich bin noch nicht zu einem objektiven Eindruck des Ganzen gelangt; doch wollte es mir scheinen, daß es einen nicht geringen Sieg über den „Geist der Schwere“ darstelle, in Hinsicht darauf, wie schwer die Probleme, um die es sich handelt, darzustellen sind. Daß der erste Theil einen Ring von Gefühlen umfaßt, der für den Ring von Gefühlen, die den zweiten Theil ausmachen, eine Voraussetzung ist — auch das erscheint mir leicht erkennbar und „gut gemacht“, um wie ein Tischlermeister zu reden. Im Übrigen habe ich alles Schwere und Schwerste noch vor mir. Nach einem ziemlich genauen architektonischen Überschlag des Ganzen giebt es noch ebenso viel als bisher — ungefähr noch 200 Seiten. Gelingt es mir so, wie mir — trotz der fürchterlichsten Gegnerschaft, die ich im Herzen gegen das gesammte Zarathustra-Gebilde mit mir herumschleppe — die ersten zwei Theile gelungen erscheinen, so will ich ein Fest feiern und vor Vergnügen dabei sterben. Pardon!
Wahrscheinlich hätte ich, wenn ich dieses ganze Jahr meine Seele heiter und hell gehabt hätte, aus artistischen Motiven die Farben der beiden ersten Theile dunkler, finsterer und greller gewählt — in Hinsicht auf das, was den Schluß macht. Aber dies Jahr war mir das Labsal heitrerer und luftigerer Farben zum Leben nothwendig; und so habe ich im zweiten Theile beinahe wie ein Possenreißer meine Sprünge gemacht. — Im Einzelnen ist unglaublich Vieles persönlich Erlebte und Erlittne darin, das nur mir verständlich ist, — manche Seiten kamen mir fast blutrünstig vor.
Es gehört für mich übrigens zu den noch räthselhaften Thatsachen, daß ich wirklich in diesem Jahre beide Theile gemacht habe. Ein Bild, das fast in allen meinen Schriften einmal vorkommt „über sich selber erhaben“ — ist zur Wirklichkeit geworden — und — oh wenn Sie wüßten, was hierbei sich selber zu bedeuten hat! Sie denken hundert Mal zu gut von mir, Freund Köselitz! —
461. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Sils-Maria,> Montag.<3. September 1883>
Mein lieber Freund,
nun ist es wieder einmal mit dem Engadin für mich zu Ende: Mittwoch will ich abreisen — nach Deutschland, wo es Mehreres für mich zu thun und abzuthun giebt. Geben Sie, wenn Sie mir schreiben wollen, Ihrem Briefe die Richtung auf Naumburg; da will ich ein wenig mich in den natürlichsten Empfindungen ausruhen und erholen, eingerechnet, daß ich viel schönes Obst essen will. Was mir auch dort fehlen wird, wie es mir überall fehlt — das ist Ihre Musik. Ich glaube, wie Sie meine Sachen vielleicht stärker und unbequemer empfinden als irgend Jemand, so muß ich alles, was von Ihnen kommt, balsamischer empfinden als Andere es können: dies ist ja ein ganz artiges Verhältniß zwischen uns! Vielleicht ist es ein Verhältniß wie zwischen Komödien- und Tragödiendichtern (ich sagte Ihnen wohl einmal, daß Wagner in mir einen verkappten Tragödiendichter sah) gewiß ist, daß ich im Ganzen „epikurischer“ dabei wegkomme als Sie; und so ist es das „Gesetz der Dinge“: der Komödiendichter ist die höhere Gattung und muß mehr wohlthun als jener Andere, ob er es nun will oder nicht.
Dieses Engadin ist die Geburtsstätte meines Zarathustra. Ich fand eben noch die erste Skizze der in ihm verbundenen Gedanken; darunter steht „Anfang August 1881 in Sils-Maria, 6000 Fuss über dem Meere und viel höher über allen menschlichen Dingen.“
Wie die Qual und Wirrsal meines Gemüths auf die Farben der zwei ersten Theile gewirkt haben mag? (Denn die Gedanken und Richtungen waren gegeben) Seltsam, alter Freund! Ich meine allen Ernstes, daß Z<arathustra> heiterer und lustiger ausgefallen ist als er sonst ausgefallen sein würde. Ich könnte dies beinahe „aktenmäßig“ beweisen.
Andererseits: ich würde lange, lange, lange nicht so tief gelitten haben und leiden, wenn ich nicht in den 2 letzten Jahren fünfzig Mal Motive aus meiner Einsiedler-Theorie auf die Praxis übertragen hätte und aus den schlimmen, ja schauerlichen Folgen dieser „Praktik“ zum Zweifel an mir selber getrieben worden wäre. Dergestalt hat Z<arathustra> sich auf meine Kosten erheitert, und ich habe mich auf seine Kosten verdüstert.
Übrigens muß ich Ihnen, nicht ohne Betrübniß, melden, daß jetzt, mit dem dritten Theile, der arme Z<arathustra> wirklich in’s Düstere geräth — so sehr, daß Schopenhauer und Leopardi nur als Anfänger und Neulinge gegen seinen „Pessimismus“ erscheinen werden. So will es der Plan. Um aber diesen Theil machen zu können, brauche ich selber erst tiefe, himmlische Heiterkeit: denn das Pathetische der höchsten Gattung wird mir nur als Spiel gelingen. (Zum Schluß wird Alles hell.)
Vielleicht arbeite ich inzwischen noch Etwas Theoretisches aus; meine Skizzen dafür haben jetzt die Überschrift
Die Unschuld des Werdens.
Ein Wegweiser zur Erlösung von der Moral.
Der erste Theil Z<arathustra> ist jetzt endlich unterwegs, der zweite fertig gedruckt (ich notire für den Fall einer 2ten Auflage, diese Druckfehler:
p. 6 oben: Denkbarkeit, nicht Dankb./ p. 7 ganz unten: euch, nicht auch/ p. 38: Rosenhänge, nicht Rosengänge/ p. 44: schreien, nicht schreie/ p. 98 Zeile 9: Da, nicht Dann//
Beinahe wäre ich nach Venedig gekommen! Feiern Sie ein Fest dafür, daß es nicht geschehen ist und behalten Sie lieb Ihren Freund
Nietzsche.
462. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz
Naumburg a/Saale, Dienstag. <18. September 1883>
Werthester Herr Verleger,
Zugleich mit der Übersendung des Honorars für den zweiten Zarathustra, welches ich mir jetzt ausbitten möchte, geben Sie mir doch auch wieder einen genauen Rechenschafts-Bericht über meine Ihnen anvertrauten Gelder (ich habe in diesem Jahre noch keinen solchen Bericht erhalten) Bitte, sehen Sie zu, daß das Gewünschte in den nächsten 8 Tagen in meine Hände kommt; denn meines Bleibens hier in Naumburg ist es nur noch kurze Zeit.
Sehr schön wäre es, wenn Sie uns hier einmal besuchen wollten.
Für Ihre letzte Karte meinen besten Dank. Ich wünsche von Herzen, daß mein Zarathustra-Sonnenschein, von dem Sie reden, recht Vielen „einleuchten“ möge; geschieht es aber nicht, so bin ich zum mindesten daran nicht schuld. Es herrscht in dem lieben Deutschland eine allerliebste Verdüsterung aller Himmel: ich will zusehn, mich selber sobald als möglich wieder aus dieser Wolken-Trübsal zu retten.
Mit herzlichen Wünschen
Ihr
Dr. F. Nietzsche.
Mir fehlt die „fröhliche Wissenschaft“ ganz und gar: bitte bitte um ein Exemplar!
463. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Basel, 8. Oktober 1883>
Meine Lieben, ach was für eine Reise! Zwar ergab sich in Frankfurt, daß Overbeck und Frau im gleichen Zuge gewesen waren, aber eine Stunde nach unserm Zusammensein war ich krank. Ich reiste allein weiter und kam bis Freiburg mit größter Mühe. Dort legte ich mich zu Bett: eine Nacht Erbrechens. Am Morgen drängte mich der Lärm im Hause fort nach Basel zu reisen. Da, bei Overbecks, lag ich den zweiten Tag mit heftigsten Kopfschmerzen. Heute besser. Aber bedeckter Himmel und kalt. Sehr angegriffen! Morgen weiter nach Genua. —
Mein Abschied von Euch ist mir diesmal härter angekommen als sonst: auch habt Ihr mir so viel Liebes erwiesen! — Jetzt heißt es alle Kraft zusammennehmen, um nicht die letzte Kraft noch zu verlieren. Ich bin vieler Dinge so müde.
Euer F.
464. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Spezia, 13. Oktober 1883>
Meine Lieben, ich weiß noch immer nicht, wo ich bleibe; Dr. Breiting ist ganz „unabkömmlich“, meine Wohnung in Genua ist bis zum 15ten d. M. noch vermiethet. Aber Genua selber schien mir diesmal unmöglich. Inzwischen habe ich Spezia studirt, es aber auch nicht so gefunden, wie ich’s nöthig habe. Das einzig Sichere ist, daß ich am Meere leben muß: ich kann nicht beschreiben, wie erlösend es mir für Gehirn und Augen vorkommt. Übrigens bin ich immer noch sehr herunter und viel krank; der Norden und all das Nordische hat mir schrecklich zugesetzt! Briefe nach Genua poste restante.
In herzlicher Liebe Euer
F.
465. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Spezia, 13. Oktober 1883>
Mein geliebter Freund, ich möchte Dir, außer meinem Danke für die wohlthuenden Tage bei Euch, irgend Etwas Bestimmtes melden: das Einzige wäre dies, daß die Nähe des Meeres mir unbeschreiblich wohl thut: womit die Negation aller nordischen Pläne noch einmal bestätigt und begründet wird. Ich darf, ich kann nur noch am Meere leben, in Hinsicht auf Gehirn und Augen! — Aber wo! Genua unmöglich, Spezia (wo ich 3 Tage bin) kaum möglich. Briefe nach Genua poste restante, ich weiß nicht mehr, wohin. Dr. Breiting ganz überbeschäftigt.
Dein F. N.
466. An Paul Lanzky in Florenz (Fragment)
<Spezia, kurz nach dem 13. Oktober 1883>
[+ + +] Kommen Sie mit mir nach Murcia oder Barcellona: 220 wolkenleere Tage im Jahre! [+ + +]
467. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Genua, 22. Oktober 1883>
Nun, alter treuer Freund Köselitz, es steht gar nicht gut mit mir: die bösen Anfälle immer schneller hinter einander her, ich erhole mich kaum noch. Seit vielen Wochen konnte ich keinen Brief mehr schreiben; ich hoffe, daß meine Schwester sich bei Ihnen in meinem Namen für Brief und Sendung (Beides gleich lieb und nachdenklich) bedankt hat? In Genua angelangt, nehme ich mir nun vor, den alten Berg zur Gesundheit und Heiterkeit nochmals zu erklimmen. Vielleicht gelingt es mir nicht wieder, und damit wäre Vieles mißlungen. Unterdessen gedenke ich Ihrer wie meines besten Trostes: und Ihnen soll Alles gelingen!
Ihr N.
468. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte).
<Genua, 22. Oktober 1883>
Meine liebe Mutter und Schwester, so habe ich denn wieder in meiner alten Residenz Genua Platz genommen — vorläufig, bis mich Jemand nach Spanien begleitet. Hier will ich schrittweise meine Gesundheit und Heiterkeit wiederfinden, so wie ich es vor 4 Jahren gethan habe: an Energie fehlt es ja nicht. Es steht augenblicklich schlecht: tiefste Erschütterung, Anfall über Anfall. Von Spezia an südlich geht der Scirocco los, deshalb habe ich nun auch den Süden Italiens gestrichen. — Ich habe eine Aufgabe, und keine Zeit mehr zu verlieren. Haltet mir, so viel es geht, unangenehme Eindrücke und Erinnerungen fern und seid in Bezug auf mich guten Muths. Mit dankbaren Grüßen und Wünschen
Euer F.
469. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Genua, 22. Oktober 1883>
Lieber alter Freund, beim Lesen Teichmüllers bin ich immer mehr starr vor Verwunderung, wie wenig ich Plato kenne und wie sehr Zarathustra πλατωνίζει. — Gesundheit unglaublich herunter, aber guter Wille, sie wieder hinauf zu bringen, vorhanden. Ich fand nirgends einen guten Ort für mich und habe mich in’s alte Genua und in’s alte Haus zurückgezogen — hoffentlich um da auch die alte Heiterkeit wieder zu finden, ohne welche ich nichts Gutes-Neues zu finden weiß. Dir und Deiner lieben Frau die Versicherung herzlichen Gedenkens: wir drei haben es noth, tapfer zu sein!
F. N.
470. An Franz Overbeck in Basel
<Genua, 27. Oktober 1883>
Lieber Freund, Teichmüller II ist eingetroffen und ebenfalls der treffliche Cornaro — Wasser auf meine Mühle! Vielleicht stelle ich einmal die eignen Erfahrungen zusammen; ich habe Viel beobachtet und versucht und will auch noch den Lohn davon haben — das bewußte „lange und heitere Leben“. Nicht in Deutschland leben und nicht mit meinen Angehörigen zusammen ist mir freilich ebenso wichtig wie die Martern des Wenig-Essens. Ich bin sehr herunter, die Meerluft erquickt mich unbeschreiblich. Dr. Breiting verordnete mir, zu meinem Triumphe, das von mir zuerst medizinisch verwendete Kali phosphor. wieder; er hat sich von seiner Wirksamkeit bestens inzwischen überzeugt. So bin ich der Erfinder meines eigenen Medikaments. Ebenso bin ich stolz auf meine rationelle Typhus-Behandlung im letzten Winter; und wenn ich noch dieselbe Energie besitze wie vor 4 Jahren, so will ich auch im Ganzen schon wieder Herr meines Leibes und meiner Seele werden und auf dem gleichen Wege (man erzählte mir daß ich unbewußt die Methode angewendet habe, die jetzt in Amerika florirt.)
Von Herzen dankbar
F N
471. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Genua, Anfang November 1883>
Mein liebes Lama, bis jetzt war es elend und ekelhaft, und wenn ich Dir dies schreibe, so will ich damit nicht Dich etwa auffordern, über Recepte nachzudenken, wie mir aufzuhelfen ist. Ich muß mir aufhelfen, Niemand Anderes — und auch mein Recept muß ich finden und mir nichts geben lassen. (Im Gleichnisse zu reden: es muß mir gehen wie mit dem Kali phosphoricum — ich will mein Heilmittel selber erst entdecken. Beiläufig: Dr. Breiting wendet es seitdem mit „entschiedenem Erfolge“ an —) Von der Schwere der Aufgabe, die auf mir liegt, hat Niemand eine Vorstellung; und wenn Jemand sich dieselbe etwa unter der Form einer litterarischen Arbeit, z. B. dem Fertigmachen meines Zarathustra denkt, so macht mir das beinahe Übelkeit und Lach- oder Brechreiz — so „zwider“ ist mir alle Litteratur-Macherei; und der Gedanke, zuletzt gar unter die Schriftsteller gerechnet zu werden! gehört zu den Dingen bei denen es mich schüttelt. Lies, meine liebe Schwester, recht viel in „Morgenröthe“ und „fröhlicher Wissenschaft“, den inhalt- und zukunftsreichsten Büchern, die es giebt —; in Deinen letzten Briefen war Mancherlei über „egoistisch“ und „unegoistisch“, was nicht mehr von meiner Schwester geschrieben sein sollte. Ich unterscheide vor Allem starke und schwache Menschen — solche, die zum Herrschen und solche, die zum Dienen und Gehorchen, zur „Hingebung“ berufen sind. Was mich an dieser Zeit anekelt, ist die unsägliche Schwächlichkeit Unmännlichkeit Unpersönlichkeit Veränderlichkeit Gutmüthigkeit, kurz die Schwäche der „Selbst“-sucht, die sich gar noch als „Tugend“ drapiren möchte. Was mir bisher wohlgethan hat, war der Anblick von Menschen eines langen Willens — die Jahrzehnde lang schweigen können und sich nicht einmal deshalb mit moralischen Prunkworten aufputzen —, etwa als „Helden“ oder „Edle“, sondern die ehrlich sind, an Nichts besser zu glauben als an ihr Selbst und ihren Willen, dasselbe den Menschen einzudrücken* für alle, alle Zeit.
Pardon! Was mich an R<ichard> W<agner> anzog, war dies; insgleichen lebte Schopenh<auer> nur in einem solchen Gefühle.
Und nochmals Pardon, wenn ich hinzufüge, daß ich ein Wesen solcher Art voriges Jahr gefunden zu haben glaubte, nämlich Frl. S<alomé>; ich habe sie für mich durchgestrichen, als ich endlich fand, daß sie nicht mehr wolle, als es sich auf ihre Weise behaglich zu machen, und daß die prachtvolle Energie ihres Willens nur auf ein so bescheidenes Ziel gerichtet sei — kurz daß sie darin zur Gattung Rée gehört. (Ich will noch der Billigkeit wegen hinzufügen, daß sie ebenso wie Rée eine für mich sehr anziehende Eigenschaft besitzt, nämlich in Bezug auf sich, die Motive ihres Handelns usw. von einer vollkommenen Schamlosigkeit zu sein. Weißt Du, es leben vielleicht in jedem Zeitalter kaum 5 Menschen, die diese Eigenschaft haben und zugleich Geist genug, um sich ausdrücken zu können. (Zu ihnen gehörte Napoleon.)
Ich weiß vielleicht besser als irgend Jemand auch noch unter den starken Menschen Rangordnungen zu machen nach der Tugend; so gewiß unter den Schwachen es noch hundert Arten und sehr artige und liebenswürdige giebt — gemäß den Tugenden, die den Schwachen zukommen. Es giebt starke „Selbste“ deren Selbstsucht man beinahe göttlich nennen möchte (z. B. die Zarathustra’s) — aber jede Stärke ist schon an sich etwas für den Blick Labendes und Beseligendes. Lies Shakespeare: er steckt voll solcher starker Menschen, roher harter mächtiger Granit-Menschen. An diesen ist unsre Zeit so arm - - - und nun gar an starken Menschen, die Geist genug hätten für meine Gedanken!
Taxire also den Verlust, den ich in diesem Jahre erlitten habe, nicht zu niedrig. — Du kannst Dir nicht denken, wie einsam und „verborgen“ ich mir immer unter all der liebenswürdigen Tartufferie jener Menschen vorkomme, die Du „Gute“ nennst: zB. Malvida oder auch Schücking’s, Heinze’s, Seydlitzens usw. usw. und wie es in mir mitunter schreit nach einem Menschen, der redlich ist und reden kann, sei es selbst ein Scheusal, wie Lou. Natürlich wären mir Halbgötter zur Unterhaltung erwünschter. — —
Nochmals Pardon, ich schreibe Dir dies aus dem allerherzlichsten Herzen und weiß wahrhaftig wie herzensgut Du es mit mir meinst. — Ah diese verfluchte „Einsamkeit“!
FN.
Stein ist zu jung noch für mich, den würde ich verderben. Köselitzen hätte ich beinahe verdorben — ich habe 1000 Rücksichten gegen ihn nöthig.
Sende mir unter Kreuzband poste restante den Gsell-Fels (60 Tage Italien) — Ich sende Dir nächstens Paraguay-Thee. Zum 16. November sende einen Zarathustra II an Overbeck. — Lorentz in Leipzig hat doch die Rhein.-Museums? —
Die besten Grüße meiner lieben Mutter.
472. An Malwida von Meysenbug in Rom
<Genua, Anfang November 1883>
Meine hochverehrte Freundin,
es ist mir inzwischen schlecht, recht schlecht gegangen, und meine Reise nach Deutschland war schuld daran. Ich vertrage es nur noch, am Meere zu leben; alle binnenländische Luft depotenzirt bei mich Nerven und Augen auf die entschiedenste Weise und bringt in kurzer Zeit Schwermuth und Mißtrauen in mir zum Vorschein — häßliches Unkraut, mit dem ich schon mehr im Leben gekämpft habe als mit Schlangen und anderen berühmtern Unthieren. Im kleinen Elend steckt unser gefährlichster Feind; das große Leid vergrößert.
Aber nun bin ich wieder einsam — und die Wahrheit zu sagen, ich war noch nie so einsam. Alle Erlebnisse der letzten Jahre haben mich immer dies Eine gelehrt: es giebt Niemanden, der Willens ist mit mir meinen Weg zu gehn — es sieht noch Niemand diesen Weg — —
Dies ist ein großes Leid, und wahrhaftig, ich fühle es bereits: es hat die Kraft, zu vergrößern. —
Denken Sie, daß ich sofort nach Spezia gereist bin, als ich hörte, Sie seien dort. Aber es war zu spät.
Noch habe ich mich nicht für den vorzüglichen Aufsatz des Frl. Jacobson über Stecchetti bedankt: bin jetzt über diesen Dichter völlig aufgeklärt und will nichts mit ihm zu thun haben. Diese Italiäner sind so abhängig und halten ihre Ohren so nach Frankreich und Deutschland hin! — wie in ihrer Politik. Nur in der bösartigen Satire sind sie original und wahrhaft zu bewundern: aber was ist mir sonst dieser „Mussetisme“, wenn mir selbst Musset nicht gar zu viel bedeuten will? —
Nun habe ich noch eine Bitte auf dem Herzen. Es sind Briefe an mich nach Rom abgegangen, zum Beispiel von Jacob Burkhardt, Gottfried Keller und Anderen, — diese Briefe möchte ich nicht einbüßen. Durch ein Versehen tragen alle diese Briefe an mich folgende Adresse: via Polveriera 4, secondo piano. Wollen Sie gütigst einmal in dem angegebenen Hause darnach fragen lassen? Oder, eventuell, auf der Post? —
Ihre letzten Nachrichten klangen betrübend, und inzwischen erfuhr ich auch noch, was für Sorgen Sie in der nächsten Nähe
gehabt haben. Meine herzlichsten Wünsche sind immer um Sie und nicht weniger meine allerergebenste Dankbarkeit: aber ich möchte viel lieber einmal etwas für Sie thun, und nicht bloß für Sie fühlen!
Ihr Nietzsche.
Genova, Salita delle Battestine 8 (interno 5)
473. An Franz Overbeck in Basel
<Genua, 9. November 1883>
Mein lieber alter Freund, möge Dir ein gutes Jahr beschieden sein! Oder vielmehr: ich glaube, Du wirst es haben, so wie Du es verdienst: denn zuletzt erlebt man immer nur seine Erlebnisse, oder noch genauer: sich selber. Jedes Mal, daß ich mit Dir zusammenkam, hatte ich meine innerste Freude an Deiner Ruhe und milden Festigkeit; und ich bin nachgerade dahin gekommen, nichts höher zu schätzen als einen langen Willen, für den zehn Jahre nicht viel bedeuten, und wenn es selber zehn Jahre des Schweigens sein sollten. Ich habe Dir seit Deinem letzten Geburtstage, an dem wir in Basel zusammen waren, viel Unruhe gemacht und vielleicht auch manchen Zweifel: trotzdem glaube ich, Du weißt jetzt besser als vor 12 Monaten, daß ich einen Steuermann in mir trage, auf den Verlaß ist, daß er mancherlei Thorheiten des Kapitäns zuletzt wieder gut macht und ausgleicht — eben auch einen langen und bisher noch sehr schweigsamen Willen. —
Meine Schwester hat den Auftrag, Dir zum 16 Nov. den zweiten Theil Zarathustra’s einzuhändigen — lies ihn als einen zweiten Theil von vieren dh. verstehe, daß Mancherlei darin erst im Sinne des Ganzen seine Nothwendigkeit bekommen wird. Im Übrigen wirst Du wissen, wie unsäglich fern ich mit diesem Z<arathustra> von allem eigentlich Litterarischen bin. Es handelt sich um eine ungeheure Synthesis, von der ich glaube, daß sie noch in keines Menschen Kopf und Seele gewesen ist. Bringe ich sie so an’s Licht, wie ich sie auf Augenblicke vor mir gesehn habe, so will ich ein Fest feiern und sterben. —
Es geht, wie ich leider melden muß, betrüblich genug. Anfälle über Anfälle, jeder Tag eine Krankengeschichte und manche Stunde, wo ich mir sage: „ich weiß mir nicht mehr zu helfen“. Jetzt erst merke ich ganz, wie arm und abgeschnitten von äußeren Begünstigungen mein Leben nun eine ganze Reihe von Jahren hingerollt ist — jetzt wo die stille Hoffnung mich verlassen hat, daß diese Erleichterungen und Begünstigungen zu mir kommen müßten. Ich bin fortwährend noch wüthend darüber, sobald mir einfällt, daß mir ein Mensch fehlt, mit dem ich über die Zukunft der Menschen nachdenken kann — wirklich, ich bin durch die lange Entbehrung von zu mir gehöriger Gesellschaft inwendig ganz krank und wund. Nichts kommt mir zu Hülfe, Niemand denkt sich etwas aus, das mich erheitern und erheben könnte, es will sich nichts dazwischen stellen und mich von all den beschimpfenden Eindrücken erlösen, mit denen mich die letzten Jahre überhäuft haben. Ich bin an den Augen viel gehinderter als sonst, es giebt so viel Zeit, wo mir die Einsamkeit zur Last wird. Dazu will es mit Genua durchaus nicht mehr gehen, es lärmt zu sehr und hat seine Spaziergänge in gar zu großen Entfernungen. Ich merke, man kann nichts zum zweiten Male thun. Um zu genesen, brauche ich neue erstmalige Eindrücke. Von Menschen hier habe ich gar nichts; Breiting sehe ich etwa alle 8 Tage auf 5 Minuten, er ist mit Zeit und Kopf vollkommen in Anspruch genommen. Im Grunde thäte mir nichts so noth als Menschen (also z. B. Rom): aber die andre Thatsache ist, daß ich es nur am Meere noch aushalte. — — — —
Denkt freundlich an mich, Du mit Deiner lieben Frau (was macht ihr Übersetzungs-Project?) zumal wenn Ihr gute Musik zusammen spielt!
Von Herzen Dein Freund
Nietzsche.
474. An Heinrich Köselitz in Venedig
Nice (France), rue Segurance 38 IIDienstag, im Anfang <4.> December. <1883>
Ach, lieber lieber Freund, eben erst kommt Ihre Karte in meine Hände, es macht mich unglücklich, wie spät! — und namentlich, daß ich Genua verlassen habe und, nach längerem Zweifel, mich vorgestern für diesen Winter in Nizza festgesetzt und festgebunden habe! Im Jahr 220 vollkommen reine Tage — das entschied zuletzt: die Wirkung dieser herrlichen Lichtfülle auf mich sehr gequälten Sterblichen (und oft so Sterbenslustigen —) grenzt an’s Wunderbare. Ich habe hier für die sechs Winter-Monate fast so viel Himmels-Tage als in Genua für das ganze Jahr. Damit sagte ich der geliebten Stadt des Columbus — etwas Anderes war sie mir nie — Lebewohl; und sie war zuletzt noch rührend-schön in ihrem Oktoberglanze.
Nizza, als französische Stadt, ist mir unleidlich und fast ein Flecken in dieser südländischen Herrlichkeit; aber es ist auch noch eine italiänische Stadt — da, im älteren Theil, habe ich mich eingemiethet, und wenn geredet werden muß, wird italiänisch geredet: dann ist es, wie in einer Genueser Vorstadt.
Freund, ich weiß Etwas, das ich Ihnen nicht verschweigen will. Eine deutsche Dame wünscht Pensionäre zu haben, in einer neu eingerichteten Villa (bestens eingerichtet und warm — wie ich bezeugen kann); und da sie diesmal anfängt, so hat sie einen unglaublich niederen Anfangs-Preis für diesen Winter gemacht (90 frs. für Zimmer und Kost). Es ist nicht nahe bei mir, sondern ein Halb-Stündchen weit; ungefähr die ganze Promenade des Anglais liegt dazwischen. Gesetzt aber, Sie wollten sich dort einlogiren, so wäre der letzte Gesichtspunkt vielleicht sogar in Ihrem Sinne vortheilhaft. — Ich selber zahle 25 frs. Miethe für den Monat; und auch billige Restaurationen giebt es, im Stile Ihrer Panada und der Pariser Etablissements Duval: es ist besser hier leben als in Genua. Wein sehr billig.
Jene Villa liegt still, im Garten; schöne Hügelland-Spaziergänge sind unmittelbar dabei. Das Meer etwa 10 Minuten weit.
Zuletzt, liebster Freund — ich weiß gar nicht mehr zu sagen, wie sehr ich Ihre Musik liebe und sehnsüchtig liebe. Die Zahl der Dinge, die mir ganz und gar wohl thun und die Seele heil machen, ist so klein für mich geworden, oh ich großer Narr!
In herzlicher Liebe Ihr
Nietzsche.
Ein Beweis, daß ich Sie gern in irgend einer Art bei mir haben möchte: ich habe dies Mal aus Naumburg Ihre sämmtlichen Briefe an mich mitgenommen.
FN.
Reisegeld von Genua nach Nizza würde unter meine Obliegenheiten gehören — nicht wahr, alter Freund?
475. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
Nizza (France) rue Ségurance 38 II. <4. Dezember 1883>
Meine liebe Mutter und Schwester,
habt nur Geduld mit mir (auch ich muß sie mit mir haben —): das ist freilich sehr viel verlangt, nicht wahr?
Inzwischen hat sich wenig gebessert, aber doch so viel entschieden, daß ich den Winter in Nizza bleibe. Die lärmende elegante Stadt mißfiel mir Anfangs; zuletzt habe ich aber Manches herausgefunden, was für mich übrig bleibt — stille Wege und italiänische Stadt-Theile, bessere Kost als in Genua und für einen bescheidenen Prinzen, wie ich bin, im Ganzen auch alte Genueser Preise. Es ist eine große Stadt, man kann’s haben, wie man will. Das Wichtigste aber ist, daß es keine Kranken-Stadt ist — viel zu frisch und windig: während es dieselbe Lichtfülle und Zahl der reinen Tage hat, wie jene Krankenorte, an denen ich nicht gehängt sein möchte.
Ich habe gegen Genua diesen Fortschritt gemacht: Genua hat ungefähr im ganzen Jahr so viel himmlisch-klare Tage wie Nizza in seinen 6 Wintermonaten. Von der belebenden, ja förmlich elektrisirenden Wirkung dieser Lichtfülle auf mein ganzes System kann ich keinen Begriff geben; der beständige schmerzhafte Druck auf dem Gehirn, dem ich zuletzt noch in Naumburg verfallen war, ist weg; auch esse ich noch einmal so viel, und der Magen protestirt nicht.
Trübe Tage machen mich auch hier krank. —
Mein Zimmer ist sehr kalt, aber gut für den Frühling. Glücklicherweise bin ich durch die Genueser Winter an schauerliche Winter-Zimmer gewöhnt.
Eben habe ich Köselitz eingeladen, hierher zu kommen; und Herr Paul Lanzky wird wohl einmal noch mein Reisegefährte nach Spanien sein. —
Licht, Licht, Licht — darauf bin ich nun einmal eingerichtet. —
Sagt dem werthen Dr. Ziller den allerschönsten Dank für seine übersandte Dissertation; sie soll, mit Köselitz zusammen, ernstlichst gelesen und überdacht werden. — Seid doch ja recht zufrieden, so gute Musik und einen so guten und interessanten Menschen im Hause zu haben. —
Für Weihnachten muß ich Euch bitten, meine Lieben, Euch etwas von mir zu wünschen und zu bescheeren, wonach Euch das Herz verlangt. Ja nichts senden! Es war mir unmöglich, in Genua die Schwierigkeiten zu überwinden, welche die Absendung des Paraguay-Thees machte; er steht noch in Genua. Wenn Du einmal durch diese Stadt kommen solltest, meine liebe Elisabeth, so empfehle ich folgende Wohnungs-Adresse: Frau Settimia Stagnetti, salita delle Battestine 8 (interno 5) — für Dich wie gemacht. (Monatl. 22 frs).
Hiesige Bekanntschaften gäben zu erzählen: ein preußischer General mit Tochter, die Frau eines indischen Fürsten Lady Memet Ali mit Töchterchen, ein prachtvoll köstümirter Perser, mein Tischnachbar, auch eine alte Baslerin, eine alte schwäbische Pfarrerin und Russen Engländer etc. — alles spricht aber deutsch und ist gegen mich artig. (Übrigens lauter honette Leute.)
Adressirt für gewöhnlich nach Villefranche-sur-Mer poste restante
Von Herzen
Euer F.
475a. An Franz Overbeck in Basel (Entwurf)
<Nizza, Anfang Dezember 1883>
Overbeck
Genua war eine ausgezeichnete Schule harter einfacher Lebensweise für mich — ich weiß jetzt, daß ich wie ein Arbeiter und Mönch leben kann. Zuletzt war ich dort zu bekannt — und ich konnte nicht länger leben wie ich wollte.
Nizza ist groß genug, es versteckt mich.
-
Ich ahnte daß ich von dem Augenblick an, wo ich mein Ideal zeigen würde, ich ganz allein sein würde. Nun weiß ich es. Es gab zuletzt noch die härteste Illusion.
-
Sodann ist Deutschland und die Wirkung durch Universität für mich jetzt ein überwundener Standpunkt — überhaupt das Leben und Wirken im Norden
Nizza ist eine Dauerstation für mich.
Farbe der Wand
Piano
Der Salon
Kinder
Mücken
Der Monat in Genua war kritisch, ich hatte Zustände die von Desperation reden — ich wußte nicht wo aus noch ein. Jetzt glaube ich, ist Vieles wieder klar und bin ich mit den 2 letzten Jahren zufrieden — wegen dieser ungeheuren Klarheit.
Genua war überdieß von Anfang an für mich die Stadt Eines Menschen, des Columbus. Nun habe ich selber ein neues Land entdeckt — in allen guten Stunden glaube ich es. Ich muß es mir nur noch — erobern
476. An Franz Overbeck in Basel
Nizza (France) 38 rue Segurance(im zweiten Stock.)<6. Dezember 1883>
Mein lieber Freund Overbeck,
habe nur noch Geduld mit mir wie bisher! Nach meinen guten Stunden und Minuten gerechnet — seltenen Dingen! das ist wahr — bin ich einer der beneidenswerthesten Sterblichen, und jetzt mehr als je. Zwischen inne liegt Vieles, was an Verzweiflung grenzt und dessenthalben ich Deine Geduld mit mir haben muß — das ist auch wahr. In jenen guten Stunden aber weiß ich, daß ich nicht umsonst jahrelang die einsamste aller Meer-Fahrten gemacht habe: ich habe mein „neues Land“ entdeckt, von dem noch Niemand etwas wußte; nun muß ich’s mir freilich immer noch, Schritt für Schritt, erobern. —
Von allen guten Dingen, die ich gefunden habe, will ich am wenigsten die „Fröhlichkeit des Erkennens“ wegwerfen oder verloren haben, wie Du vielleicht angefangen hast zu argwöhnen. Nur muß ich jetzt, mit meinem Sohne Zarathustra zusammen, zu einer viel höheren Fröhlichkeit hinauf, als ich sie je bisher in Worten darstellen konnte. Das Glück, welches ich in der „fröhlichen Wissenschaft“ darstellte, ist wesentlich das Glück eines Menschen, der sich endlich reif zu fühlen beginnt für eine ganz große Aufgabe, und dem die Zweifel über sein Recht dazu zu schwinden anfangen. Lies mir zu Liebe doch noch ein Mal Seite 194 und das Gedicht auf der folgenden Seite; übrigens steckt das ganze Buch voll solcher Stellen, an denen ausgedrückt ist „die Stunde ist da! Machen wir uns vorher noch ein kleines Fest mit Singen und Springen!“ —
Das eigenthümliche Unglück des letzten und vorletzten Jahres bestand im strengsten Sinne darin, daß ich einen Menschen gefunden zu haben meinte, der mit mir die ganz gleiche Aufgabe habe. Ohne diesen voreiligen Glauben würde ich nicht in diesem Maaße an dem Gefühle der Vereinsamung gelitten haben und leiden, wie ich es that und thue: denn ich bin und war darauf vorbereitet, allein meine Entdeckungsfahrt zu Ende zu führen. Aber sobald ich nur einmal den Traum geträumt hatte, nicht* allein zu sein, war die Gefahr fürchterlich. Noch jetzt giebt es Stunden, wo ich nicht weiß, mich selber zu ertragen.
Das andre Unglück war: ein ungewöhnlich trübes Wetter im vorigen Winter, ebenso wie im letzten Sommer. Ich bin auf Licht eingerichtet: — es ist beinahe das Einzige, was ich absolut nicht zu entbehren und zu ersetzen weiß: Lichtfülle eines heiteren Himmels. Mit Genua habe ich’s darin überhaupt nicht gut getroffen: jetzt erst fand ich die statistische Angabe, daß Genua im ganzen Jahre nicht viel mehr reine Tage hat als Nizza in den sechs Winter-Monaten: worauf ich umgehend mich nach Nizza aufmachte. Bin ich erst des Spanischen mächtig, so geht es weiter nach Valencia, etwa im nächsten Winter. Ein Mensch, so bescheiden wie Dein Freund in Wohnung und Kost und Kleidung, lebt überall leicht und billig. —
Es geht mir jetzt besser. —
Herzlichsten Dank für Deinen Brief und Deine Gefühle für mich — ich will zusehn, daß ich Dir und Deiner verehrten lieben Frau nicht wieder solche Noth mache, wie zuletzt.
Dein Nietzsche.
477. An Franz Overbeck in Basel
Nice, vallon St. Philippe, Villa Mazzoleni<24. Dezember 1883>
Lieber alter Freund,
wie wohl that mir Dein Brief! — Nun nimm mit mir fürlieb auch in das neue Jahr hinein, das vor der Thüre steht — ich bin dieses alten sehr müde, und wenn ich heute keinen Klagebrief schreiben mag, so ist es, weil ich’s in diesem Jahre zuviel gethan habe — namentlich aber an Dich, mein lieber Freund!
Mit meiner Gesundheit steht es so, wie vor mehreren Jahren in Basel es einmal stand — ich weiß nicht mehr wo aus, noch ein. Die ungeheure Masse von Gemüthsqualen hat mich in alle Fundamente hinein zu Schaden gebracht. — Nizza ist mir höchlichst zuwider; aber in der Einen Hauptsache, was den reinen Himmel betrifft, übertrifft es wahrhaftig noch meine Erwartungen. Es war ein großes Unglück, daß ich vorigen Winter in der wolkigen feuchtschweren Luft der anderen riviera verbrachte.
Anbei sende ich die verlangte Quittung, mit der Bitte, auf ihr auszufüllen, was noch auszufüllen ist. Lege das Geld nur einstweilen auf die Handwerkerbank, ich will den Versuch machen, bis März mit dem auszureichen, was ich bei mir habe, vom Oktober her. — Deine neueste Finanz-Operation zu meinen Gunsten verpflichtet mich zu vielem Danke. —
Es giebt einen neuen Menschen, der mir vielleicht zur rechten Zeit geschenkt wird: er heißt Paul Lanzky und ist mir so ergeben, daß er gerne sein und mein Schicksal zusammenknüpfen möchte, sobald es angeht. Unabhängig und ein Freund der Einsamkeit und Einfachheit, 31 Jahre alt, philosophisch gesinnt, mehr Pessimist noch als Skeptiker: es ist der Erste, der mich brieflich anredet „Verehrtester Meister!“ (was mich mit den verschiedensten Empfindungen und Erinnerungen getroffen hat).
Er ist Mitbesitzer des Hôtels (foresteria) in Vallombrosa — und zuletzt wird meine „Philosophie“ noch einmal in diesem alten guten großartigen Winkel sich „ein Nest“ gründen. — Einen Theil des nächsten Jahres werde ich wohl dort, im Paradisino, einsiedlerisch abseits von dem Hotel selbst, zubringen: eingeladen dazu bin ich. — Das Zusammentreffen ist wunderbar: ich hatte mir voriges Jahr solche Mühe um eben dies Vallombrosa gegeben — und wenn Du etwas von meinen Hintergedanken errathen hast, so wirst Du jetzt auch fühlen, wie der Zufall mir entgegenkommt.
Nun wohlan! —
Krank, krank, krank! Was kann die vernünftigste Lebensweise ausrichten, wenn alle Augenblicke einmal die Vehemenz des Gefühls dazwischen schlägt wie ein Blitz und die Ordnung aller leiblichen Funktionen umstößt (ich glaube namentlich die Blutcirkulation verändert)
Sage Deiner lieben Frau, daß ich Emerson wie eine Bruder-Seele empfinde (aber sein Geist ist schlecht gebildet.) Alles Gute uns Dreien!
F N.
478. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Nizza,> 25 Dez. früh. <1883>
Meine Lieben Guten,
nun habe ich alle Eure herzlichen und sorglichen Briefe von Villafranca, auch das prächtige militärische Buch und eben noch den Weihnachtsbrief — da ärgert es mich so, daß mein letzter gestern Abend abgesandter Brief gar nicht zu Eurer fröhlichen Tonart paßt, und daß ich nicht meinen Wurm für mich behalten habe, wie so oft in anderen Jahren. Wahr ist es nun freilich, daß es mir erbärmlich schlecht geht und gegangen ist (die erste Reihe der Tage in Nizza ausgenommen, wo ich wie elektrisirt war); ich glaube daß meine Gesundheit in diesem letzten Vierteljahr so schlimm war wie je in meinen schlechtesten Zeiten; und oft weiß ich nicht mehr wo aus, noch ein. Alles war an mir krank, ich kam alle 2—3 Tage eben Ein Mal dazu essen zu können; dann alle Art Erkältungen (heftigen Schnupfen als kleinstes Übel gar nicht zu rechnen) Ewig Erbrechen, Schlaflosigkeit, schwermüthige Gedanken über die alten Dinge, allgemeines Unbehagen des Kopfes, spitzige Schmerzen in den Augen, daher auch nicht lesen, keine Gesellschaft — denn mein Magen zwang mich nach kurzer Zeit jene bunte Tischgesellschaft aufzugeben. Auch habe ich nie so an der Kälte gelitten, wie hier; die Nächte friert es gewöhnlich. Sonst ist das Wetter prachtvoll und meine stäte tägliche Bewunderung. — Aber ich muß Vieles ändern und besser haben als ich es jetzt habe: sonst ist es vorbei mit Eurem Fritz.
Vielleicht habe ich bald die rechte Hülfe an dem Herrn Paul Lanzky in Florenz, der wie es scheint darauf wartet, mit mir zusammen zu leben; nur kann er jetzt von Florenz nicht fort. Er ist Mitbesitzer des Hôtels von Vallombrosa und hat mir bereits für nächstes Frühjahr Vorschläge gemacht, die ganz schön für Euren Eremiten und Wald-Einsiedler passen. Was den Hochsommer betrifft, so halte ich an Sils-Maria fest: und wenn das liebe Lama hinaufkommen will, so ist das recht und lieb und auch schon von mir mit der Frau Durisch in Aussicht genommen — lieber aber als Frl. Mellien würde ich Frl. v. Salis in ihrer Gesellschaft finden. Freilich, ich kenne weder die Eine, noch die Andre.
Hr. Lanzky ist der Erste, der an mich schreibt „verehrtester Meister!“ — es macht mir ebenso sehr Rührung als Spaaß und Spott, daß ich hierin anfange, zum Erben Wagner’s zu werden.
Ich bin jetzt ganz still untergebracht, die gute Frau Hendschel kocht; ein Spanier, mit dem ich mich italiänisch verständige und der theilnahmvoll für mich ist „come un fratello“ theilt meine Mahlzeiten. Ich habe nun auch ein kleines Öfchen mir ins Zimmer schaffen lassen — und damit, wenn nicht das Vergnügen der Wärme, so doch das des dicken Rauchs.
So! Meine herzlich Geliebten, legt Euch meinen häßlichen Brief von gestern zurecht, so gut es gehn will und bringt mich auf andre Gedanken — Ihr könnt nicht glauben, welche Gemüths-Qualen ich ausstehe, und seit einem Jahre! — ich habe ein sehr verborgenes Leben geführt, es ist mir schwer beizukommen und aufzuhelfen; ich glaube, es ist gar nicht zu errathen, warum ich so leide.
Nun wohlan! Da ist das neue Jahr vor der Thüre. Um des Himmels Willen, nichts schicken! Wir haben hier den Stadt-Octroi — ganz abgesehn noch von der Douane!
Seid fröhlich, wie ich es sein möchte!
Von Herzen dankbar
Euer F.
Schönstes Neujahr für uns Drei!