1883, Briefe 367–478
453. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Sils-Maria, Mitte August 1883>
Meine liebe Schwester,
ich schreibe unmittelbar nach Empfang Deines Briefes, der mir wieder Deine für mich wohlwollenden Absichten recht zum Bewußtsein bringt. Es geht in meinem Kopfe drunter und drüber, ich thue wahrscheinlich eine Ungerechtigkeit nach der andern, richte eine Teufelei nach der andern <an>, erreiche unter allen Umständen, daß ich selber dabei zehn Mal mehr leide als irgend Jemand — und wünsche täglich auf irgend eine Weise erlöst zu sein. Ich bin sehr froh, daß ich einige Briefe an Dich — Nachtgeburten — zerrissen habe; aber doch ist mir ein Brief an unsere Mutter entschlüpft, der noch in dieselbe Gattung gehört. Das Schlimme ist, ganz wie letzten Winter, ein mir persönlich im höchsten Grade nachtheiliges Ausnahme-Wetter: ich bin im buchstäblichen Sinne bei bedecktem Himmel und heranziehenden Wolken ein anderer Mensch, schwarzgallig und sehr bösartig gegen mich, mitunter auch gegen Andre. (Zarathustra I und II sind Licht- und Heiterer-Himmel-Ausgeburten, ebenso der Sanctus Januarius. Wer mich nach solchen Dingen beurtheilt, beurtheilt mich hundert Mal zu günstig, à la Köselitz.) Mein eigentliches Recept heißt deshalb immer noch das Thal von Oaxaca in Mexico, welches im Jahre c. 33 betrübte Tage hat, im Übrigen Tag und Nacht reines wolkenloses Engadiner Himmels-Wetter, ca. 220! während Sils im Jahre 80 heitere Tage hat. (die Höhe ist die gleiche wie hier, es ist eine Schweizer-Colonie, die Preise außerordentlich billig)
Andererseits thäte mir ein Bischen Dociren sehr gut: nur habe ich eine gräßliche Erinnerung speziell an die Leipziger Universität — ich bin diesen Empfindungs- und Urtheils-Maaßstäben auf eine fast lächerliche Art entwachsen — oder wie Du’s nennen willst. Die Zukunft der Menschheit — daran zu denken ist mein einziges Labsal, das Gegenwärtige will ich nicht mehr sehn und hören, es erstickt, drückt, quält mich, es macht mich arm und kleinmüthig — — Am wenigsten aber könnte ich jetzt Vorlesungen aus dem Ärmel schütteln, alte noch weniger als neue. Mein allgemeinster Gesichtspunkt ist, daß ich nächstes Jahr hier oben meinen Zarathustra-Schluß mache — der Gedanke daran, wie er mir vorschwebt, macht mich fast schwindeln, die Aufgabe ist ungeheuer schwer und einstweilen weit über das Maaß meiner Kräfte gehend.
Darauf hin will ich diesen Winter leben, mich recht hell und ruhig und fest machen und abwarten, ob ich’s leisten kann.
Mit Overbeck habe ich ein baldiges Zusammentreffen in Schuls in’s Auge gefaßt. Den September will ich mich von hier fortmachen; und wenn Ihr mich sehr lockt, so komme ich doch noch nach Naumburg (Versprechen möchte ich’s nicht, das hängt von meiner bösen Gesundheit, respective vom Wetter ab) Ich muß heitre Menschen um mich haben, in Ermangelung des heitern Himmels. Und ein Bischen geehrt werden und nicht beschimpft und verdächtigt.
Herzlich dankend
Dein F.
Ich will meine Bücher für nächsten Sommer gleich hier Oben in meinem Zimmer lassen.