1883, Briefe 367–478
403. An Franz Overbeck in Basel
Genova, Mittwoch. <17. April 1883>
Lieber lieber Freund, inzwischen habe ich mir Deinen Vorschlag nochmals überlegt und auch den Venediger maestro zu Rathe gezogen. Das Wetter ist herrlich, meine Gesundheit und mein Muth immer im Wachsen: somit hat meine Überlegung einigen Werth. Es giebt viele ängstliche Zeiten für mich, über die ich schwer hinwegkomme; da zweifle ich denn auch am Werthe meiner Überlegungen und Entschlüsse. Sobald Gesundheit und Wetter sich aber aufheitern, gestehe ich mir immer ein, daß ich mit einem äußerst schmerzhaften Leben doch auf ein Ziel lossteure, um dessentwillen es sich schon lohnt, hart und schwer zu leben. Ich bin mir dessen deutlich bewußt: am schlechtesten ist mir immer bisher jedes Beiseitegehen von meiner Hauptsache bekommen, sei es selbst in Gestalt eines Berufs oder des Arbeitens für Andre (— in welche Rubrik, kurioser Weise, mein letzter Sommer und Herbst gehört) Und diesen Winter hat mich Nichts am Leben erhalten als das plötzliche Zurückspringen auf meine Hauptsache: da liegen meine Pflichten, wo ich an mich die schwersten Anforderungen stellen muß, da liegen auch meine Lebensquellen. Lehrer sein: ach ja, es wäre wohlthätig genug jetzt für mich (vorigen Sommer war ich’s noch und empfand, wie gut dies zu mir passe) Aber es giebt etwas Wichtigeres, gegen das gerechnet mir auch ein nützlicher und wirkungsvoller Lehrer-Beruf nur als Erleichterung des Lebens, als Erholung gelten dürfte. Und erst, wenn ich meine Hauptaufgabe erfüllt habe, werde ich auch das gute Gewissen für eine solche Existenz, wie Du sie mir wünschest, finden. —
Aber vielleicht habe ich sie erfüllt?
Inzwischen kam Zarathustra, langsam, Bogen für Bogen, zum Vorschein. Ja, ich lernte ihn jetzt erst kennen! In jenen 10 Tagen seiner Entstehung hatte ich dazu keine Zeit. Wirklich, liebster Freund, es scheint mir mitunter, als ob ich gelebt, gearbeitet und gelitten hätte, um dies kleine Buch von 7 Bogen machen zu können! ja als ob mein Leben damit eine nachträgliche Rechtfertigung erhalte. Und selbst auf diesen schmerzhaftesten aller Winter sehe ich seitdem mit andern Augen: wer weiß, ob nicht erst eine so große Qual nöthig war, mich zu jenem Aderlaß zu bestimmen, als welcher dies Buch ist? Du verstehst, es ist sehr viel Blut in diesem Buche.
Darf ich Dich bitten, mir die 1000 frcs (in französischem Papier, s il [v]Vous plaît!) baldigst zu kommen zu lassen? An meine Adresse, Salita delle Battestine 8 (interno 4) und recommandirt, aber ohne Angabe des Inhaltes.
Sodann bitte ich Dich noch um die Adresse der verehrten Frau Rothpletz in München, der ich immer noch nicht Dank gesagt habe, daß sie mir so tröstlich zum 1 Januar schrieb. —
Herr Dr. Fuchs kann sich gratuliren, daß er einmal im Leben so gütig beurtheilt worden ist, wie von Dir in Deinem Briefe. Ich weiß etwas zu viel von ihm. —
Von Herzen Dir und Deiner lieben Frau zugethan
Dein Nietzsche.
Ich dankte Dir noch gar nicht für Deinen reichen ausführlichen Brief, den ich um so mehr zu schätzen habe als er Dich des Restes Deiner Mußezeit beraubt hat!
Wenn Du doch aus dieser Universitäts-Welt heraustreten könntest! Und zumal aus der schweren Luft der noch mehr verschränkten als beschränkten Basler!
Hier am Meere giebt es genug kleine Städte, wo man halb so billig und dreimal so gesund lebt als in Basel. —