1883, Briefe 367–478
398. An Franz Overbeck in Basel
<Genua, Anfang April 1883>
Mein lieber Freund Overbeck, ich weiß Deinem guten Briefe nichts zu erwidern als: es geht vorwärts. Mit dem Leben bin ich diesmal noch davon gekommen: nun will ich auch noch mit der Gesundheit davonkommen. — So stand es immer mit meinen Erleb- und Erleidnissen: gesetzt ich halte sie aus, so werden sie mir noch zum Gewinn. Ich bin jetzt viel klarer und entschlossener als im vorigen Jahre, und als sehr sehr gebranntes Kind habe ich eine sehr klare und entschlossene Scheu vor dem Feuer: das will in meinem Falle sagen: Menschenscheu. Selbst in diesem letzten Monate (in Genua), der mich mit 4,5 Menschen bekannt gemacht hat, haben sich meine Erfahrungen wiederholt und bestätigt. Hundertmal habe ich mir gesagt, daß das wesentliche Genesungsmittel in den letzten drei Jahren die Enthaltung von allem Verkehre war. Jetzt ist Genua für mich „verspielt und verthan“. Ich bin stolz genug für ein unbedingtes incognito, selbst in ärmlichen Verhältnissen: aber halb geehrt, halb geduldet, halb verwechselt fühle ich mich wie in der Hölle — dazu bin ich nicht „stolz genug“. — Dein Vorschlag im letzten Briefe ist bei weitem das Acceptabelste von Vorschlägen, die mir neuerdings gemacht sind (Jakob Burckhardt hat mich sehr eindringlich aufgefordert, „Weltgeschichte ex professo zu dociren“ — mit Hindeutungen auf seinen Lebensabend) Aber warten wir erst noch Zarathustra ab: ich fürchte, keine Behörde der Welt wird mich darnach noch zum Lehrer der Jugend haben wollen. Übrigens — was stand diesem meinem Zarathustra im Wege? Eine halbe Million christlicher Gesangbücher! Aber jetzt komme ich bei Teubner an die Reihe (weshalb ich bis zum 25ten des Monats noch hier bleiben werde). — Verhältnißmäßig passe ich sehr gut nach Basel und zu den Baslern (besser als Du, liebster Freund!) Auch hier ist der Basler Dr. Breiting mir bei weitem der zuträglichste Verkehr. (Ich aß gestern mit ihm in seinem Hospital, das er commandirt und besuchte mit ihm die Kranken) Aber das Clima Basels ist mir ganz unmöglich, nach einem halben Jahre bin ich wieder halbtodt. Ich brauche reinen Himmel — sonst gehe ich an meinem gräßlichen Temperament zu Grunde (In allen Lebensaltern war der Überschuß des Leidens ungeheuer bei mir)
Zuletzt: es ist möglich, daß ich mit diesem Winter in eine neue Entwicklung eingetreten bin. Zarathustra ist etwas, das kein lebendiger Mensch außer mir machen kann. Vielleicht habe ich jetzt erst meine beste Kraft entdeckt. Selbst als „Philosoph“ habe ich meine wesentlichsten Gedanken (oder „Tollheiten“); noch nicht ausgesprochen — ach, ich bin so schweigsam, so versteckt! Aber gar als „Dichter"! Meine Philologie habe ich vergessen; ich hätte was Besseres in meinen 20-ger Jahren lernen können! Ach, was ich unwissend bin! —
Im Sommer Wald und Hochgebirge, im Herbst Barcelona — das ist das Neueste. Geheim zu halten!
In treuer Freundschaft
F N.