1879, Briefe 790–922
790. An Louis Kelterborn in Basel
<Basel, Januar 1879>
Edel sei der Mensch, hilfreich und gut
wie der Doctor Kelterborn!
Nein, im Ernste, Sie haben mir die erste Freude ins neue Jahr gebracht, mit dem, was Sie für mich thaten, zu mir sagten und sandten. Ich selber lag mit heftigen Schmerzen krank und bedurfte des Erfreuenden.
Mehr sage ich nicht. Grüßen Sie mit den Worten des ergebensten Dankes Herrn Huber. (Sie wissen, daß er mir schon einmal in diesem Winter eine große Wohlthat erwiesen hat: seiner Musik danke ich die beste Viertelstunde im ganzen Vierteljahr).
Ihr
Fr Nietzsche
791. An Marie Baumgartner in Lörrach (Postkarte)
<Basel, 5. Januar 1879>
Sylvester und Neujahr böse böse Tage für mich. Jetzt geht die Noth des Semesters wieder an, diese Woche bin ich sehr beschäftigt.
Manuscr<ipt> in Schmeitzner’s Händen. Köselitz besorgt wieder die Correctur, wie ich heute durch Schm<eitzner> erfahre (ich kann es mir nicht besser wünschen — und fühle mich erleichtert, Ihnen keine neue Last zumuthen zu müssen.) Sie, Arme Gute, haben schon viel zu viel an meiner Noth mitgetragen!
Treulich
F N.
792. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz
<Basel, 5. Januar 1879>
Ganz einverstanden, ja glücklich: Freund Köselitz macht es besser als irgend jemand! — Also zugleich immer einen Bogen an mich absenden und einen Bogen samt M<anu>s<cript> an K<öselitz> — Ein paar Fehler in der Zählung kommen vor; 2 Zettel haben dieselbe Zahl. Eine Zahl fehlt. — Hier folgen noch 7 Aphorismen: stellen Sie dieselben ungefähr nach 374 (ja nicht später, eher früher!) — So kommen wir in summa über die Zahl 400 hinaus. —
Glück und Heil auf den Weg! F N.
793. An Gustav Krug in Bonn
<Basel,> 6. Jan<uar> 1879.
Du hast mich, mein lieber Freund, dies mal Deinen Geburtstag auf die schönste Weise feiern lassen: denn Deine Musik brachte mich in die Nähe Deiner Seele, wie wohl nichts es sonst vermöchte. Das ist die Meditation eines edlen Gemüths über alles, was ihm das Leben geschenkt hat — und die Arbeit eines vortrefflichen Musikers. Du setztest mich in Erstaunen! — Ich selbst lebe ziemlich ferne von der Musik überhaupt — und muß es wohl.
Behalte lieb Deinen dankbar gesinnten
Friedr. N.
794. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Basel, 11. Januar 1879>
Eure guten Wünsche begrüßten mich schon am Sylvester, ich danke von ganzem Herzen. — Neujahrstag war ein sehr böser Eintritt in’s neue Jahr! Seitdem habe ich alle meine Vorlesungen gehalten: erwarte aber, nach bestimmten Anzeichen, von morgen nichts Gutes. Der Finger ist auch wieder schlimm geworden (Nagelentzündung) Es ist wieder Schneelandschaft und Kälte. — Wollt Ihr noch einmal etwas schicken, so bitte ich, natürlich auf meine Unkosten, um eine nochmalige Wurstsendung, ich bin gar zu sehr zufrieden. — Von Frau Rothpletz bekam ich ein kostbares gebratenes Huhn de Bresse geschickt. Dr Eiser hat sehr schön zu Neujahr gratulirt, ich habe geantwortet. Seydl<itz>’s Adresse ist München Kletzenstrasse 4, I (ich habe seit lange ihm dahin geschrieben) — Allen guten Wünschen und Absichten gute Erfüllung.
In herzlicher Liebe Euer Sohn und Bruder
795. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz
<Basel,> 12 Jan<uar 1879>
Geehrtester Herr Verleger,
der 12te Januar und noch kein Bogen? — Es wundert mich. — Sie wissen, daß Sie einen schwer Leidenden als Autor haben? daß ich Tag für Tag voraus die sorgfältigste Ökonomie über die wenigen verfügbaren — für Kopf und Augen verfügbaren Viertelstunden zu machen habe? daß ich jede Abweichung mit heftigen Anfällen meines Leidens zu zahlen habe? daß mir die Art des Drucks vom vorigen Jahre in peinlichster leidvollster Erinnerung ist? — Ich muß Tag und Stunde wissen, wann die Bogen eintreffen: bitte, sagen Sie dies in der Druckerei und machen Sie, wenn es Noth thut, Strafcontrakte.
Was Sie von Bayreuth schreiben, thut mir weh, Ihretwegen! — Bayreuth liegt unter der Tropen-Zone, scheint es; sehen Sie zu, daß Sie nicht gelb oder gar schwarz dabei werden.
Anbei ein Satz, der aus Versehen nicht abgeschrieben wurde: er gehört in den Abschnitt, der anfängt „das einzige Mittel, welches wir gegen den Socialismus noch in den Händen haben“; nach den Worten „eure lärmende Opern- und Musikbegeisterung:“ muß es heißen:
: endlich eure Frauen, geformt und gebildet, aber aus unedlem Metalle, vergoldet, aber ohne Goldklang, als Schaustücke von euch gewählt, als Schaustücke sich selber gebend: — usw
Dann bitte, fügen Sie noch irgendwo einen meiner „Sprüche“ ein, auf den ich mir etwas zu Gute thue
Was ist Genie?— Ein hohes Ziel und die Mittel dazu wollen.
Und nun möge es Ihnen gut gehen, besser, zehnmal besser als es mir geht, was die Schmerzhaftigkeit des Daseins betrifft, aber gleich gut, wie mir, in Hinsicht auf Ruhe und Sicherheit der Seele.
Ihr ergebener
Friedr. Nietzsche.
12 Jan.
12 Jan.
12 Jan.
796. An Franz Overbeck in Basel
<Basel, vermutlich Mitte Januar 1879>
Seit gestern Abend ein fortgesetzter wüthender Schmerz. Was soll werden! — Kein Colleg. —
F N.
797. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Basel, 18. Januar 1879>
Schlimmste Winterwoche hinter mir! Montag schlecht, Dienstag der Anfall, Mittwoch schlecht, Donnerstag und Freitag neuer sehr heftiger, gar nicht enden wollender Anfall, heute caput und müde. Nun muß es wieder besser kommen, hoffe ich. Aber das Collegienaussetzen ist mir gar zu ärgerlich gewesen. — Wenn Ihr mir etwa nach 2 Wochen noch einmal ein Kistchen senden wollt, so legt doch ein paar große weiße Servietten hinein, ich habe nur 2 und brauche sie viel. — Das Ritschl-buch ist leider nicht viel werth: leer und ziemlich frech. — Die neueste Dichtung von Lipiner „Renatus“ ist greulich unsympathisch, eine Verirrung. — Schmeitzner giebt in einigen Wochen etwas von mir heraus, einen Nachtrag zum letzten Buch, von c. 150 Seiten; es wird eifrig gedruckt, Köselitz (in Florenz) corrigirt wieder. Und nun mit innigem Gruß und Dank: lebt wohl.
798. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz
<Basel, 19. Januar 1879>
Lieber Herr Schmeitzner, Ihr Brief ist sehr gut (wie Sie) und that mir wohl! — Nun treiben Sie die Druckerei an, es muß feurig zugehen! — Hier noch zwei Stücke: sie gehören vor jene Nummer, die den Titel führt: „Tragikomödie von Regensburg.“ —
Etwas ungeduldig, aber ganz der Ihre F N.
Verargen Sie mir auf Bogen 1 ein Paar Textveränderungen nicht! es kommt so viel auf diese principiellen Dinge an.
799. An Heinrich Köselitz in Florenz
Basel, Bachlettenstrasse 11.<22. Januar 1879>
Lieber lieber Freund, so geht es wieder hin und her, zwischen Ihnen und mir, zu meiner allergrößten Freude — die so groß ist, daß ich alle Augenblicke die Größe Ihrer Bemühung vergesse, welche Sie sich wieder meinetwegen auf den Hals geladen haben, Sie Guter! Wenigstens hoffe ich Sie mit meinen Einfällen zu unterhalten — ich glaube, was in diesem Anhange zusammensteht, ist nichts Schlechtes: es wurde größten Theils in einer Höhe von 7200 Fuß über dem Meeresspiegel erdacht und niedergeschrieben. Vielleicht ist es das einzige Buch der Welt, das eine so hohe Abkunft hat. — Nun dürfen Sie spotten! — — — —
Meine Gesundheit ist abscheulich — schmerzenreich, wie früher, mein Leben viel strenger und einsamer; ich selber im Ganzen lebe fast wie ein ganzer Heiliger, aber fast mit den Gesinnungen des ganzen ächten Epikur — sehr seelenruhig und geduldig und dem Leben doch mit Freude zusehend.
Ich weiß es, daß Leopardi in Betreff der Schmerzhaftigkeit es nicht schlimmer gehabt hat als ich es habe. Trotzdem! —
Aber Briefe darf, kann, will ich nicht mehr schreiben. Ich liebe und verehre alles, was von Ihnen kommt, mein trefflicher Freund — und Sie deuten mein Schweigen immer ins Gute. —
Also in Venedig, ungefähr den 22 März des Jahres — so hoffe ich — auf Wiedersehen.
Treulich
F N.
800. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz (Postkarte)
<Basel, 1. Februar 1879>Sonnabend.
Statt neun Zeilen werden es 21—22. Denken Sie sich Zeile 6—14 (auf Seite 63) gestrichen und dafür 21 Zeilen eingerückt. — Nur dies Wort, Verzeihung! ich bin in der schlimmsten Verfassung meiner Gesundheit und weiß nicht mehr, was noch werden soll.
Ihnen ergeben
F N.
Aber nun regelmäßige Sendung!
801. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Basel,> 3. Febr. 79
Meine liebe gute Schwester
Ich bin leider mit meinen Glückwünschen zu spät gekommen, hoffentlich nimmt es unsre gute Mutter nicht übel. Bitte beschwichtige wenn es nöthig sein sollte. Aber ein mehrtägiger Anfall hatte meine Absichten durchkreuzt. — Blühen und duften die Hyacinthen?
Overbeck hat mich bestimmt, die ganze nächste Woche die Collegien auszusetzen. Ich richte mich wirklich sonst zu Grunde. Die letzte Zeit war fürchterlich. Auch an guten Tagen verliere <ich> noch öfters zwei Stunden mit Unbehagen aller Art. Bitte die gute Mutter, daß sie nicht mit andern Menschen darüber redet, daß es mir schlecht geht. Bitte dringend!
Mein Buch hat nichts damit zu thun. Es entstand im August, 7200 Fuß über dem Meere und wurde im September von Frau Baumgartner fertig abgeschrieben. Die Correktur besorgt Köselitz.
Meine Seele ist bei Alledem geduldiger als je, das ist das Beste.
Herzlich der Deine
F.
802. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Basel, 9. Februar 1879>
Gestern das Kistchen mit schätzenswerthestem Inhalte und eben jetzt der Brief vom guten Lama: da will ich gleich antworten, da es heute möglich ist. Drei Tage konnte ich nicht eine Zeile schreiben, wieder sehr schlimm, auch die ganze “Woche schlecht, obschon ich aussetzte. Nun, es muß wieder besser kommen. Das Colleg macht mir aber doch zuviel Nachdenkens nöthig, ich thue sonst rein nichts; nie habe ich einen Winter so ganz im Sinne des Gesundwerdens gelebt; er ist deshalb sehr belehrend für mich. Mit dem Magen ist es glänzend gelungen. Das Kopf leiden nimmt aber zu, die Krampf-erscheinungen (welche mich nöthigen das rechte Auge viele Stunden halb zu schließen) verbreiten sich an den Haupttagen über den ganzen Körper. — Mehr will ich nicht schreiben, ich muß alles abbüßen. Mit herzlicher Liebe und Danke für alles Gute das Ihr mir schreibt und thut, Euer F.
(Alleinsein ist das Allerschätzenswertheste meiner Curmethode, also betrübt Euch darüber nicht! Geht es im Sommer nicht besser, so verlasse ich die Universität)
803. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz (Postkarte)
<Basel, 13. Februar 1879>
Ich war Ihnen böse, werthester Herr Verleger — nach Ihrem Briefe kann ich es nicht mehr sein. Ersparen Sie mir so viel Sie nur können; mein Dasein ist so schon seit Weihnachten in einem unbeschreiblichen Grade schmerzen reich. — In Betreff von Bayr<euth> halten Sie wacker Stand; ich thue es auch, wie Sie wohl sehen — ruhig und milde in der Form: was die Sache betrifft, so strebe ich nach Gerechtigkeit, wie sie auch laute und wie sie in fremde Ohren hineinklingen möge: da lasse ich mich keinen Schritt breit von dem abdrängen, was mir jetzt die Wahrheit über die große Erscheinung der W<agnerschen> Kunst scheint. — Mit Leibeskräften bemühe ich mich, es im Ausdruck zur Vollkommenheit zu bringen: ich elender Patient sinne und zersinne mich bei allen Schmerzen noch — über „Ausdrücke“! Der Mensch ist ein seltsam Ding!!
F N.
804. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Basel, 17. Februar 1879>
Schlimme Woche. Ich verliere die Lust, es im Einzelnen zu erzählen. Wetter war sehr ungünstig. Magen in Ordnung, Lebensweise so besonnen wie möglich. Die Augen reichen aber nicht mehr zum Colleg aus, vom Kopf zu schweigen. (Ich hatte 6 Tage Kopfschmerz, außer wenn ich schlief.)
Wurst wieder vortrefflich. Schönsten Dank für das Hemd. Aber wo die Servietten? (Nämlich ganz alte weiche dicke Lumpen — neue kann ich mir auch hier anschaffen, kann sie aber nicht brauchen) — Auf der Rechnung von Socin steht „roth Flanelle 5 frs. 25 —“ ein Versehen?
Möge es Euch wenigstens recht gut gehen! Bei mir heißt es immer noch: Geduld! Und Geduld zur Geduld!“
In herzlicher Liebe
F N.
Das gute Lama ist gebeten, aus Doudan alle Urtheile über litterarische Dinge gut zu übersetzen. Bitte!
805. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Basel, 28. Februar 1879>
Meine Lieben, seitdem habe ich unbeschreiblich gelitten. Ein 4tägiger und ein 6tägiger Anfall der allerhärtester Art — Erbrechen über Erbrechen dabei (woraus Ihr schließen mögt, wie furchtbar die Schmerzen waren) Ein einziges Colleg hatte ich gewagt — jetzt wieder unmöglich auf eine Woche. — Es thut mir wehe, Eurer schreibenden und spendenden Liebe nicht einmal ordentlich danksagen zu können. — Ich habe vom 22 März an knapp 4 Wochen Ferien. Genauestes über Rehme mir erbittend. Doch werde ich wohl eher nach dem Süden mich wenden. Lebt wohl, ich danke, danke Euch!
F N
806. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz (Postkarte)
<Basel, 28. Februar 1879> Freitag.
Das am Montag Ihnen zugesendete M<anu>s<cript> paßt, wie ich jetzt sehe, nicht in Gang und Stimmung der Schlußpartie des Buchs. Lassen’s wir also weg! Oder was denken Sie?
F N.
Sehr leidend.
807. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz
<Basel, 28. Februar 1879>
Werthester Herr Verleger,
sobald der letzte Bogen gedruckt ist, lassen Sie, bitte!, 4 Exemplare schnellstens heften und senden dieselben an die 4 Nächstbetheiligten
Frau Baumgartner
Herrn Köselitz
Dr. Paul Rée (Stibbe bei Tütz, Westpreussen)
Prof. Dr. Overbeck in Basel.
Mir die fehlenden Aushängebogen so bald als irgend möglich! Ich habe unbeschreiblich wieder gelitten. — Hoffentlich haben Sie an dem Buche einige Freude, zur Entschädigung für manchen Verdruß und Kummer? Von Herzen wünscht das
Ihr ergebenster F N.
808. An Marie Baumgartner in Lörrach (Postkarte)
<Basel, 1. März 1879>
Verehrteste Frau, inzwischen habe ich unbeschreiblich gelitten; auch heute noch bin ich unfähig, mehr zu thun als es Ihnen zu sagen. Nicht einmal danken kann ich: und immer habe ich besondere Gründe, Ihnen danken zu mögen! — ganz abgerechnet, wie dankbar ich Ihnen überhaupt sein muss. Von Herzen Ihrer gedenkend und sich alles dessen freuend, was Sie freut Ihr
treu ergebener
F. N.
Können Sie mir die gelegentl<ichen> litterarischen Urtheile Mérimées aus den lettres à une inconnue übersetzen? —
809. An Heinrich Köselitz in Florenz
Basel den 1 März 1879
Nun, lieber guter hülfreicher Freund, bleibt Ihnen nur noch übrig, an mir selber die Correctur zu machen — in Venedig! Mein Zustand war wieder fürchterlich, hart an der Gränze des Ertragbaren. „Ob ich reisen kann?“ Die Frage war mir oft: ob ich da noch leben werde?
Vorläufiges Programm.
Dienstag den 25 März Abends 7 Uhr 45 komme ich in Venedig an und werde von Ihnen eingeschifft. Nicht wahr? Sie miethen mir eine Privatwohnung (Zimmer mit gutem warmen Bett): ruhig. Womöglich eine Altane oder ein flaches Dach bei Ihnen oder mir, wo wir zusammen sitzen und so weiter.
Ich will nichts sehen als zufällig. — Aber auf dem Markusplatz sitzen und Militärmusik hören, bei Sonnenschein. Alle Festtage höre ich die Messe in S. Marco. Die öffentl<ichen> Gärten will ich in aller Stille ablustwandeln.
Gute Feigen essen. Auch Austern. Ganz Ihnen folgen, dem Erfahrenen. Ich esse nicht im Hôtel. —
Größte Stille. Ein paar Bücher bringe ich mit. Warme Bäder bei Barbese (ich habe die Adresse). —
Sie bekommen das erste fertige Exemplar des Buches. Lesen Sie’s jetzt noch einmal im Ganzen: damit Sie sich als Verbesserer des Buches wiederfinden (und auch mich: zu guter letzt habe ich mir noch viel Mühe gegeben)
Lieber Himmel, vielleicht ist es mein letztes Produkt. — Es ist wie mir vorkommt, eine verwegene Ruhe darin.
Wüßten Sie nur, wie gut und dankbar ich immer von Ihnen denke und spreche! Und was ich alles von Ihnen erhoffe!
Jetzt seien Sie in Venedig mein guter Hirte und Arzt: aber mich quält’s zu denken, daß ich Ihnen wieder viel Mühe mache. Aber so wenig wie möglich Zeit will ich Ihnen nehmen, das verspreche ich.
Von Herzen dankbar
Ihr Freund Nietzsche
— Ich wünsche sehr, reisen zu können, aber glaube noch nicht daran. —
Wohnung für 4 Wochen (c. 30—40 frs.) Ich möchte Venedig daraufhin ansehn, ob ich dort längere Zeit leben könnte (auch sehr billig —), wenn ich doch mein Basler Amt aufgeben müßte.
Ich benutze Ihre Fußtapfen.
Ihr Freund N.
810. An Ernst Schmeitzner in Schloßchemnitz
<Basel, Anfang März 1879>
Dann Exemplare an
meine Mutter und Schwester nach Naumburg
an Hr. Widemann
an Prof. Dr. Rohde in Tübingen
an Prof. Dr Jacob Burckhardt in
Basel
an die öffentl. Bibliothek in
Basel
die genauere Adresse von Prof. Hillebrand in Florenz weiß Herr Köselitz (Lungo d’Arno?)
Baron Seydlitz in München
Kletzenstr. 4. I.
Frl. v. Meysenbug in Roma
3 via della Polveriera
Herrn Herrigs Adresse ist zu erfahren durch die Redaktion der „Blätter für „Litteratur des Auslandes“
Herrn Assessor Gustav Krug
in Cassel
Königl. Eisenbahn-Commission
Herrn Dr. theol. und licent. Eugen Kretzer in
Godesberg bei Bonn
Frau Louise Rothpletz in
Zürich (Haus Falkenstein)
Herrn Dr. Romundt
Gymnasiallehrer in Osnabrück
Herrn Baron Emmerich Du-Mont in Graz.
Alle Adressen bitte ich mit artig-verbindlichen Worten und Anzeichen von des Verfasser’s Ergebenheit zu begleiten.
(N B. für den lieben Herrn Verleger!) man kann darin nicht leicht zu viel thun — — wenn man nämlich als Verleger im Namen des Autors schreibt.
Herzliche Grüße
F N.
Daß Sie mir wegen der „Hadesfahrt“ telegraphirten, werde ich Ihnen nie vergessen. Es ist ein Charakterzug —
Hoffentlich ist Ihnen Alles so recht, wie es jetzt am Schlusse des Buches auf einander folgt.
Ein guter sonniger Tag gab mir den Muth wieder, jene 10 Zeilen drucken zu lassen. Ihr Telegramm drückte das Siegel auf meinen Entschluß —
Für die Geld-Abrechnung und -Sendung meinen ergebensten Dank. —
Nach Venedig möchte ich, will ich — aber es ist verzweifelt unwahrscheinlich, daß ich kann.
Die mitfolgenden Briefbogen sind in die Exemplare einzulegen.
811. An Marie Baumgartner in Lörrach (Postkarte)
<Basel, 3. März 1879>
Verehrte Frau, morgen (Dienstag) Nachmittag will ich versuchen, wenn meine Gesundheit es irgend gestattet, zu Ihnen zu fahren. Eine Tasse Thee? darf ich bitten? (Essen darf ich nicht einen Bissen; dem Zwiebacke muss ich für eine Zeit abschwören)
Das Herzlichste der
guten Freundin.
F N.
812. An Ernst Schmeitzner in Schloßchemnitz (Postkarte)
<Basel, 5. März 1879>
Ein böser böser sinnentstellender Druckfehler (meine Schuld!) quält mich:
Seite 35, Z. 2 von unten muss es heissen:
Opferthier’s (statt: Opfersinns)
Was meinen Sie? Wollen wir „thiers“ darüber kleben oder die ganze Sache schlüpfen lassen? Oder?
Haben Sie das dicke Correctur-Paket bekommen? Und kann Sonntag früh schon ein Exemplar bei mir sein (oder doch Bogen 10)
813. An Ernst Schmeitzner in Schloßchemnitz (Postkarte)
<Basel, 5. März 1879>
Lieber Herr Verleger, es genügt vollständig, (in Betreff des Druckfehlers p. 35, Zeile 2 v. unten) wenn Sie auf den wesentlichsten Freiexemplaren mit Bleistift leicht das Rechte („Opferthiers“) an den Rand schreiben. Wollen Sie mir auch noch diesen Dienst erweisen?
F. N.
(IIte Karte)
814. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Basel, 9. März 1879>
Jetzt Kaltwasserkur, daher eine Erleichterung des Zustandes. Es gab eine Nacht, welche ich nicht zu überleben meinte. Freitag über 8 Tage reise ich ab, über den Gotthard, nach einem warmen und ruhigen Ort: Köselitz der Treffliche, verläßt Florenz und kommt zu meiner Pflege. Für Eure Briefe von Herzen Dank! Ich erwartete täglich einige Bogen Doudan, mein liebes Lama! Verzeihung! Ich habe es nöthig; sage mir bestimmt, ob Du es machen kannst und willst (ich muß mich auf die Übersetzung verlassen können) — Schreibt mir doch über jede einzelne Hyacinthe, mit Namensangabe! Bitte! — Von den Würsten ist die Nr. 4 und 5 mir am liebsten: wie ist die genaue Bezeichnung auf dem Preiscourant? Über Rheme’s Heil-Einfluß auf Kopfleiden wußte auch Overbeck zu erzählen.
Lebt wohl, meine herzlich Geliebten, denkt nur, daß ich bei allem Leiden mich glücklicher fühle als je im Leben.
F N.
Schönstes Wetter.
815. Bescheinigung für Joseph Meyer in Basel
Basel den 10 März 1879.
Daß Herr stud. phil. Joseph Meyer aus Aristau den Vorlesungen mit regelmäßigem und lobenswürdigem Fleiße beigewohnt hat, bezeugt
hiermit
Dr F Nietzsche
Prof. o. p.
Direktor des philologischen Seminars
816. An Heinrich Köselitz in Florenz (Postkarte)
<Basel,> 12 März 1879.
Ein Wort der Liebe und des Dankes für Ihren Brief. Möge immer Gutes zwischen uns und aus uns Beiden wachsen! — Für mich ist Venedig immer noch keine ausgemachte Sache, oft scheint mir, es sei viel zu weit und ich müsse wieder eine eigene Kur mir für die 4 Wochen vorsetzen. — Trotzdem: es ist wahrscheinlich, daß ich komme. (In Betreff meiner Ernährung wünsche ich nichts mit Wirthsleuten zu thun zu haben: sorgen Sie um diesen Punkt gar nicht, lieber Freund!)
Eins der allerersten Exemplare ist unterwegs.
Ich freue mich von Herzen auf Sie!
F N.
817. An Malwida von Meysenbug in Rom
<Basel, 14. März 1879>
Dem lieben allerverehrtesten Fräulein Malvida von Meysenbug.
Friedrich der Schweigsame (der viel zu leiden hat, aber auch viel mehr von Ruhe und Glück zu genießen bekommt als Sterblichen gewöhnlich eingeschenkt wird. — Ich gehe vorwärts, aufwärts, vertrauen Sie mir immer weiter!)
818. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Basel, 14. März 1879>
Geliebtes Lama, das Beste und Billigste ist dies: ganz dünne billige Enveloppes von der Größe eines Buches: offen lassen (nicht zukleben!) und darauf schreiben: Manuscript. Drucksache: groß und deutlich über der Adresse an mich. Eben ein dreitägiger Anfall, es geht heute nur wenig besser. Die verwünschten Vorlesungen! Jede wirft mich um. — Über Rehme bin ich sehr genau in allen Punkten (medizinisch wissenschaftlich) unterrichtet. — Ein Bad für mein Kopfleiden giebt es nicht. Aber ein Ausruhen von mindestens 5 Jahren wäre vielleicht noch zu versuchen (ich glaube an keine Genesung mehr; von der Erschütterung des Gehirns, dem Erlöschen der Augen könnt Ihr Euch keine Vorstellung machen. Weniger als 5 Jahre sei ein Unsinn, meint Overbeck). Freitag über 8 Tage (also heute über 8 Tage) reise ich ab. Herzlichste
Grüße an Euch!
819. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz (Postkarte)
<Basel, 14. März 1879>
Herr Schmeitzner! Herr Schmeitzner! Aus meinen Briefen etwas abdrucken rechne ich zu den großen Vergehungen. Das thut mir so weh, wie wenig Anderes — es ist der gröbste Vertrauens-Mißbrauch. —
In Betreff des Anhangs zum „Anhang“ frage ich nur: anstößig bin ich den Leuten schon; liegt Ihnen als Verleger daran, daß ich ihnen auch noch lächerlich werde? — Mir selbst ist dies gleichgültig, wie jenes. Ich frage, ob Sie Ihren Vortheil dabei haben werden? Zwei unbegreifliche Fehler im Druck, trotz meiner ausdrücklichen Correktur: Der infame Sprachschnitzer „viel sichern“ (für sicherern) und das alberne wahrhaft (für nahrhaft), wodurch die Kraft der ganzen Stelle verdorben ist. — Da haben Sie meinen Kummer und meinen Ärger.
F. N.
820. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Basel, 17. März 1879>
Lieber Freund, es geht mir fürchterlich, ich weiss nicht wie ertragen.. — Keine Vorlesung.
F. N.
821. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz (Postkarte)
<Basel, 18. März 1879>
Eben wieder von den Todten erstanden. — Ich kann also nicht nach Venedig: es geht zu schlecht. — Ein paar Tage habe ich mir alles Gute und Günstige vorgesagt, was ich von Ihnen weiß, um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Sie sind ein Mann der gewagten Maßregeln — das ist auch ein Charakterzug. Möge Ihnen alles günstig ausschlagen! — Für Verleger-Reklame, die einem Buche beigeheftet ist, macht alle Welt den Autor mitverantwortlich und lacht über seine Eitelkeit. So zB. bei E. v. Hartmann. Der Contrast ist bei meinem Buche sehr stark: ich habe nichts sehnlicher als Anonymität gewünscht. — Keine Druckfehlerverzeichnisse. —
Zur Strafe für Sie hören sie dies: Sie haben einen der häßlichsten Sätze, die ich je geschrieben, abgedruckt (ich war, wie ich mich genau erinnere, krank, als ich damals von Sorrent aus meinen Brief über Dr. Rée an Sie schrieb) — Aus dem „Anhange“ zum Anhange erfahre ich, was Sie über mich denken: und dabei habe ich meine Hintergedanken. (Die Inhaltsangaben sind gut gemacht) — Bitte, ein Exemplar hier nach Basel an Herrn Dr. juris Louis Kelterborn. — Große Freude über unsern Freund Widemann!
F. N.
In’s Exemplar von Hr. Widemann möchte ich etwas hineinschreiben.
822. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Basel, 19. März 1879>
Ach, mein lieber hülfereicher und wieder so hülfbereiter Kamerad, wir werden uns nicht sehen, ich kann nicht kommen! Es ist zu schlecht gegangen. Bergluft, Einsamkeit — das soll wieder etwas helfen (man glaubts und hofft’s; ich selber mache die Ferien wie einen Cursus der patienza durch und glaube und hoffe nichts —) Schreiben Sie nicht, bis ich Ihnen mittheile, wohin ich mich verschlagen habe, denn es ist eine Seefahrt, wo der Wind bläst, ich weiß nicht woher? wohin? Ich verliere so viel, Sie nicht zu haben!
Von Herzen Ihr Freund
F. N
823. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Basel, 19. März 1879>
Noch ein schrecklicher Anfall (der zweite im Winter mit Erbrechen), der mich ganz zerknickt hat: ich mußte die Vorlesungen ganz abbrechen. Freitag früh reise ich ab. Wohin? ich weiß es noch nicht. Bis zum Montag oder Dienstag werdet Ihr wohl Nachricht darüber von mir haben. — Die Übersetzung macht mir große Freude, ich werde Nutzen von ihr haben, und ich glaube, nach einiger Zeit wird auch das geliebte Lama sagen, daß sie ihren Nutzen auch dabei finde. Inzwischen bitte ich dringend: vorwärts, vorwärts! — Alle drei Handschriften sind lesbar, am bequemsten die zweite, am wenigsten noch die dritte. Doch darauf kommt es nicht an. Es wird jedes mal ein Fest für mich sein, wenn die Sendung kommt. Unversiegelt mit der angegebnen Aufschrift ist es ganz billig (5 Pfennige, glaube ich)
Der Wurst und Hyacinthenbericht? — Euch Guten Lieben das herzlichste
von Eurem F.
823a. An Paul Widemann in Chemnitz (Widmung)
<Basel, 21. März 1879>
Fließe mir Quell
voll und rein
tief und hell:
so kommen zu Dir
alle guten Geister
zum Stelldichein.
Für Herrn Widemann seinen Freund, geschrieben von F. N. am 21ten März 1879.
824. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Genf, 23. März 1879>
Eure guten Briefe trafen noch vor meiner Abreise ein. Ich bin hier gelandet, allein; ich wagte es nicht mehr, über die Berge zu gehen, es geht zu schlecht.
Auch hier. —
Meine Adresse ist:
Genève (Suisse)
Hôtel de la gare.
In herzlicher Liebe
F N.
825. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Genf, 23. März 1879> Sonntag.
Geliebter Freund, es geht mir nicht gut. Meine Adresse ist:
Genève, Hôtel de la gare
Alles ist trüb und kalt. Die Einsamkeit schwer zu ertragen, der Magen schlecht, der Kopf immer voller Schmerzen.
Das Savoyische Gebirge sah wie ein beschneites Grab aus.
Ein Bad genommen.
Euch Beiden Guten
das Herzlichste von
Eurem Freunde
F N.
826. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Genf, 26. März 1879>
Schreiben Sie mir jetzt etwas, Sie lieber Freund, hierher in meine leidende Einsamkeit.
Genève (Suisse)
Hôtel Riche-mont.
Ich lebe schlecht aber recht — dabei bleibt’s.
Eigentlich sollten wir doch zusammen leben. — Ich denke mir hier und da etwas aus — wenn ich nämlich noch den Muth habe, mir eine Zukunft für mich zu denken. Wo wollen wir den Garten Epicurs erneuern? Seien Sie guter Dinge und freuen Sie sich, der Frühling kommt, gewiss ist er schon in Venedig.
F. N.
827. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Genf, 16. März 1879>Mittwoch.
Schlimm! Es will nicht vorwärts!
Einer der härtesten Anfälle mit vielem Erbrechen. Der Magen immer zerstört.
Ich wohne von jetzt ab am See, nehme Bäder (Duschen)
Adresse: „Genève Hôtel Riche-mont.“
Von Herzen Euer
F.
Es freut sich wieder auf Doudan derselbe.
828. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Genf, 26.März 1879> Mittwoch.
Ich hob schon die Flügel, um heim zu kehren. Inzwischen habe ich das Hôtel gewechselt: ich wohne jetzt am See, „Hôtel Riche-mont“.
Ein Anfall der bittersten Art (mit vielem Erbrechen) — — Immer krank, ganz zerstörter Magen.
Nun, ich will aushalten.
Ich grüsse Euch, meine Freunde
von Herzen
FN.
vielleicht ist ein Brief von Schmeitzner an mich da?
829. An Marie Baumgartner in Lörrach (Postkarte)
<Genf, 29. März 1879>
Verehrte liebe Frau, es geht fort und fort schlimm — auch hier in Genf. Meine Adresse ist: Hôtel Riche-mont. (Eben sagt man mir, dass das Haus vom Maler Diday gebaut ist und dass ich in seinem Schlafzimmer wohne: See, Sonne und Stadt vor mir.)
Eine Stunde vor der Abreise machte ich das geforderte Brandopfer: es that mir wehe. —
Denken Sie meiner mit Ihrem guten Herzen; und vielleicht giebt es dann auch ein Augenblickchen, um an Mérimée zu denken? — Einiges Übersetzte, hierher gesandt, würde mir ein Fest sein.
Ich bedarf der Freude und der Feste, es ist schwer so zu leben. Es grüsst von Herzen
F N.
Genève Hôtel Riche-mont.
830. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Genf, 30. März 1879>
Eure lieben Briefe und Wünsche erfreuten mich gestern Samstag um 4 Uhr. Ich wohne noch im gleichen Hotel (am See, sonnig — schöner und gesünder und heiterer als in Baden-Baden, das mir, wie jeder Ort, wo ich so trübselig gelitten habe, jetzt unzugänglich geworden ist.) Ich nehme Douchen; doch bin ich viel schlimmer daran als voriges Jahr zu gleicher Zeit. —
Bis jetzt mehr Tortur als Erholung. — Wäre ich nur erst des Magens wieder Meister! — Nehmt es nur recht wahr, wie gut es Euch geht! Und vergleicht mein Leben am Abgrunde und unter Dreiviertel Schmerz und ein Viertel Erschöpfung!
In herzlicher Liebe Euer
F.
Ich bleibe hier. Hôtel Riche-mont.
O wieder etwas Doudan, bitte!
831. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Genf, 30. März 1879>Sonntag —
Ein paar Mal, lieber Freund, habe ich die Flügel wieder bewegt, um fort zu flattern: ich war aber selbst dazu zu müde. Vielleicht war’s gut so. Inzwischen habe ich doch meine Wohnung noch einmal gewechselt, wenn auch nur innerhalb des Hôtels. Ich wohne sehr hoch, (5 Stock); schön, gesund, in der alten Wohnung Diday’s, am See. — Mein Leben ist mehr Tortur als Erholung. — Giebt es Briefe von Dr. Rée oder Hr. Dr. Fuchs? Diese sende mir doch. — „Wäre ich blind!“ dieser alberne Wunsch wird mir jetzt eine Philosophie. Denn ich lese und soll’s nicht — wie ich auch nicht denken soll — und ich denke!
Dir und der Deinen das Herzlichste zurück wünschend
Ich bin nicht wenig bei Euren Lesestunden im Geiste zugegen!
F N.
Für mich Einsamen giebt es keine Genesung. — Fontenelle’s dialogues des morts sind mir wie blutsverwandt.
832. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Genf, 3. April 1879>
Ja, lieber Freund, Du hast Recht, und ich würde sofort kommen, hätte ich nur nicht die Basileophobie, eine wahre Angst und Scheu vor dem schlechten Wasser, der schlechten Luft, dem ganzen gedrückten Wesen dieser unseligen Brütestätte meiner Leiden! So glaube ich doch, aushalten zu müssen, wo ich bin: ich habe alle Bedingungen des Badener Aufenthaltes mir allmählich hergestellt, ich lege alle Vernunft in diese Aufgabe, die Ferien zur Gesundheit zu benutzen. Nur darf ich nichts Unmögliches von mir fordern. — Eben von einem höchst schmerzhaften zweitägigen Krankenlager erstanden — Euch herzlich grüßend
833. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Genf, 5. April 1879>
Mit Ihnen zusammen, mit Ihrer Hülfe möchte ich noch manche sittliche und geistige Stufe erklimmen. Einstweilen hier die Devise meiner Wünsche (sogar die landschaftlichen sind eingeschlossen) RGS das bedeutet Ruhe Grösse Sonnenlicht — Alles im Sittlichen und Geistigen, ach womöglich auch Leiblichen!
Ihre Bemerkung über den lago maggiore hat mich wunderbar berührt: Sie haben mich darin so schön errathen. Erwägen Sie mit feinem Herzen und Auge einen kleinen Ort Fariola, zwischen Pallanza und Stresa, dort wo die Simplonstraße an den See stößt.
Ich denke über den Stil nach. Bitte, schreiben Sie zu meinem Nutz und Frommen mir einige Thesen über meinen jetzigen Stil (Sie sind dessen einziger Kenner) — was ich kann und nicht kann, über die Gefahr von Manieren usw. Wir müssen uns helfen, besser zu werden und immer Besseres zu machen.
Ich habe sehr viel zu leiden. Genéve (Suisse) Hôtel Richemont.
In Freundschaft
F. N.
834. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Genf, 1. April 1879>Samstag.
Es geht nicht gut, meine Herzenslieben. — Ich lag 2 böse Tage zu Bett: Erbrechen dazu. Heute ist es schon wieder im Anzuge.
Das Lama macht im Stil Fortschritte, und mir sind die Übersetzungen wirklich nützlich. (Nimm es recht genau, um so größer ist auch Dein Vortheil.) — Ich lebe ganz ähnlich wie in Baden-Baden, aber bin schlimmer daran. —
Von Herzen der Eure. Ich bleibe bis zum 23ten d. Monats hier — wo möglich!
F N.
Den schönsten Dank für Briefe und Wünsche.
835. An Marie Baumgartner in Lörrach (Postkarte)
<Genf, 6. April 1879>
Der Palmsonntag, den ich jedes Jahr mit Kinderempfindungen und einem Kinderverlangen nach neuer Freude verbringe und der folglich alle Jahre mehr ein Tag der Wehmuth wird, brachte mir Ihren Gruß und die Fortsetzung M<érimée>’s — ich bin sehr dankbar für Beides. M. ist ein Künstler ersten Ranges und als Mensch so gewillt, hell zu sein und hell zu sehen: er thut mir wohl. Und Sie haben „unter Schmerzen gemalt“, wie jener Maler in doloribus pinxi unter sein Gemälde schrieb, Sie Arme, Gute! — Nachmittags kam noch ein Brief von Jacob Burckhardt, ein wahrer Palmenzweig und beschämend für mich. Nehmen Sie an meinem Guten Theil, wie Sie es an meinem Schlimmen thun. Nicht wahr, als mitfreuende Freundin?
836. An einen Freund
<vermutlich Genf, April 1879>
Hier, Freund, sind zwei Briefe, die ich hochstelle und welche ich Ihnen versprochen habe — ich fand sie zufällig und schicke sie gleich fort: morgen würde ich sie zufällig wieder verloren haben.
F. N.
837. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Genf, 11. April 1879>
Lieber Freund, wir haben jetzt wieder einen Wunsch gemeinsam: dass Jemand das überreiche Philosophieren des Alterthums über Freundschaft zusammenfasse und wiedererwecke: es muss einen Klang wie von hundert verschiedenen Glocken geben. — An die Zürcher liebwerthe Gastfreundschaft hatte ich für Pfingsten gedacht (falls ich lebe). — Den Hamburger Brief hebe mir auf: er enthält das bestellte Loos, für das ich in Basel noch die Einzahlung gemacht habe. — Ein Brief des Hr. Fuchs wird den Poststempel „Danzig“, einer des Hr. Rée den „Tütz“ tragen. — Ceterum censeo Basileam esse derelinquendam. Ich habe Urtheile aller Stände aus den verschiedensten Gegenden der Schweiz: man stimmt überein, dass Basel eine schlechte drückende, zu Kopfleiden disponirende Luft habe. Ich habe dort nie, seit Jahren, einen ganz freien Kopf, wie ich ihn z. B. hier seit einigen Tagen habe. Sodann: ich vertrage Lesen und Schreiben nur bis zu 20 Minuten. Ergo: Academia derelinquenda est. Was sagst Du?
Von Herzen grüsst
Euer F. N.
Ich bleibe hier so lange ich irgend kann.
838. An Marie Baumgartner in Lörrach (Postkarte)
<Genf, 12. April 1879>
Dankbar alles empfangen. Über Schmeitzners Worte machen Sie sich keine Scrupel! diese sollen anlocken, dass die Besitzer des deutschen Originals auch die Übersetzung kaufen: weiter ist es nichts.
Hoffentlich ist Ihre Gesundheit wieder gekommen. Auch ich habe von der guten Luft bessere Tage gehabt. Ich hasse Basel immer mehr und verlasse es, sobald ich kann, gänzlich.
Möge Ostern mit Sonnengruss und Frühlingsblumen zu Ihnen kommen! Ich bleibe noch ungefähr 10 Tage hier.
Treulich der Ihrige
N.
839. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Genf, 12. April 1879>
Möge Ostern Euch warme Sonnenblicke und die ersten Blumen bescheeren! — wir haben heute Schneefall. Unsre Briefe und Karten haben sich gekreuzt, nicht wahr? — Die Nachricht von dem Tode G<ustav> K<nieling>’s überraschte mich: aber mehr weil ich ihn für zu schwach hielt, so zu enden. Menschen mit schwachem Character und dabei sehr begehrlich (wie er) leben ein allzu elendes Dasein: das Gefühl davon giebt ihnen zuletzt einmal den Muth zum Äussersten. — Ich erfahre nichts, weil ich mir die Zusendung von Briefen verbeten habe. Geht Ms. Doudan schön vorwärts? — Luft und Wasser und Bäder thun mir sehr wohl. Ach das schändliche schädliche Basel, wo ich meine Gesundheit verloren habe und mein Leben verlieren werde! Alle Welt sagt mir, wie ungeeignet es für Kopfleidende sei. Wer giebt mir das Gefühl wieder, mit völlig freiem Kopf mich des Tages zu freuen: (jetzt bin ich zufrieden, wenn er vorbei ist!) Von Herzen grüsst und dankt
Euer F.
(Ich bleibe noch 9 Tage)
840. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Genf, 12. April 1879>(Samstag)
Danke schön, lieber Freund. Ach der arme Dr. Fuchs, mit seinen 36 Klavierstunden! — Sende mir nur den Münchner „Eventuellen“, ich will’s wagen. —
Ich sandte gestern eine Karte an Dich ab. —
Befinden heute nicht gut. Schlechtes Wetter. —
Treulich der Deine.
841. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz (Postkarte)
<Genf, 13. April 1879>(Ostern)
Werthester Herr Schmeitzner, haben Sie mich selber auch mit ein paar Exemplaren bedacht? Ich denke sie in Basel bei meiner Rückkehr vorzufinden; das erste mir zugesendete wurde sofort, als ich es gesehen, verschenkt — es giebt so viele Geschenk-Pflichten. Seitdem habe ich mein Buch nicht gesehen. —
Über die bösen Druckfehler will ich nächstens Herrn Oschatz einige briefliche Wahrheiten sagen. —
Grüßen Sie unsern hochgeschätzten und lieben Freund Hr. Widemann von mir. — Es geht mir nicht gut. — Ich bleibe hier noch eine Woche. Ganz der Ihrige
F. N.
Genève (Suisse), Hôtel Richemont.
842. An Paul Rée in Stibbe (Postkarte)
<Genf, 15. April 1879>
Wenn es Ihnen nur gut geht, lieber lieber Freund! Mir geht es nicht gut, aber ich bin ein alter routinirter Leidtragender und werde meine Bürde weiter schleppen (aber nicht mehr lange — so hoffe ich!) Dafür sollen aber meine nächsten Freunde blühen, gedeihen, reif werden, goldne Früchte tragen: geschieht dies nicht, so wird mir das Leben schwer. Bitte, bitte, mein herzenslieber Freund, seien Sie gesund und siegreich! Und sagen Sie mir ein Wort davon, daß Sie Muth haben! Ich hörte so lange nichts von Ihnen (Eine kleine Sendung welche ich durch Hr. Schmeitzner an Sie besorgen ließ, war im Grunde nur die gleiche Anfrage: geht es Ihnen gut oder erträglich? Und können wir uns nicht zusammenfinden, unter irgend einem Laubdach und in milder Sonne? Für den Spätsommer habe ich an den Lago maggiore gedacht. Vielleicht daß ich die Universität verlassen muß, namentlich der Augen und des Kopfes wegen. Aber immer knüpfe ich im Geiste meine Zukunft mit der Ihrigen zusammen. Lieber, guter Freund, es grüßt Sie treulich
F. N.
Adresse: Basel.
843. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Genf, 18. April 1879>
Darf ich Dich, lieber Freund, bitten, für mich den Anschlag am schwarzen Brett zu machen, genau nach dem Lektions-Katalog, doch mit den Schlußbemerkungen:
„Anmeldungen am Schlusse der ersten Vorlesungen. Anfang Samstag den 26 April, um 9 Uhr, in Auditorium III.“
Ich will nächsten Montag zurückkehren (ungefähr Nachmittags um 5, denke ich) Vielleicht sagst Du der Frau Bessiger ein Wort davon. — Das Wetter seit Samstag höchst ungünstig, sehr kalt, immer Regen. Ich war krank und lag ein Paar Tage zu Bett. — Der Brief aus München war vom guten Seydlitz. — J. Burckhardt schickte mir am Palmsonntag einen Brief, der ein wahrer Palmenzweig war. — Ich bin nun bald wieder der Eure (wäre es nur nicht in dem verfluchten Basel, vor dem ich eine wahre Gespensterfurcht habe!!)
Von Herzen Dein Freund.
844. An Paul Rée in Stibbe (Postkarte)
<Basel, 23. April 1879>
Liebster Freund, eine große Last ist durch Ihren Brief von mir gewälzt, und mehr als das: es hat in mir gejubelt bei der Nachricht von der „Kritik des Gewissens“: wir wunderlichen Halbtodten, die wir doch unsern Karren so vorwärts schieben! (der gute Dämon in uns ist mächtiger als die Krankheit und der Schmerz — wie er auch heißen möge, dieser „gute Dämon“!!)
Und nun, heimgekehrt, finde ich auch Ihren ersten Brief vor! Freund Overbeck hatte mir mehrermals bestimmt geschrieben, es sei nichts von Ihnen angekommen. Und ich hatte eine gräßliche Angst und Argwöhnung. —
Mein Zustand ist eine Thierquälerei und Vorhölle, ich kann’s nicht leugnen. Wahrscheinlich hört es mit meiner akademischen Thätigkeit auf, vielleicht mit der Thätigkeit überhaupt, möglicherweise mit — — usw: aber erst in diesem Falle mit der Freundschaft, liebster treuer Freund!
F N.
845. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Basel, 25. April 1879>Freitag.
Seit meiner letzten Karte ist es schlimm und schlimmer gegangen, in Genf sowohl wie in Basel, wohin ich am letzten Montag zurückkehrte. Anfälle über Anfälle, dort und hier. Bis jetzt außer Stande, Vorlesungen zu halten. — Schieß hat gestern von Neuem die erhebliche Abnahme meiner Sehkraft seit der letzten Untersuchung constatirt. —
Eure inhaltsvollen und wohlgemuthen Briefe trafen mich noch in Genf, ich danke von ganzem Herzen dafür.
F.
846. An Carl Burckhardt in Basel
Basel d. 2. Mai 1879.
Hochgeachteter Herr Präsident!
Der Zustand meiner Gesundheit, derentwegen ich schon mehrere Male mich mit einem Gesuche an Sie wenden musste, lässt mich heute den letzten Schritt thun und die Bitte aussprechen, aus meiner bisherigen Stellung als Lehrer an der Universität ausscheiden zu dürfen. Die inzwischen immer noch gewachsene äusserste Schmerzhaftigkeit meines Kopfes, die immer grösser gewordene Einbusse an Zeit, welche ich durch die zwei- bis sechstägigen Anfälle erleide, die von neuem (durch Hrn. Prof. Schiess) festgestellte erhebliche Abnahme meines Sehvermögens, welches mir kaum noch zwanzig Minuten erlaubt ohne Schmerzen zu lesen und zu schreiben — diess Alles zusammen drängt mich einzugestehen, dass ich meinen akademischen Pflichten nicht mehr genügen, ja ihnen überhaupt von nun an nicht nachkommen kann, nachdem ich schon in den letzten Jahren mir manche Unregelmässigkeit in der Erfüllung dieser Pflichten, jedes Mal zu meinem grossen Leidwesen nachsehen musste. Es würde zum Nachtheile unserer Universität und der philologischen Studien an ihr ausschlagen, wenn ich noch länger eine Stellung bekleiden müsste, der ich jetzt nicht mehr gewachsen bin; auch habe ich keine Aussicht mehr in kürzerer Zeit auf eine Besserung in dem chronisch gewordenen Zustande meines Kopfleidens rechnen zu dürfen, da ich nun seit Jahren Versuche über Versuche zu seiner Beseitigung gemacht und mein Leben auf das Strengste darnach geregelt habe, unter Entsagungen jeder Art — umsonst wie ich mir heute eingestehen muss, wo ich den Glauben nicht mehr habe meinen Leiden noch lange widerstehen zu können. So bleibt mir nur übrig, unter Hinweis auf § 20 des Universitätsgesetzes, mit tiefem Bedauern den Wunsch meiner Entlassung auszusprechen, zugleich mit dem Danke für die vielen Beweise wohlwollender Nachsicht, welche die hohe Behörde mir vom Tage meiner Berufung an bis heute gegeben hat.
Indem ich, hochgeachteter Herr Präsident, Sie bitte Fürsprecher meines Gesuchs zu sein, bin und verbleibe ich in vorzüglicher Verehrung
Ihr ganz ergebener
Dr Friedrich Nietzsche
Professor o. p.
(dictirt)
847. An Paul Widemann in Chemnitz (Postkarte)
Basel. <6. Mai 1879>11 Bachlettenstr.
Sagen Sie mir, lieber Freund, doch ein rasches Wort über Ihr Befinden und etwaige Pläne. —
Ich habe meine Professur niedergelegt und gehe in die Höhen — fast zur Verzweiflung gebracht und kaum noch hoffend. Die Leiden waren zu schwer, zu anhaltend. — Und wissen Sie die Adresse von Freund Köselitz? — Bitte, sagen Sie einen schönen Gruss und Dank an Herrn Schmeitzner, er sandte mir Bücher, Briefe und Geld: er mag verzeihen, dass der Halb-blinde nicht brieflich sich bedankt.
Meine Segenswünsche für Sie.
F. N.
848. An Marie Baumgartner in Lörrach (Postkarte)
<Basel, 7. Mai 1879>
Wollen Sie, verehrte Freundin, dem Leidenden und Scheidenden noch ein halbes Stündchen geben, so kommen Sie morgen (Donnerstag) zu Ihrer Stunde. Ich habe schwer gelitten, alles ist zum Äußersten gekommen, die Professur ist niedergelegt. Ich verlasse in wenig Tagen Basel für immer. Mein Mobiliar ist zu verkaufen. Samstag kommt meine Schwester.
Von Herzen Ihr
F Nietzsche
849. An Elisabeth Nietzsche in Basel (Postkarte)
<Wiesen, 30. Mai 1879>Freitag.
Es ist schön hier (Adr.: Wiesen, Graubünden, Hôtel Bellevue), aber Deinem Bruder geht es schlecht. — Föhn. Ich esse heute nicht zu Mittag. — Wald, wie wir ihn wünschen, giebt es auch hier nicht. Aber wo! — Seit unsrer Trennung war die arme Maschine in schlimmster Verwirrung. Der 70 stündige Anfall, unausstehlich, mit bösem Vor- und Nachtag. Vier Tage gar nicht geschlafen. Heute zum ersten Mal. — Um so schlimmer fühle ich mich heute. — Ein Herr ist außer mir im Hause. (In Zürich war Barometer 751: wir hatten in Bern doch 765. 751 war das Minimum in Europa, nach den Zeitungen) Die Matratze und die Decken verkaufe nicht, übergieb sie gerollt an O<verbeck> zur Aufbewahrung. Auch viell<eicht> mein Eßgeräth. — Ach, liebe Schwester, es muß eben gehen, aber schwer hab ichs. Ich denke an unser Bremgartner Schloßleben mit recht herzlicher Dankbarkeit.
Lebewohl, meine Liebe Gute! F N.
850. An Elisabeth Nietzsche in Basel (Postkarte)
<Wiesen, 2. Juni 1879>Montag.
Ich erhebe mich von einem äußerst schmerzhaften Anfalle. Im Bett bekam ich Deinen Brief, danke für alles von Herzen. — Jetzt aber keine Wurst schicken! Verpflegung hier sehr gut. — Ist von Bremgarten auch die Zahnbürste nachgeschickt worden? In den Koffer lege auch die gestrickten Unterjacken. — Bitte, an Frl. von Bleyleben ein Briefchen, recht herzlich und freundlich, erkläre ihr mit einigen starken Worten den Zustand meiner Gesundheit und meiner Augen, zur Entschuldigung, daß ich ihr eine offne Karte schrieb (ich glaubte schon ein Äußerstes zu thun!) und daß ich jetzt nicht mehr an sie schreibe. Ihr letzter Brief habe mir sehr wohl gethan: ihren Muth solle sie festhalten und die Heiterkeit womöglich dazu gewinnen. — Es ist ein sehr guter Ort: wenn nur erst der verfluchte Föhn aus den Thälern wäre! — Reise ja nicht eher, als bis Du Natalie’s sicher bist! — Danke dem Freunde Ov<erbeck>, sein Brief kam mit dem Deinigen. Der Herr, welcher schon 12 Wochen hier ist, heißt Hirzel (aus Zürich, eigentlich Palermo) Ich freue mich und bin beruhigt, Dich und Niemanden sonst unter meinem Krimskrams zu wissen.
F. N
851. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Wiesen,> Den 4 Juni 1879.
Meine liebe gute Mutter, Du weißt nun von der Entschließung, zu der mein Zustand mich drängte. Das Wesentliche an ihm ist, daß der Kopfschmerz beständig geworden ist (nicht mehr wie früher nur periodisch auftritt), daß aber die Höhengrade desselben periodisch verschieden sind, mitunter fast zum Verzweifeln stark. Ebenso ist es mit den Augen wieder sehr abwärts gegangen. Erwarte also nur selten von mir zu hören, natürlich über alles Wesentliche im Schlimmer- oder Besserwerden. Jetzt bin ich wieder in der Höhe, in guter milder Wald- und Bergluft und habe treffliche Verpflegung. Meine Adresse ist: Wiesen bei Davos, Schweiz
In herzlicher Liebe Dein Sohn
Bitte sende mir jetzt nichts.
852. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
Wiesen bei Davos, Graubünden (Schweiz) <5. Juni 1879>
Einstweilen, Lieber, Guter (dem ich ganz, auch in allen seinen Rathschlägen, vertraue) bin ich in den Fußtapfen Freund 5 Widemanns, nämlich in der Nähe von Spinabad. Höhen- und Waldluft (1450 Meter) — nur eine vorläufige Linderung meines gräßlich und grausam gewordenen Zustandes sollen diese mir geben. Gegen den lido haben nur meine Augen in ihrer jetzigen unglaublichen Reizbarkeit etwas einzuwenden: selbst hier suchen sie noch nach Dunkel. Gewiß, daß wir noch in V<enedig> zusammenleben werden, aber möglicherweise doch erst von Spätherbst an. Falls (Im Fall?) ich lebe — eine Formel die ich Grund habe, allen Plänen anzuhängen. Bis zu dieser letzten Gränze denke ich an Sie und liebe Sie.
F N
853. An Elisabeth Nietzsche in Basel (Postkarte)
<Wiesen, 7. Juni 1879>
St. Aubin ist das Rechte: mir fiel es dieser Tage schwer aufs Herz, daß Groß-Paris sich für Dich in nächster Zeit ganz leeren würde. Also Klein-Klein-Paris muß erst heran. — Von neuem 2 Tage mit bitterbösem Anfalle zu Bett. Es geht schlimm! Denke, erst 2 erträgliche Tage auf der Höhe, von der Art der Bremgartner! Sonst ist alles wie geschaffen, um hier gesund zu werden. — Der Engadin ist mir durch den Überfluß von Deutschen und Baslern fast unbetretbar, das sehe ich jetzt ein (auch sehr theuer). — Koffer noch nicht zu senden, übergieb ihn an O<verbeck>’s. Aber wohl die neuen umgetauschten Stiefeln, bitte — Hr. Landerer ist ein schrecklich zudringlicher Halbverrückter: halte meine Adresse geheim; der Mensch verfolgt mich womöglich, er hat leer und unklar geschrieben. — Hr. Bessiger soll doch ja auf dem Lohnhof melden, „daß ich nicht mehr bei ihm wohne“. Grüße an ihn und seine Frau und Kinder — Nun, meine liebe Schwester, es muß gehen, bei Dir und bei mir!
F.
Das Herzlichste und Wärmste an die hülfreichsten Freunde, die es giebt, Eulerstr.
854. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Wiesen, 8. Juni 1879>
Lieber Freund, eigentlich geht es so schlecht als es nur gehen kann; aber die Moral: „in allen neuen Verhältnissen abzuwarten was draus wird“ hält mich in der Höhe fest. Ort, Haus, Zimmer, Bett, Kost, Pflege alles ist übrigens sehr gut und mir zusagend. (Immermann’s haben sich gestern angemeldet: kannst Du unter der Hand erfahren, wann die „Familie“ einrücken will? Und wer etwa sonst?) — Dein Wink über die regulating-Pillen ist Wasser auf meine Mühle der äußersten Vorsicht: hoffen wir auch hier auf die „Höhenluft“. Bedenke dabei zu Deiner Beruhigung, daß ich jetzt in diesen Dingen „Kenner“ bin, wie irgend ein Arzt und zehnmal behutsamer als z.B. unser treffl<icher> Ma<ssini> (den ich ja ausführlich genug darüber befragt habe!) — — — — — —
Schmerz, Einsamkeit, Spazierengehen, schlechtes Wetter — das ist mein Kreislauf. Keine Spur von Aufregung. Vielmehr eine Art gedankenlosen betäubten Übelbefindens —
Lebt wohl meine lieben Freunde! es denkt Eurer auf das Dankbarste
F. N
855. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz (Postkarte)
(Wiesen bei Davos, Schweiz)<8. Juni 1879>
Lieber Herr Schmeitzner, ich lebe — weh, eine Existenz der größten Schmerzhaftigkeit freilich. Dem Rathe von Freund Widemann folgend bin ich jetzt in Wiesen, beinahe in seinen Fußtapfen dh. in der Nähe von Spinabad. — Ich habe Ihnen noch nicht für die Geld- und Exemplarsendung gedankt! — Es giebt 2 deutsche Übersetzungen von Carey, Volkswirthschaftslehre: senden Sie mir, bitte, diejenige, welche den größten Druck hat. (Sind beide mit kleinen Lettern, so will ich das Buch nicht) — Ist von Taine’s englischer Litterat<ur> der Schluß noch nicht erschienen? —
Und Ihre Meßerfolge? — Gutes und Besseres Ihnen von Herzen wünschend
F N.
856. An Elisabeth Nietzsche in St. Aubin (Postkarte)
Wiesen, Sonntag. <15. Juni 1879>
Es thut mir wohl, Dich nun wieder in festen und reinlichen Verhältnissen zu wissen, meine liebe Schwester. Du hattest Schweres bei der Auflösung meines Haushaltes übernommen, bei der Schilderung der Einzelheiten hat’s mich gegraust. — Der Verehrer! Ach Gott, ich halte alle diese Herrn Verehrer für ein ganz klein wenig dumm und wünsche nichts Weiteres von ihnen. — Eigentlich ist es immer schlimmer gegangen, Du glaubst nicht, wie viel Anfälle, wie viel Zu-Bette-liegen. Freitag will ich nun nach dem Engadin. Adresse: „Campfèr im Oberengadin, poste restante“.
Kös<elitz> hat 2 Bildchen vom Lido geschickt. Er räth aber von einem Winteraufenthalt in V<enedig> ab. — Mit Fr. Baumgartner hast Du es gut gemacht, ich danke sehr. —
Was ist Rée’s Adresse in Nassau? —
Dankbar Dein Bruder.
857. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Wiesen, 15. Juni 1879>
Der Zustand, lieber Freund, hat sich eher verschlimmert. Wie viel war ich zu Bett! usw. Freitag will ich nun nach dem Engadin: ich führe das Programm durch, freudlos und hoffnungsarm. Bitte, sende jetzt den Koffer ab, damit ich ihn vorfinde: „Campfér, Oberengadin, poste restante“
Der liebe K<öselitz> hat 2 eigenhändige Bildchen vom Lido geschickt, er verweist auf einen Brief an Dich, um sich nicht zu wiederholen. — Hr. Dr. Kretzer hat sich nun auch losgesagt, ziemlich gewunden, wie sich denken ließ. — Hr. Schmeitzner berichtet über einen abscheulichen Mißerfolg meines Hauptbuchs (M<enschliches> Allz<umenschliches>), nach der Ostermessen-Abrechnung. Es sind, statt 1000 Ex, wie er erwartet, nur 120 Ex. verkauft. (Er wird wohl daran zu Grunde gehen!) — Fr<eund> Rée, bei sehr schwacher und bedenkl<icher> Gesundheit, sendet doch den Capital-Entwurf seiner Historie des Gewissens.
Ihr habt meiner Schwester so hülfreich und gut beigestanden: sie schrieb jedesmal, daß erst bei Euch und durch Euch ihr Muth und Heiterkeit wiederkäme.
In herzlicher Liebe und Dankbarkeit F. N.
Bitte, bitte, bitte, nehmt den Notenständer aus meiner Hand an, ich bin so glücklich, wenn er Euch nicht mißfällt!
858. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<St. Moritz, 23. Juni 1879>
Meine liebe gute Mutter, nach 3 herzlich schlechten Wochen des Übergangs (in Wiesen) bin ich nun in meinem Sommerasyle angelangt. Die Adresse ist „St. Moritz in Graubünden, Schweiz.“ Bitte, verbirg meinen Aufenthalt vor Jedermann. Sonst muß ich den Ort, der mir so gefällt und bis jetzt wirklich wohl thut, sofort verlassen. Ich vertrage keinen Besuch. —
Deine Karte habe ich mit herzlichem Dank empfangen.
In Liebe Dein Sohn.
859. An Franz Overbeck in Basel
Adr.: St. Moritz in Grau-bünden, poste restante<23. Juni 1879>Montag.
Nur Worte, lieber Freund! Die Gedanken wirst Du suppliren. Vieles Gute kommt und kam von Dir; die Art, wie ich entlassen und ersetzt worden bin, war mir eine rechte Freude. Alles habe ich empfangen. Die Vorschläge betr. das Geld führe aus poste rest. St. M<oritz>. Kannst Du die frs. 1000 viell<eicht> unter Deinem Namen der Handwerkerb<ank> übergeben? Bitte. — Rechnungen habe ich alle bezahlt, 2 ganz kleine ausgenommen (Memel und die goldne Apotheke — willst Du es abmachen?) Mit Hamburg (nach 35 ten Mißerfolg) alle Beziehung abgebrochen. —
Seit meiner letzten Karte die meiste Zeit zu Bett gelegen: dies ein Commentar, zu dem ich mir den Text ersparen darf.
Aber nun habe ich vom Engadin Besitz ergriffen und bin wie in meinem Element, ganz wundersam! Ich bin mit dieser Natur verwandt. Jetzt spüre ich die Erleichterung. Ach, wie ersehnt kommt sie!
Verbirg meinen Aufenthaltsort vor Jedermann, namentlich vor Jederfrau, Deine ausgenommen. (Dafür ist sie eben eine „Ausnahme“ in hundert Stücken)
Rohde hat nicht geschrieben. Was für Scrupel quälen ihn? Giebt es für ihn noch „Scrupel“!
Anbei der liebe Köselitz als Lidograph.
Lebwohl, lieber lieber Freund
F. N.
Von Zürich wirst Du noch Einiges hören. Es hängt so viel Gutes mit Dir zusammen
860. An Elisabeth Nietzsche in St. Aubin (Postkarte)
<St. Moritz, 24. Juni 1879>
Liebe liebe Schwester, vielleicht ist doch St. Moritz das Rechte. Mir ist es als wäre ich im Lande der Verheißung. Ein beständiger sonniger Oktober. Zum ersten Male Gefühl der Erleichterung. Ich wohne ganz für mich und esse im Zimmer (wie in Basel, auch fast dieselben Dinge (nur keine Feigen), fast kein Fleisch: aber viel Milch. Es thut gut. Hier will ich lange bleiben. Aber verbirg ängstlich meine Adresse, sonst muß ich fort.
St. Moritz in Graubünden
poste restante.
Bitte, bitte, schreib für mich an Frl. von Meys<enbug> — mir wirklich unmöglich!
In Wiesen fast immer zu Bett, die letzte Woche
(Die Zeitung an Sch<meitzner> zurück!!)
Schreckl<icher> Mißerfolg Schmeitz<ner>’s mit dem Hauptbuche! (Ich fürchte, er geht zu Grunde)
861. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<St. Moritz, 25. Juni 1879>
Ein ganzer Haufen guter und ernster Dinge liegt in meinem Kopfe bei einander, die alle mit Ihnen, lieber Freund besprochen werden sollten. Was liegt allein zwischen Ihrem Stilbrief, meiner Ostermorgenfreude in Genf — und Ihrer Lidographie! Wie viel Freude haben Sie mir gemacht — und doch sehe ich nicht ab, wann ich im Stande sein werde, mündlich meine Dank- und Gedanken-Rechnung vor Ihnen abzulegen. Einstweilen bin ich in die Höhe hinaufgetrieben und bereit, es mit diesem Versuche ernst zu nehmen. Wollen Sie mir etwas erzählen, so adressiren Sie: St. Moritz, Graubünden poste restante — aber geben Sie Niemandem einen Wink über diese Adresse, ich bitte! — Fast möchte ich fragen, ob Sie, für den Winter, vielleicht selber einmal an das Hochgebirge gedacht haben. — In Basel bin ich entlassen und ersetzt, recht nach meinem Herzen. —
Treulich Ihr F. N.
862. An Elisabeth Nietzsche in St. Aubin
<St. Moritz,> 6 Juli 1879.
Heute morgen wollte ich das Geburtstagsbriefchen schreiben — und siehe, da kommt das Kästchen, und ich bin’s, der zu Deinem Geburtstag beschenkt wird! Das ist sehr drollig! Ich denke es einmal wieder gut zu machen, laß mich nur erst etwas mehr hier zu Hause sein. Bis jetzt weiß ich gar nicht, was man hier haben kann — und ein Windchen von einem Wünschchen hätte ich gern von St. Aubin her! — Also heute nichts als sehr gute treue Wünsche und noch viel mehr Dank für Gegenwart Vergangenheit und Zukunft, meine liebe Schwester. Du hast mir geholfen, wie nur eine sehr brave Schwester helfen kann. — Und heute wieder, alles wie ausgesucht nach meinem Herzen, bis zu dem Waschlappen, da ich Dich um einen bitten wollte. Mir sind die brown college so gemüthlich, könnte man so etwas von Gerste nicht selber einmal backen? Hier sind alle Bäckersachen unbändig theuer: da habe ich mir in Wiesen 150 Zwiebäcke backen lassen. Überhaupt Höhenpreise! Auf meiner ersten Rechnung war jedes rohe Ei mit 20 ct. berechnet.
Trotzdem, St. M<oritz> ist das Rechte für mich. Ich bin viel krank, habe 4 Tage schon zu Bett gelegen, und jeder Tag hat seine Elends-Geschichte — und trotzdem! Ich halte es besser aus als irgendwo. Mir ist als hätte ich lange lange gesucht und endlich gefunden.
An Besserung denke ich gar nicht mehr, geschweige denn an Genesung. Aber aushalten-können ist sehr viel, Du weißt, was ich meine.
Ich wohne ganz allein in einem Hause, und ruhig. Gutes Bett.
Längst wollte ich Dir für den Koffer danken. Alles war recht: über die Manchettes, die ich selbst in Basel nie brauchte, habe ich gelacht.
Stiefeln habe ich hier machen lassen. 19½ frs.
Anbei die Abschrift von der Entlassungsurkunde, Du kannst sie, wenn Du es räthlich findest, auch unsrer Mutter schicken (die heute einen sehr heimatlichen angenehmen Brief schrieb, den ersten nach Bremgarten)
Die Regenz hat auch 1000 fr. jährlich für 6 Jahre bewilligt: also werde ich zusammen 2000 haben; nach welcher Decke ich mich strecken muß.
An Frau Leupold wird geschickt. Durch Frau Rothpletz beziehe ich Lebensmittel aus Zürich, namentl<ich> amerikan<ische> Zunge.
Soviel. Alles über St. Aubin gefällt mir. Ich wünsche von Herzen Dein Wohlergehen im ganzen nächsten Jahr.
Dein getreuer Fritz.
Kannst Du etwas Genaues über R. Wagner’s Winter-Reise nach Neapel erfahren, Zeit, Reiseroute usw — ich möchte jede Art Zusammentreffen verhüten. — Wem Du schreibst, gieb über meine Gesundheit sehr stark die Auskunft, es hätte lebensgefährlich mit mir gestanden und die rationellen Kurmethoden seien erschöpft gewesen. —
Hast Du die Adresse von Pachnike?
863. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<St. Moritz, Anfang Juli 1879>
Meine liebe gute Mutter, ich höre mit Vergnügen durch Deinen gemüthlichen Brief, wie Dein Heimwesen sich hebt und verschönert, und zwar so, wie ich’s gern habe, durch die einfachsten Mittel und allmählich. Der alte Turm am Zwinger spukt mir immer noch im Kopfe, ob da nicht eine Stube für mich einzurichten sei: und dann frage ich, ob überhaupt nicht ein Gärtchen in der Nähe wäre, wo wir all unser Gemüse selber bauen könnten. So viel davon. — St. Moritz ist höher als Rigi-kulm, wo Du warst: Du wirst in der „Schweiz“ eine Abbildung davon gefunden haben, wohl auch von dem benachbarten Pontresina. Wälder, Seen, die besten Spazierwege, wie sie für mich Fast-Blinden hergerichtet sein müssen und die erquicklichste Luft — die beste in Europa — das macht mir den Ort lieb. Aber krank bin ich so viel wie überall, es geht mir so wie im Herbst in Naumburg, jeden zweiten Tag muß ich zu Bett zu bringen. Doch halte ich es hier besser aus, während ich anderwärts, namentlich in Basel, an der Grenze der Verzweiflung war.
An Genesung ist gar nicht zu denken, es ist sehr viel, wenn ich es erträglicher habe.
Ich wohne still, habe gute Milch und Eier.
Mit herzlichstem Gruße Dein F.
Einen Monat später werde ich vielleicht um eine Wurst-Proviant-sendung bitten, ja nicht eher.
St. Moritz/Graubünden, Schweiz
poste restante.
864. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<St. Moritz, 11. Juli 1879>
Lieben Freunde, ich bin hier soviel krank wie überall und habe schon 8 Tage zusammen zu Bett gelegen. Dies ist die Litanei, mir zum Ekel und Euch auch! Trotzdem — St. M<oritz> ist das Rechte, es ist meinen Empfindungen und Sinnesorganen (Augen!) sehr angepaßt und für Patienten zugerichtet. Die Luft fast noch besser als die von Sorrent, auch voller Gerüche, wie ich’s gern habe. Meiner Tageseintheilung, Lebens- und Nahrungsweise brauchte sich kein Weiser des Alterthums zu schämen: alles sehr einfach und doch ein System von 50 oft sehr delikaten Rücksichten. Ich bin erstaunlich diesmal mit der Inscenirung zufrieden, aber das Stück taugt nichts — ich selber. — Die Kreuzbandsendung an Hr. Pachnike ist verloren gegangen. — Herzl<ichen> Dank für das Geld: ich hatte glücklicherweise einen Paß bei mir. — Ich wünschte, Du dächtest Dir für den Herbst einen Ausflug nach St. M<oritz> aus, zusammen mit Deiner lieben Frau; ich kann mir nämlich nicht denken, daß Ihre neulich so bestimmt erklärte Abneigung gegen St. M<oritz> unbesiegbar ist. Ich will nicht zu viel versprechen, weil wie gesagt, ich zu persönlich den Ort gern habe: aber ich glaube, eines Versuches ist er werth. — Das Allerherzlichste und Wünschenswertheste! Und Dank!
865. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<St. Moritz, 12. Juli 1879>
Wenn ich einige Worte recht deute, so geht das Werk des Schweigsamen seinem Ende entgegen? Das macht mich ganz glücklich; für mich ist Venedig Ihre Brütestätte und deshalb von hundert guten Wünschen und Segnungen bedacht. Der Lido, an dem Goethe zum ersten Male das Meer sah (— in „Schopen<hauer> als Erz<ieher>“ habe ich Worte G<oethe>’s citirt, die eine Lido-Entzückung aussprechen —) scheint auch Ihnen Entzückungen gegeben zu haben. Inzwischen habe ich meine Art Natur gefunden, so daß ich erst merke, was ich seit Jahren entbehrt habe, wie arm ich auch darin war. — Ihre Gedanken über Männlichkeit beschäftigen mich. — Die „Gesundheit“ wie überall und immer! Aber St. M<oritz> ist das Rechte. Dieselbe Adresse
866. An Elisabeth Nietzsche in St. Aubin (Postkarte)
<St. Moritz, 12. Juli 1879>Samstag.
Von meinen Winter-Projekten erfährt Niemand etwas, außer Dir. Am liebsten wäre mir Neapel’s Umgebung (sehr viel sonnige Tage, eine Hauptsache! und viel Spaziergänge: letztere fehlen in Venedig, und allein sein bringt mich mehr vorwärts als der Verkehr mit Kös<elitz> oder Rée, das sehe ich jetzt ein — nur muß ich sehr viel Gelegenheit zu abwechselnd<en> Spaziergängen haben, wie hier) aber gegen N<eapel> spricht W<agner>’s Anwesenheit. Unterrichte mich doch über Rimini, das J. Burckhardt mir empfohlen hat. Dann über Mentone (Spaziergänge; wie weit Monaco zu Fuß?) Die Orte müssen etwas zugerichtet sein für Kranke; billig zu leben lerne ich, da ich immer privatim lebe. Die Reise nach Neap<el> ist billiger von hier als bis Naumburg (Schiff v<on> Genua) Auch die ionischen Inseln tauchen auf. Es ist ein Jammer, daß es hier so langen und harten Winter giebt. (Es war sehr winterlich hier, doch nicht anders als in Sorrent, mit dessen Clima und Luft ich hier Ähnlichkeit finde.) Diese herrlichen Wälder! Ich bin 7—8 Stunden täglich im Freien. — Was kostet eine Kiste mit 3 Kilo Brown College? Und ebenso mit Diet? Es war sehr gut. Die Wurst mit Appetit verspeist. Am Ende schickst Du mir das Italien-buch? Mit dem herzlichsten Danke für Brief und Wünsche
Dein treuer F.
Gl <eiche> Adresse.
867. An Franziska Nietzsche in Naumburg
St. M<oritz> 21 Juli <1879>Montag Vormittag.
Meine liebe gute Mutter, eben wollte ich schreiben und Dich bitten, doch ja in Erfahrung zu bringen, wann der Termin abläuft. Da kommt, sehr zur guten Stunde, Dein lieber Brief. Also: ich verpflichte mich förmlich, auf 6 Jahre 17½ Thl. (oder, wenn der ganze Zwinger zu erhalten ist, das Doppelte) jährlich zu zahlen. Aber das Thurmzimmer muß ich haben. Der Gemüsebau entspricht ganz meinen Wünschen und ist auch eines zukünftigen „Weisen“ keineswegs unwürdig. Du weißt, daß ich zu einer einfachen und natürlichen Lebensweise hinneige, ich bestärke mich immer mehr darin, es giebt auch für meine Gesundheit kein anderes Heil. Eine wirkliche Arbeit, welche Zeit kostet und Mühe macht, ohne den Kopf anzustrengen, thut mir noth. Hat nicht mein Vater gemeint, ich würde einst wohl ein Gärtner werden? Freilich bin ich ganz unerfahren, doch sonst nicht dumm, und Du wirst mich zuerst etwas anstellen müssen.
St. Moritz ist der einzige Ort, der mir entschieden wohlthut — täglich, bei gutem und schlechtem Wetter, bin ich dieser Luft dankbar. Da wird nun noch manchmal die Reise hierher gemacht werden, das sehe ich voraus. Aber vor Mitte Juni ist es ganz unräthlich, zu kommen, und man bleibt sehr lange, wenn man bis Mitte September aushält. Wie vereinigt sich das mit den Gärtner-Pflichten! Was meinst Du? (Was für Obst giebt es im Zwinger?) Für die Gartenarbeit bliebe April Mai Juni bis zur Mitte und von Ende September bis November — das sind, wie mir scheint, die Monate der wichtigsten Arbeiten.
Karlsbad zu trinken ist irgendwann dringend nöthig, des Unterleibs wegen. Mit dem Magen bin ich jetzt, wo ich mich selber im Zimmer beköstige (Milch Eier Zunge Pflaumen (getrocknete) Brod und Zwieback) völlig in Ordnung. Ich war noch in keinem Hotel oder Restaurant. —
Die Augen machen mir große Sorge, sie allein machen keine Fortschritte (was ja leider, nach dem Urtheil der 3 Autoritäten auch gar nicht möglich ist). — Wird jemand in N<aumburg> zu finden sein, der mir zu einer bestimmten Stunde täglich vorliest oder nachschreibt?
Mit dem herzlichsten Danke
Dein Sohn.
(Mir graut vor dem nächsten Winter, nach den Erfahrungen der letzten.)
St. M 21 Juli (ich bin gerade einen Monat hier)
868. An Elisabeth Nietzsche in St. Aubin
<St. Moritz, 24. Juli 1879>
Meine liebe liebe Schwester, sofort schreibe ich, denn ich habe eine gar zu große Freude an Deiner Mittheilung. So wie Du alles beschreibst, ist auch alles im höchsten Grade acceptabel, ja ein Glücksfund. Ich rathe aber, an andre Personen vorläufig nichts über die ganze Sache zu schreiben: im Herbst machst Du den Besuch in Chur und dann mag die Sache sich allmählich entwickeln. Der Winter in Chur hat viel mehr Sonne als man denkt. Der Ort ist schön, ich habe jedesmal die Rabiusaschlucht und Passug besucht. Zudem: Graubünden ist mir wirklich sehr lieb und St. M<oritz> der einzige Ort der Erde (so weit mir bekannt) der mir entschieden wohlthut, bei gutem und schlechtem Wetter. Ich komme wohl noch manchen Sommer hierher. Wind! Denke Dir, gehört zu den mir wohlthätigen Dingen. — Alle die berühmten „Winterkurorte“ sind auf Brustkranke berechnet: nichts für mich! Ich habe jetzt fast an Norddeutschland gedacht, um mit Rée zusammen zu leben und einiges zu lernen. Im Grunde meine ich, ich sei hier für einen Norddeutschen Winter sehr gut vorbereitet. (Berlin? und eine Vorlesung hören?) Sage Deine Meinung, bitte. (Venedig hat das mir feindseligste Clima, feuchtmild.
Für Frühjahr und Herbst habe ich mir Gärtnerei (Gemüsebau) in Naumburg ausgedacht. Von Oktober an trete ich in Pacht des Zwingers und die Thurmstube wird zum Wohnen für mich hergerichtet. (17½ Thaler jährlich)
Über meine Winterpläne Stillschweigen, bitte!
Der Betrugsschirm zerbrach. Tags darauf fiel die Riesenplombe aus dem Zahne, ich mußte zum Zahnarzt, die Noth war groß. Unter dessen Händen entdeckte ich, daß es van Marder in eigner Person war (jetzt in Florenz), sehr liebenswürdig und geschickt. — Was zahlte ich? Er sagte, das Loch sei 2½ mal so groß wie ein gewöhnliches. —
Soeben meldet Overbeck, daß die gute akadem<ische> Gesell<schaft> auch noch 1000 frs. auf 6 J<ahre> beschlossen hat. Also Summe der Pension 3000 frs. Das ist sehr schön.
Mit dem herzlichsten Gruße
Dein Bruder.
Nie, seit 30 Jahren nicht, hat es einen so schlechten verregneten und verschneiten Sommer in St. M<oritz> gegeben — und trotzdem: ich möchte nirgends lieber sein.
NB. Monod’s Schrift, sehr fein und unbefangen, giebt nach mehreren Seiten zu denken. Ich bedanke mich durch Dich schönstens.
869. An Paul Rée in Nassau
<St. Moritz, Ende Juli 1879>
Mein geliebter Freund, Sie wissen wohl im Ganzen, wie es mit mir gestanden hat? Ein paar Mal den Pforten des Todes entwischt, aber fürchterlich gequält — so lebe ich von Tag zu Tage, jeder Tag hat seine Krankheits-Geschichte. Ich habe jetzt die beste und mächtigste Luft Europa’s zu athmen und liebe den Ort, an dem ich weile: St. Moritz in Graubünden. Seine Natur ist der meinigen verwandt, wir wundern uns nicht über einander, sondern sind vertraulich zusammen. Vielleicht thut’s gut so — immerhin, ich halte es ein wenig besser hier als anderswo aus.
Der September und der erste Theil des Oktober soll am schönsten hier sein — da steigen Wünsche nach dem sehr ersehnten Freunde auf, aber ich will nicht unbescheiden sein. Für unser Zusammensein — falls ich dieses Glück noch erleben sollte — ist Viel in mir präparirt. Auch ein Kistchen Bücher steht für jenen Augenblick bereit, Reealia betitelt, es sind gute Sachen darunter, über die Sie sich freuen werden.
Können Sie mir ein lehrreiches Buch womöglich englischer Herkunft, aber ins Deutsche übersetzt und mit gutem großen Druck zusenden? — Ich lebe ganz ohne Bücher, als Sieben-Achtel-Blinder, aber ich nehme gerne die verbotene Frucht aus Ihrer Hand.
Es lebe das Gewissen, weil es nun eine Historie haben wird, und mein Freund an ihm zum Historiker geworden ist. Glück und Heil auf Ihren Wegen!
Von Herzen Ihnen nahe
und das Allerförderlichste
Ihrer Gesundheit wünschend.
Sagen Sie mir ein Wort über Winterpläne.
Adr.: St. Moritz
Graubünden (Schweiz
poste restante
Friedrich Nietzsche, ehemals Professor
jetzt fugitivus errans.
870. An Franz Overbeck in Zürich
<St. Moritz, 31 Juli 1879>Donnerstag.
Lieber Freund, ich hätte schon eher Dir für die schöne Hoffnung des Wiedersehens gedankt: aber der Anfall und ein Tag zu Bett-Liegens kam dazwischen. Der Sommer ist eigentlich vorbei, der schlechteste, dessen sich die Engadiner erinnern, ganz verregnet und verschneit. Der Schnee hängt noch tief ins Thal. Trotzdem: es ist der beste Bergaufenthalt, den ich gemacht habe. Vielleicht giebt es einen guten Nachsommer.
Das Buch an stud. Pachnike ist doch angekommen: aber „der Sohn Hermann“ hat sich verlobt und darüber, wie billig, einiges vergessen. Die Eltern der Braut lassen ihn weiter studiren.
Die akad<emische> Gesellschaft hat mich auf das Artigste überrascht. Ich werde so gut behandelt, als ob ich’s verdiente. Darin bleibe ich aber ewig ὁ σκεπτικώτατος.
Mit Freuden höre ich, daß der deutsche Ste. Beuve wächst und gedeiht. Ein Stein fiel mir vom Herzen, als ich hörte, daß es mit der Abneigung Deiner lieben Frau gegen das Oberengadin nichts ist, denn ich bin in Dingen, die ich sehr liebe (wie besagtes Oberengadin) aus Erfahrung sehr mißtrauisch geworden und frage mich dann, ob ich mich nicht sehr irre. — Nun verspreche ich Dir, daß Dir’s gefallen soll.
Bringe mir, bitte, ein paar hundert frs. (womöglich in Gold) mit. Das Geld an der Handwerkerbank möchte ich als Nothpfennig für die Zukunft und Zufälligkeiten erhalten, so daß es vielleicht mit 6 monatl. Kündigung angelegt werden könnte. Dann giebt es einen höheren Zins. Übrigens: es steht dies in Deiner Hand, ich verstehe nichts davon —
Um etwas Festes auf der Erde zu haben, habe ich (für sehr wenig Geld) von der Stadt Naumburg auf 6 Jahre den sog. Zwinger in Pacht genommen, ein Stück der alten Stadtmauer, welches dem Hause meiner Mutter gegenüber liegt. Hier werde ich alle Frühlinge (März bis Mitte Juni) Gemüsebau* treiben. Ein Thurm ist darin, mit einem Zimmer, das mir meine Mutter zum Wohnen und Schlafen einrichtet. Ich regte die Sache an und hatte Glück damit.
Ein sonderbarer Bücherwunsch: kannst Du mir vielleicht (von der Bibliothek (oder Heusler) das letzte Buch Iherings „der Zweck im Recht“ schicken?
Lebewohl, mein lieber lieber Freund.
F N.
871. An Elisabeth Nietzsche in St. Aubin (Postkarte)
<S. Moritz, 2. August 1879>
Sehr niedergeschlagen seit lange, es will nicht vorwärts, ich bin zuviel krank. (Mein Sorrenter und Rosenlaui-befinden fällt mir immer ein, wahrlich nichts Gutes! aber wie hat’s sich seitdem verschlimmert!) Auch an Gastein mußte ich wieder denken. Morgen will ich auf ein paar Tage S<t.> M<oritz> verlassen. Ende Septemb<er> mache ich mich auf, den Winterort auszukundschaften. Der Apotheker aus Mentone, den ich sprach, sagte mir: „Die ganze Riviera hat keinen Schatten!“ Da ist es nichts, denn die Augen halten’s nicht aus!! (selbst hier muß ich, wenn ich schlechtere Tage habe, bis 4 warten, ehe ich eine schattige Straße habe — tödtlich langweilig obendrein: überdies ist es so wünschenswerth, gerade an solchen Tagen im Freien zu sein) Ich habe an Meran Bozen vor allem Riva am Gardasee gedacht (von hier alles ziemlich nah) Riva hat von ½2 Uhr an Schatten. Am liebsten gienge ich nach N<ord>deutschl<and> aber viell<eicht> ist es Thorheit. (Unsrer M<utter> habe ich noch kein Wort davon gesagt.) Allerschönsten Dank für Alles Alles. Frau Leupold (jetzt auf Frohburg) hat zurück geschrieben. Pachnike hat sich verlobt.
Treulich Dein B<ruder>
(Hoffend für die Plantage) und Genua!
Von Dr. Rée noch kein Wort.
Police habe ich.
872. An Franz Overbeck in Zürich (Postkarte)
<St. Moritz, 12. August 1879>
Lieber Freund, mein Zustand hat sich inzwischen verschlimmert. Wer weiß, wie es stünde, ohne dieses gute, beste Clima! Mitunter meine ich, der nächste Winter sei der letzte, und dann mache ich Pläne für Naumb<urg>, auch an Berlin habe ich gedacht, Dr Rée’s wegen, den ich gern noch einmal sehen möchte (es geht ihm auch schlechter, nach seiner Kur, er ist mit Mühe und langsam wieder in seine Heimat zurücktransportirt worden.) Es wäre also möglich, daß ich im Herbst über Zürich komme. Wollen wir aber ein wenig hoffen, so geht es südwärts. Ich habe mir längst gesagt, daß ich an Deinen Besuch nicht denken dürfe: ich überlegte mir einmal die unsinnigen Kosten und Post-reisebeschwerden, um in dies verflucht theure und ganz überfluthete Hochthal zu gelangen. Mitunter liegt freilich der Alp der Entsagung — der wirklich allseitigen Entsagung, die ich mir aufzwingen muß — ganz furchtbar auf mir, und dann denke ich Dich gern herbei. Und um ein ermuthigendes Wort, ein briefliches, bitte ich Dich wirklich, von Zeit zu Zeit! Ich wüßte es nicht zu entbehren. — (Ihering’s Buch ist keine Broschüre, sondern ein 1ster dicker Band) Allen Lieben Treuen Guten ringsum mich von Herzen empfehlend
Dein Freund
F N.
Ach die Augen!! Das erste Buch, das ich vornahm, ist französ<isch> (les Moralistes Romains, von Flotow) Pardon! von Martha.
873. An Elisabeth Nietzsche in St. Aubin (Postkarte)
<St. Moritz, 14. August 1879>
Von 11 Tagen, liebe Schwester 8 Anfallstage, 5 davon im Bett zugebracht — so steht es seitdem; Du kannst Dir alles dabei denken. Ein Anfall hinderte mich, abzureisen (Ausflug in’s Unterengadin). Als ich endlich reiste, mußte ich an der Station 1½ Stunde nach meiner Ankunft mich legen und blieb bis zum dritten Tag liegen! Dann reiste ich traurig, bei Regen, zurück — eine der schmerzhaftesten und theuersten Reisen. Dein Brief kam recht als Ermuthigung: ich bedarf sie sehr und weiß mitunter nicht, wie ich den Alpdruck der Existenz noch tragen soll. Heute habe ich die Trinkkur hier angefangen — um nicht thatlos zu sein (da ich rathlos bin). Gestern sandte ich etwas Nachträgliches und sehr Bescheidentliches!! zum Geburtstag an Dich ab. — Für Naumburg habe ich eigentlich abgeschrieben: geht es aber immer noch schlechter, so reise ich doch nordwärts. Wann würdest Du ungefähr in Genua sein? (Ich verlange so nach Dunkel, meine Augen vertragen die Spaziergänge nicht mehr. Lies im Italienbuche über Ariccia nach, viell<eicht>: Novemb<er> und Dezember? Stillschweigen über Winterprojekte!!!!
Ist denn in Zürich die Schreibmaschine? — Schreib getrost an Fr. Rothpl<etz>, ich weiß schon Dein Zimmer.
Overbeck kommt nicht. Es ist zu theuer!
874. An Elisabeth Nietzsche in St. Aubin (Postkarte)
<St. Moritz, 19. August 1879>
Der gute O<verbeck>, durch meine Berichte beunruhigt kommt doch! heute (Dienstag.) Es ist mir immerfort schlecht ergangen. Eben in diesen Tagen habe ich die Trinkkur und Badekur begonnen, ich vertrage das Wasser sehr schwer und darf nur die Hälfte des gewöhnl<ichen> Quantums trinken. Dafür muß ich länger trinken, mindestens 4 Wochen. Mit Thusis meine liebe Schwester geht es nicht, ich habe neulich wieder gesehen, daß Reisen für mich ein wahres Unglück ist: geht es nach dem Süden für den Winter, so habe ich nur noch 3 oder 4 Stunden bis an den Comersee und bin dann sehr schnell in Mailand. Geht es nach dem Norden, so besuche ich Dich jedenfalls, in Tamins oder Chur. Vor dem 20t. September reise ich keinesfalls hier ab, womöglich bleibe ich bis zum Oktober. — Ich danke Dir für Deine guten Worte und Gedanken! Die Schreibmaschine wäre mir für den Fall, daß ich nach Naumb<urg> gienge erwünscht: sonst noch nicht! Köselitz und Venedig behalten doch wohl das Übergewicht.
In herzlicher Liebe Dein Bruder
875. An Franz Overbeck in Zürich (Postkarte)
<St. Moritz, 27. August 1879>
Lieber lieber Freund, Dein Hiersein hat bisher mir einen tröstlichen Nachgeschmack hinterlassen. Es geht aber ganz so, wie Du es erlebt hast, von Tag zu Tag weiter!!! Doch habe ich ein paar Mal, Deiner gedenkend, auf der Meierei essen können. Ich ermuthige mich zum Aushalten der Kur. Du weißt, ich flöge gerne davon; aber das Fliegen (Reisen) macht mir Schrecken, und wo sollte ich mich niedersetzen! Rathlosigkeit, nach wie vor! — An Deiner Abhandl<ung> sind die fünf Fingerspitzen aller Deiner Tugenden zu sehen (ein Gleichniß à la Aubryet.) — Die beiden Briefschreiber sind eben spitzfindige Hunde: damals schrieb man aber, als bedeutender Mann, seinen Brief vor aller Welt, selbst die Ehrlichkeit hatte ihren Promenaden-Anzug dabei an. — Ich freue mich, Dich unter den Historikern zu sehen, vielleicht brauchst Du jetzt die schwarzen Zeitschriften nicht mehr.
In herzlicher Liebe Dich und die Deinen grüßend
F N.
876. An Elisabeth Nietzsche in St. Aubin (Postkarte)
<St. Moritz, 28. August 1879>
Liebe liebe Schwester, ich habe gestern so gelacht — eine große Seltenheit! Nicht wahr, der Apotheker will, ich soll diese schreckl<ichen> Pflaumen mit dem Faulthee zusammenkochen? Dann entsteht gewiß das, was Faust „die höllische Latwerge“ nennt! Und wenn die Wirkung zu stark sein sollte, soll ich dann die puritanischen Zwiebäcke essen? — Du hast mir den Preis der N. Würste nicht geschrieben. Gerade jetzt kann ich sie nicht essen, meine Kur hat allmählich meine Eß-Lebensweise ganz umgestaltet. — Also: der gute Freund war hier, es gieng aber schlimm, wie auch seitdem immer fort, und ich glaube nicht, daß er sehr tröstliche Eindrücke mitgenommen hat. Alle größeren Spaziergänge mußte er allein machen. Über den Winter sage ich nichts mehr; er soll, wie es scheint, nun einmal mein Verhängniß werden. O<verbeck> schreibt noch an Köselitz deswegen. Ich verlange mitunter so nach einem halbdunklen Orte und möchte nicht mehr spazierengehen. In herzlicher Liebe und Dankbarkeit
Dein Bruder.
Dein Brief kommt eben, es thut mir wehe dass Du Dich vertheidigst, kein Mensch denkt an „Vorwürfe“!! ich bin so glücklich über Dein La Planta-Arrangement. Quäl Dich nicht und einstweilen auch nichts von Riva.
F.
877. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<St. Moritz, 29. August 1879>(Freitag)
Herzlich dankbar für Deinen eben empfangenen Brief, so wie für den vorherigen. Ich schrieb nicht, es gieng gar nicht gut! Der Freund Overbeck kam besorgt hinzu, er hat gewiß keinen tröstlichen Eindruck mit fortgenommen. Ich weiß noch nicht, was ich mit dem Winter anfange, ich bin aller Dinge so müde. Vielleicht daß ich doch noch im September zu Dir komme. Ich habe das viele Spazierengehen (ich bin 8 Stunden täglich im Freien!) so satt, meine Augen wollen Halbdunkel, und dann recht viel Vorlesen, damit ich nicht immer nachdenke — meine einzige Beschäftigung außer meinen ewigen Schmerzen. Lesen kann ich nicht, mit Menschen verkehren kann ich nicht, die Natur hier kenne ich auswendig, sie zieht mich nicht ab. Die Luft ist aber gar zu gut, mir graut davor, sie zu verlassen. Ich sage immer noch, was ich am 2tn Tage schrieb „nirgendswo spüre ich diese Erleichterung durch die Luft, selbst bei den heftigsten Schmerzen.“ — Woher hast Du „bessere Nachrichten“ über mein Befinden gehabt? Auch L<isbeth> schreibt davon — aber ich weiß nichts von „besseren“ Zeiten! —
In herzl<icher> Liebe
F.
Schmerzen, Schmerzen, Schmerzen.
878. An Elisabeth Nietzsche in St. Aubin (Postkarte)
<St. Moritz, 1. September 1879>Montag.
Seit Samstag unausstehl<ich> heftiger Anfall, Sonntag ganz zu Bett. — Mattei-Kur mir wohl bekannt. Schon zweimal angefangen, in Sorrent und dann in Genf, dieses Frühjahr, trage ein flacon noch im Porte-monnaie herum. Aber es ist eine Kur von Jahren, alle 15 Minuten den ganzen Tag über einen Löffel voll nehmen. Das Buch der C. M. las ich in Bex. — Man kann nicht in die Nähe des Genfersees kommen, ohne davon zu hören. Ach, liebe Lisbeth, Leute, die von Kopfschmerzen geheilt worden sind, giebt es Ungezählt-Viele, nach allen Kur-Methoden. Das beweist für mich nichts! —
Ich habe es so satt. Den 20 Sept<ember> wollte ich nach Naumburg abreisen. Es ist alles einerlei. Nicht mehr spazierengehen, von früh bis Abend vorlesen hören und keinen Augenblick mehr allein sein, aus zehnerlei Gründen.
Dein Bruder.
879. An Paul Rée in Stibbe
St. Moritz, Graubünden poste restante <September 1879>
Daß es Ihnen nicht besser geht!
„Was soll aus der Welt denn noch werden?“
Vielleicht, vielleicht komme ich diesen Winter nach Norden dh. Naumburg: geschieht es, so ist es freilich kein gutes Zeichen, das gebe ich selber zu (es geht nämlich abscheulich, und meine Thierquälerei, wie ich sie jetzt fühle, läßt mich Sorrent und Bex als Zeiten des „verhältnißmäßigen“ Paradieses ansehen) Gehe ich aber nach Naumburg, so thue ich es in der bestimmten Hoffnung, mit dem so lange entbehrten Freunde ein Wiedersehens-fest (vielleicht einen Wiedersehens-Monat, Thür an Thür, in Berlin zb., Monat Januar) zu feiern. — Dies sind schöne Träume eines Kranken, der jetzt leider auch Siebenachtel-Blinder ist und nicht mehr lesen kann, außer mit Schmerzen für ein Viertelstündchen.
In Liebe der Ihrige F N.
Verzeihung, geliebter Freund! Hier sind zwei Epigramme, die mir eben einfallen:
Auf meine ersten fünf Büchlein.
Ehmals meint’ ich, A und O
Meiner Weisheit stünd’ darin;
Jetzo denk’ ich nicht mehr so:
Nur das ew’ge Ah! und Oh!
Meiner Jugend find’ ich drin.
X X X
Auf mein letztes Buch.
Schwermüthig stolz, wenn du nach rückwärts schaust,
Leichtsinnig kühn, wenn du der Zukunft traust:
O Vogel, rechn’ ich dich den Adlern zu?
Bist du Athene’s Eule Uhu-hu?
X X X
(Von Herzen grüßend, dankend und — sich
entschuldigend.
F. N.
880. An Heinrich Köselitz in Venedig
<St. Moritz, 11. September 1879>
Lieber lieber Freund, wenn Sie diese Zeilen lesen, ist mein Manuscript in Ihren Händen; es mag seine Bitte an Sie selber vortragen, ich habe nicht den Muth dazu. — Aber ein paar Augenblicke des Glücks sollen Sie auch mit mir theilen, die ich jetzt beim Gedanken an mein nunmehr vollendetes Werk habe. Ich bin am Ende des 35sten Lebensjahres; die „Mitte des Lebens“, sagte man anderthalb Jahrtausende lang von dieser Zeit; Dante hatte da seine Vision und spricht in den ersten Worten seines Gedichts davon. Nun bin ich in der Mitte des Lebens so „vom Tod umgeben“, daß er mich stündlich fassen kann; bei der Art meines Leidens muß ich an einen plötzlichen Tod, durch Krämpfe, denken (obwohl ich einen langsamen klarsinnigen, bei dem man noch mit seinen Freunden reden kann, hundertmal vorziehen würde, selbst wenn er schmerzhafter wäre) Insofern fühle ich mich jetzt dem ältesten Manne gleich; aber auch darin, daß ich mein Lebenswerk gethan habe. Ein guter Tropfen Oeles ist durch mich ausgegossen worden, das weiß ich, und man wird es mir nicht vergessen. Im Grunde habe ich die Probe zu meiner Betrachtung des Lebens schon gemacht: viele werden sie noch machen. Mein Gemüth ist durch die anhaltenden und peinlichen Leiden bis diesen Augenblick noch nicht niedergedrückt, mitunter scheint es mir sogar als ob ich heiterer und wohlwollender empfände als in meinem ganzen früheren Leben: wem habe ich diese stärkende und verbessernde Wirkung zuzumessen? Den Menschen nicht, denn, ganz Wenige ausgenommen, haben sich in den letzten Jahren Alle „an mir geärgert“ und sich auch nicht gescheut, es mir merken zu lassen. Lesen Sie, lieber Freund, dieses letzte Manuscript durch und fragen Sie sich dabei immer, ob Spuren des Leidens und des Druckes zu finden sind; ich glaube nicht daran, und schon dieser Glaube ist ein Zeichen, daß in diesen Ansichten Kräfte verborgen sein müssen und nicht Ohnmachten und Ermüdungen, nach denen die mir Abgeneigten suchen werden.
Nun werde ich nicht eher ruhig, als bis ich die Blätter, von der Hand des aufopferndsten Freundes geschrieben und durch mich revidirt, nach Chemnitz absenden kann. Ich selber werde nicht zu Ihnen kommen — so eifrig mir auch Overbeck’s und meine Schwester dazu zureden; es giebt einen Zustand, wo es mir schicklicher zu sein scheint, in die Nähe der Mutter, der Heimat und der Kindes-Erinnerungen sich zu begeben Doch nehmen Sie alles dies nicht als etwas Letztes und Unwiderrufliches. Je nachdem die Hoffnungen steigen oder fallen, muß ein Kranker seine Pläne machen und ändern dürfen. Mein Sommer-Programm ist ausgeführt: 3 Wochen Mittelhöhe (in Wiesen), 3 Monate Engadin, und der letzte Monat davon die eigentliche St. Moritzer Trink-kur, deren beste Wirkung man erst im Winter spüren soll. Dieses Durchführen eines Programms thut mir wohl: leicht war es nicht! Die Entsagung in Allem (— es fehlten Freunde und jeder Verkehr, ich konnte keine Bücher lesen; alle Kunst war ferne von mir; ein Kämmerchen mit Bett, die Speise eines Asketen (die übrigens mir gut gethan hat: keine Magenbeschwerden den ganzen Sommer!) — diese Entsagung war vollständig, bis auf Einen Punkt: ich hieng meinen Gedanken nach — was sollte ich auch thun! — Dies ist aber gewiß meinem Kopfe das Allerschädlichste — aber noch weiß ich nicht, wie ich’s hätte vermeiden können. Genug, für diesen Winter heißt das Programm: Erholung von mir selber, Ausruhen von meinen Gedanken — dies kenne ich seit Jahren nicht mehr. Vielleicht bringe ich in Naumb<urg> eine Tagesordnung zu Stande, bei der diese Ruhe mir zu Theil wird. — Aber erst der „Nachtrag“! „Der Wanderer und sein Schatten.“! —
Ihr letzter Gedanken-brief war Overbeck und mir eine solche Freude, daß ich ihm erlaubte, denselben mit nach Zürich zu nehmen, um ihn den Frauen dort vorzulesen. Verzeihung dafür!
Und Verzeihung für Größeres!
Ihr Freund N.
Adr.: St. Moritz-Dorf, poste restante
881. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<St. Moritz, 12. September 1879>(Freitag).
Lieber Freund,
vorgestern Manuscript, gestern Brief, heute Karte: diese um einer Bitte willen! Bewahren Sie das Geheimniß des Manuscr<ipts> und meiner Winterpläne bis auf Weiteres vor Jedermann! Auch Prof. O<verbeck> weiß noch nichts.
Und fahren Sie fort, in Liebe zu gedenken Ihres
N.
der dasselbe thut, so oft ihm nur Venedig einfällt,
(dh. sehr oft!)
882. An Elisabeth Nietzsche in Tamins (Postkarte)
<St. Moritz, 15. September 1879>
Liebe liebe Schwester, ich bringe es zuletzt doch nicht über’s Herz, an Dir bei meiner Reise nach Naumb<urg>, vorbeizuschlüpfen: erst wollte ichs, um allen Bewegungen des Gemüths zu entgehen. Zuletzt: wir wollen die Sache heiter nehmen: unvermeidlich ist sie, so wie mein Zustand ist. Die Correspondenz O<verbeck>’s mit unserm Köselitz hat mich bestimmt: ich sage Dir, inwiefern, mündlich. — Also: ich reise Mittwoch (übermorgen) nach Chur, wo ich gegen 4 Uhr Nachm. eintreffe. Dort, bitte, erwarte mich, wenn möglich; fahre eine Post früher von Reichenau nach Chur, gehe in’s weiße Kreuz, frage nach der Wirthin (einer Wittwe) und wähle zwei Zimmer für uns: wir bleiben dann Donnerstag und Freitag zusammen. Sonnabend früh reise ich (Rorschach—Lindau Leipzig) direkt nach N<aumburg>. — Dies mein Vorschlag: paßt er Dir nicht, so telegraphire oder erwarte mich in Reichenau bei meiner Durchfahrt. In der allerherzlichsten Liebe D<ein> B<ruder> (dem es sehr schlecht gieng.)
883. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Naumburg, 22. September 1879>
„Naumburg an der Saale per adr. Frau Pastorin Nietzsche“ so, mein lieber Freund, erreicht mich ein Brief für Herbst und Winter. Was Sie mir zuerst und nachher nach St. M<oritz> geschrieben haben, geht weit über alles hinaus, was mir zukommt, ich müßte mich schämen, neben Ihnen zu leben, wenn Sie mich mit den Augen solcher Güte und Hoffnung ansähen. Beim Abschreiben — Sie guter Hülfreicher! — werden Sie über viele „Allzumenschlichkeiten“ stolpern — eine Art Genugthuung für mich — Aber ich weiß, daß Sie mich lieb behalten werden. Sie haben Recht, wir sind einander verwandt.
F N.
884. An Franz Overbeck in Zürich (Postkarte)
<Naumburg, 22.September 1879>
Von Naumburg aus, lieber Freund, die ersten Worte. Es ist die Winterstation diesmal; wenn Du die Abrechnung der Gründe zwischen Vened<ig> u<nd> N<aumburg> so vor Dir hättest, wie ich sie habe, müßte Dein Urtheil dem meinigen gleich ausfallen; aber alles was in Betracht kommt ist kaum möglich mitzutheilen. Genug daß der Hauptgedanke meines Winterkur-Programm’s — möglichste Ruhe vor meinen beständigen inneren Arbeiten, Erholung von mir selber, die ich seit Jahren nicht gehabt — mir in Vened<ig> undurchführbar erscheinen mußte. — Die klimat<ischen> Bedingungen sind hier natürlich günstiger als die jener Lagunen- und Scirroccostadt, in welche aus dem Engadin hinabzusteigen doch ein gefährliches Experiment der schlimmsten Art gewesen wäre. — Wie gesagt, ich zweifle nicht, auch Deine Vernunft („meine zweite und bessere Vernunft“ wie ich sie oft nenne — Verzeihung!) würde meinen Entschluß gutheißen: Deine Correspondenz mit K<öselitz>, für die ich von Herzen Dir danke, gab den Ausschlag.
Herzliche Grüße Deinen Lieben.
885. An Elisabeth Nietzsche in Tamins
<Naumburg, kurz vor dem 25. September 1879>
Meine geliebte Schwester, seit unserm Wiedersehen und Auseinandergehen hat mich meine Krankheit ziemlich gnädig behandelt, so daß ich anfange, der St. Moritzer Kur mit Dankbarkeit zu gedenken. Das Naumburger Wetter ist nicht so hellherbstlich, wie ich es vom vorigen Jahre her im Gedächtniß hatte, und der große Abstand der Engadiner Höhenluft und der hiesigen feuchten Milde ist mir sehr bemerklich, doch nicht unangenehm; ich leide an Gedankenlosigkeit und bin im Grunde mit diesem Leiden zufrieden. Denke Dir, daß ich jetzt den Besuch des Dr Rée hätte haben können und daß die Vernunft die zu erwartenden Freuden der Vernunft widerrieth; mir als dem Freunde wurde der Entschluß sauer und bitter. — So viel von mir, der übrigens, wie Du vermuthen kannst, mit schönen Speischen und Spaziergängelchen und Novellchen verwöhnt wird — der Berg-Einsiedler vom Sommer. — In Betreff Deiner nicht uninteressanten, aber vielleicht nicht allzu ergötzlichen Lage (— für gefährlich sehe ich sie durchaus nicht an) glaube ich, obschon ganz unmaaßgeblich, daß wenn Ihr Beide miteinander in’s Plänemachen gerathet, auch die häßlichen Gemüths-Trübungen seltner werden dürften: man muß die Zukunft etwas gegen die Vergangenheit in den Kampf führen und die Freuden eines lernenden reisenden wohlthätigen Lebens mit der Phantasie vorwegzunehmen verstehen. Wahrscheinlich spreche ich von Dingen, die Du eben ausübst; aber das ist die beste Art von Rathschlägen, die zu spät kommt. An seinen (vermeintlichen) Feinden sich durch Wohlthaten und Artigkeiten rächen — dazu könntest Du vielleicht auch die Arme anreizen; Kranke wollen Recht behalten und in solchem Falle auch ihre Rache haben. — Gestern kam ein Spottgedicht eines österreichischen Dichters auf mich an, es war gut und nicht unartig. Wenn Du diesen weisen Brief erhältst, wirst Du vielleicht Lust haben daran fortzudichten — ich bin’s zufrieden und verdiene es.
In herzlicher Liebe Dein Bruder.
886. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Naumburg, 29. September 1879>
Lieber Freund, eine Woche Naumburg ist hinter mir: sehr gnädig im Vergleich zu dem abscheulichen Zustande der letzten St. M<oritzer> Wochen. Ich meine, die Kur beginnt zu wirken und freue mich der consequenten Durchführung des Sommerprogramms (90 Tage St. M<oritz>, die letzten 30 davon Kur). Um zu beweisen, wie das Winterprogramm durchgeführt werden soll: denke Dir, daß Freund Rée jetzt auf einige Wochen seinen Besuch hier anmeldete und daß ich es über mich gewann Nein zu sagen. Verzeihung, wenn ich auf diesen Grad von Entsagung etwas stolz bin! Nöthig ist es. — Ich wünsche Dir und Deiner lieben Frau einen guten sommerlichen hellen Herbst und fröhliches Gelingen in allen guten Dingen.
Dein F. N
887. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Naumburg, 30. September 1879>
Die letzten Blätter aus dem Engadin sende ich als „Manuscript“ und „einge schrieben“: die billigste und zuverlässigste Versendungsart, wie mir Postbeamte sagten. — Hier in Naumburg will ich keine Gedanken haben und jedenfalls keine aufschreiben: letzteres wenigstens ist Sache des Willens. — Der Gesammteindruck des Neuesten, wie Sie, mein erster und letzter Leser bisher — das sind Sie ja unbedingt in Bezug auf M<enschliches> Allzum<enschliches> — ihn empfunden haben, entspricht so sehr meinem innersten Wunsche, daß ich vermuthe, unsre Seelen-Verwandtschaft sei dabei im Spiele. Lieber Freund, Sie wissen doch, daß Sie, je mehr Sie mit mir zusammenstimmen — und wünschen, auch an meiner Last zu tragen haben und daß Sie alles einmal gut und sehr gut machen müssen, was ich schlecht und versuchsweise gemacht habe? Sie haben viel Noth* mit mir — daran denke ich, so oft ich an Sie denke.
F. N.
Ich habe der Stadt Naumb<urg> ein kleines burgartiges Stück der mittelalterl<ichen> Stadtbefestigung abgepachtet, um hier Gemüse zu bauen — auf 6 Jahre (! — !), wie es Brauch ist. Alles ist grün und buschig umwachsen; in einem Thurme der Mauer wird ein langes Zimmer (sehr alterthümlich —) für mich zum Wohnen hergerichtet. Ich habe 10 Obstbäume, Rosen Lilien Nelken Erdbeeren Stachel- und Johannisbeeren. Im Frühjahr geht meine Arbeit an, auf 10 Gemüsebeeten. — Alles ist mein Gedanke, und ich habe Glück dabei gehabt. Bei diesen Zukunftsspinnereien spinne ich mitunter auch den lieben Freund in Venedig mit in mein Thurm-Netz hinein — sehr dreist, nicht wahr? —
Eben jetzt, Dienstag Morgens, kommt zu meiner großen Freude, Ihre Abschrift in meine Hände; augenblicklich bin ich ganz Dankbarkeit gegen Sie — und weiter nichts mehr! Auch die begleitenden Worte Ihrer Karte erquicken mich, ich habe ganz und völlig das Urtheil über meine Sachen eingebüßt, weil ich zu wenig mit Menschen verkehre und keine Bücher lese. Mitunter fürchte ich zu sagen, was alle Welt weiß. Sie machen mir Muth.
888. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Naumburg, 4. Oktober 1879>
Haben Sie meinen recommandirten Brief mit der Schluß-Manuscript-Einlage, lieber Freund? — Gestern (Freitag) kam Ihre Abschrift des Ganzen in meine Hände, ich begreife nicht, wie Sie diese schreckliche Arbeit in so kurzer Zeit bewältigen konnten, segne Sie aber für diese Unbegreiflichkeit der That! Mir ist jetzt so ruhig zu Muthe; Hrn. Schmeitzner will ich Ende des Monats das M<anu>s<cript> persönlich in Leipzig übergeben. — Ich hatte Vergnügen, Manches wieder zu lesen, warum soll ich es Ihnen nicht gestehen! Z.B. den Anfangs- und Schluß-Dialog, in denen gute Stimmung ist (und eine Masse psychologischer Kleinigkeiten; das Schattenmachen am Schluß des Ganzen zB. (Kränkung Bedauern Abschied Natur-Stimmung des Abends durcheinander gemischt) Diesmal kommt es, wie Sie wissen, mir auf ein paar ungeheure moralische Perspektiven an, derentwegen man mich einen Narren schelten wird. Aber ich hatte viel Glück sie zu sehen!
Wie geht es Ihnen, lieber lieber Freund? Ist das Wetter gut?
Ihr treuer
N.
889. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Naumburg, 5. Oktober 1879>
Gestern Vormittag lief meine Karte an Sie, lieber Freund, ab, und drei Stunden später hatte ich wieder neue Beweise Ihrer unermüdlichen Güte für mich in den Händen. Könnte ich nur nun auch Ihren Wünschen entsprechen! „Doch Gedanken stehn zu fern“, wie Tieck singt. Sie glauben nicht, wie getreu ich bis jetzt das Programm der Gedankenlosigkeit durchgeführt; und ich habe Gründe hier treu zu sein, denn „hinter dem Gedanken steht der Teufel“ eines wüthenden Schmerz-Anfalls. Das Manusc<ript>, welches Sie von St. M<oritz> aus bekamen, ist so theuer und schwer erkauft, daß vielleicht um diesen Preis niemand es geschrieben haben würde, der es hätte vermeiden können. Mir graut jetzt öfter beim Lesen, namentl<ich> der längeren Abschnitte, der häßlichen Erinnerung halber. Alles ist, wenige Zeilen ausgenommen, unterwegs erdacht und in 6 kleine Hefte mit Bleistift skizziert worden: das Umschreiben bekam mir fast jedesmal übel. Gegen 20 längere Gedankenketten, leider recht wesentliche, mußte ich schlüpfen lassen, weil ich nie Zeit genug fand, sie aus dem schrecklichsten Bleistiftgekritzel herauszuziehen: so wie es mir schon vorigen Sommer gegangen ist. Hinterher verliere ich den Zusammenhang der Gedanken aus dem Gedächtniß: ich habe eben die Minuten und Viertelstunden der „Energie des Gehirns“ von der Sie sprechen, zusammenzustehlen, einem leidenden Gehirne abzustehlen. Einstweilen scheint es mir als ob ich nie wieder es thun werde. Ich lese Ihre Abschrift, und es wird mir so schwer, mich selber zu verstehen — so müde ist mein Kopf.
Das Sorrentiner M<anu>sc<ript> hat der Teufel geholt; mein Umzug und endgültiges Verlassen Basel’s hat in manchen Dingen sehr gründlich aufgeräumt. — mir eine Wohlthat, denn solche alten M<anu>sc<ripte> sehen mich wie Schuldner an.
Lieber Freund, über Luther bin ich noch längere Zeit außer Stande, in ehrlicher Weise etwas Verehrendes zu sagen: die Nachwirkung einer mächtigen Materialsammlung über ihn, auf die mich J. Burckhardt aufmerksam machte. Ich meine Jans<s>en Gesch<ichte> des deutschen Volkes Bd. II. in diesem Jahre erst erschienen (ich besitze es) Hier redet einmal nicht die verfälschte protestant<ische> Geschichtsconstruktion, an welche wir zu glauben angelernt worden sind. Augenblicklich scheint es mir nichts mehr als Sache des nationalen Geschmacks in Norden und Süden, daß wir Luther als Menschen dem Ign<atius> Loyola vorziehen! Die gräßliche hochmüthige gallig-neidische Schimpfteufelei Luthers, dem gar nicht wohl wurde, wenn er nicht vor Wuth auf jemanden speien konnte, haben mich zu sehr angeekelt. Gewiß haben Sie Recht mit der „Förderung der europ<äischen> Demokratisirung durch L<uther>, aber gewiß war dieser rasende Bauern-Feind (der sie wie tolle Hunde todtschlagen hieß und eigens den Fürsten zurief, jetzt könne man mit Schlachten und Würgen von Bauernvieh sich das Himmelreich erwerben) einer der unfreiwilligsten Förderer derselben. — Übrigens sind Sie in der billigeren Stimmung gegen ihn. Geben Sie mir Zeit! — Für die anderen Hindeutungen auf Lücken meiner Gedankenreihen sage ich Ihnen ebenso Dank, nur einen ganz ohnmächtigen Dank! Ach, hier denke ich eben wieder an meine „Wünsche der Wünsche“. Nein, ich dachte mir neulich den Freund K<öselitz> nicht als eigentlichen Schriftsteller, es giebt so viele Arten von dem innern Zustande und Gesund- und Reifwerden Zeugniß abzulegen. Zunächst für Sie den Künstler! Hinter Aeschylus kam ein Sophokles! Deutlicher möchte ich’s nicht sagen, was ich hoffe. — Und um einmal auch über Sie als Kopf und Herz ein aufrichtiges Wort zu sagen: welchen Vorsprung haben Sie vor mir, die Jahre abgerechnet und was die Jahre mit sich bringen! Aufrichtig nochmals, ich halte Sie für besser und für begabter als ich bin und folglich auch für verpflichteter. — In Ihrem Lebensalter trieb ich mit größtem Eifer Untersuchung über die Entstehung eines Lexikons des 11 Jhdts. post Chr. und über die Quellen des Laertius Diogenes und hatte keinen Begriff von mir, als ob ich ein Recht hätte, eigne allgemeine Gedanken zu haben und gar vorzutragen. Noch jetzt überfällt mich das Gefühl der kläglichsten Neulingschaft; mein Alleinsein, mein Kranksein hat mich etwas an die „Unverschämtheit“ meiner Schriftstellerei gewöhnt. Aber, Andere müssen alles besser machen, mein Leben sowohl als mein Denken. — Antworten Sie nicht hierauf. In wahrhaft treuer Liebe
Ihr auf Sie hoffender Freund
N.
890. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz
Naumburg a/Saale 5 October 1879.Per adr. Frau Pastor N.
Werther Herr Verleger,
im Frühjahre fragten Sie bei mir an, ob es am Jahres-Ausgange 5 ein M<anu>sc<ript> geben werde: Sie fügten Fragezeichen und Ausrufezeichen hinzu — und heute thue ich dasselbe, wo ich Ihnen melde, daß es ein Msc. giebt —
? ! ich glaube es selber kaum.
Fragen Sie den einzig Mitwissenden und Mithelfenden, unsern Freund Köselitz, was er von dem Msc. hält; ich selber erzähle Ihnen mündlich, wie ein so schwer Lebender und unsäglich Gequälter als ich bin es zu Stande gebracht hat — vorausgesetzt, daß ich Sie Ende des Monates in Leipzig treffen kann. Dort übergebe ich Ihnen das druckfertige Msc. — falls Sie es haben wollen! Darüber ersuche ich Sie um ein paar briefliche Worte.
Der Titel ist (— und aus dem Titel erklärt sich alles, was ich als Bedingungen meinerseits auszumachen hätte)
Der Wanderer und sein Schatten.*
Zweiter und letzter Nachtrag
zu der früher
erschienenen Gedankensammlung
„Menschliches Allzumenschliches
Ein Buch für freie Geister“
Von
F N.
Mit ergebenstem Gruße Dr Nietzsche
Umfang des Buches gleich dem letztgedruckten „Anhange“.
Stillschweigen dringend erbeten!
891. An Elisabeth Nietzsche in Tamins (Postkarte)
<Naumburg, 10. Oktober 1879>
Aber, meine geliebte Schwester diese Überhäufung meiner unwürdigen Person mit so süßen Artigkeiten und Engadiner sowie Genfer Erinnerungen ist ja ganz wider unsre Abrede! so daß ich meinen herzlichsten Dank nicht ohne Kopfschütteln der Verwunderung aussprechen kann. Glücklicherweise kann ich heute von meinem Befinden nicht unvortheilhaft reden; der Kopfschmerz, sehr häufig, kam bis jetzt noch nicht im großen Stile. Ich glaube, daß die Kur von St. M<oritz> ein guter Griff war. Immer noch bin ich froh, daß ich der Venediger Versuchung ausgewichen bin. — Morgen ziehn die Damen (unten im Hause) ab, zu allgemeiner Herstellung der Heiterkeit. Den Zwinger gebe ich womöglich wieder ab. Hoffentlich höre ich von Dir Gutes und Heiteres.
Von Herzen dankbar Dein B<ruder>.
892. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz (Postkarte)
<Naumburg,> 15 Oct. <1879>
Für alles Gesagte und Gesandte, lieber und werther Herr Schmeitzner, vorläufig meinen aufrichtigen Dank, ich habe Freude davon gehabt. Können Sie nächsten Sonnabend (also diese Woche) nach Leipzig kommen? (ich fahre 9 Uhr 10 M. ab) Ich möchte Ihnen dort in „Stadt Rom“ (vielleicht Vormittags um 11, wenn es Ihnen recht ist?) das M<anu>s<cript> überreichen. Meine Gesundheit erfordert, wie Sie wissen, Vorsicht im Genusse des menschlichen Verkehrs. Daraus folgt daß wir nicht lange (aber vielleicht Nachmittags noch ½ Stündchen) zusammen sein können. Mit dem herzlichsten Wunsche, Sie wiederzusehen,
Ihr ganz ergebener F N. (heute ist mein Geburtstag.)
893. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
Naumburg den 21 Oct. 1879.
Lieber Freund, ich brachte es nicht über mich, Ihren letzten Brief zu vernichten, es standen so gute Dinge darauf, daß ich schon darum bitten wollte, sie meinem Buche zu Gute kommen zu lassen: zuletzt denke ich, Sie benutzen den Brief einmal, wenn Sie zur Erholung ein Bändchen Gedanken sammeln: für diesen Zeitpunkt hebe ich ihn auf. — Sie sehen, bis jetzt hab ich noch nicht umgelernt, was meine hohe Meinung von Ihnen anlangt. Auch bin ich nicht der Einzige, der mit großen Hoffnungen Ihrer gedenkt. —
Letzter Tage sah ich in Leipzig Freund Widemann und Herrn Schmeitzner. Morgen soll der erste Druckbogen in meinen Händen sein.
Kann ich Ihnen nicht etwas senden, das Ihnen Freude macht — Lebensmittel des Geistes oder Leibes? Ich hätte großes Vergnügen an einem Auftrage.
Von Herzen der Ihrige
894. An Franz Overbeck in Basel
22 October <1879> Naumburg
Lieber lieber Freund, von Dir dem Geber so vieles Guten nehme ich Wünsche anders an als von Anderen. Den ganzen Geburtstag habe ich Deiner gedacht und recht in Liebe versucht, die Summe der Wohlthaten zu ziehen, welche Du mir in dem letzten Jahre, also in media vita nach dem Kirchenglauben, erwiesen hast. Mitten im Leben war ich vom guten „Overbeck umgeben“ — vielleicht hätte sich sonst der andre Gefährte eingestellt — Mors.
Es geht erträglich und viel besser als im Sommer. Erst Ein heftiger Anfall (am Tag nach meinem Geburtstage), sonst das altgewohnte Kleingewehrfeuer meines Leidens — Tag für Tag. Seit ich das Engadin verlassen habe, ist keine Pille und kein Klysma mehr in den Leib gekommen, es war nicht mehr nöthig. Die Unfähigkeit etwas zu thun (Lesen Schreiben Denken) entspricht meinem Programme der Gedankenlosigkeit; dies ist jetzt mein Kurmittel. (In Venedig wäre es nicht möglich gewesen) Unser lieber Köselitz, voll von meinen und seinen Gedanken, würde mir eine zu starke Speise gewesen sein. —
In Leipzig sah ich letzter Tage Schmeitzner und Widemann (ich mußte die sehr angenehme Zusammenkunft Tags darauf büßen und verbrachte still einen Tag auf dem Sopha) —
Der Herbst ist sehr trübe, ja dunkel, wobei wenigstens meine Augen den Vortheil haben. — Danke für die Geldsendung, Du hast die bequemste und billigste Art, die ich mir nur denken kann, ermittelt, leider mit der Consequenz, Dir selber wieder die Mühe aufgeladen zu haben, welche ich dabei spare.
Danke ebenfalls für die Briefe, Deine eigenen voran, dann die nachgesandten (darunter war ein Spottgedicht auf mich, von einem österreichischen Dichter in Graz, es könnte selbst Hamerling sein)
Deiner lieben Frau meine herzlichsten Grüße, ebenso Deiner verehrten Frau Schwiegermutter in Zürich. — Mit Schmeitzner habe ich wegen der St. Beuve-Übersetzung ein paar Worte fallen lassen, die mit sehr großer Freude aufgenommen wurden. Ingleichen wegen der Wackernagelschen Buddhismus-Vorträge.
Schm<eitzner> verlegt etwas von Dühring, ist aber in vollem Entsetzen über den unangenehmen Charakter desselben. Dann giebt er Lasalle’s Briefe aus der allerletzten Zeit heraus — ich hoffe, dies ist einmal ein Verlagsartikel, wie wir ihm einen solchen gewünscht haben.
Freund Romundt’s Brief lege ich bei, ich verstehe ihn nicht ganz. Die Vermahnung zum Glauben verstehe ich sogar gar nicht — Glaube an was? frage ich <den> Tropf. Aber vielleicht meint er den Glauben an den Glauben. — Ein Butterbrod ist mir mehr werth als ein solch blasses Ding.
Von Herzen der Deine
F Nietzsche
Nicht zu vergessen die schon ein paarmal vergessenen dankbaren Grüße meiner Mutter!
Wann lebte der Bischof Ulfilas? Drittes Jahrhundert gegen Mitte?
895. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz
<Naumburg, 22. Oktober 1879>
Wollen Sie, lieber Herr Schmeitzner, dies noch unter die Religiosa (III) einreihen?
Sonntag war ich in Leipzig krank, Montag früh reiste ich zurück. — Ich hatte und habe immer noch von unserer Zusammenkunft her einen angenehmen Nachgeschmack. Möge Alles gut gelingen! —
Herzliche Grüße an Freund Widemann.
F N.
896. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Naumburg, 24. Oktober 1879>
Lieber Freund, noch ein Wort à propos des Gärtnerschurzes. Der Zwinger und der Thurm, beides malerischer und größer als ich vermuthete, ist trotzdem aus meinen Händen wieder bereits in andre übergegangen: ich sah hier ein, daß für die Gärtner-Thätigkeit meine Augen viel zu schwach sind und daß das Bücken für meinen Kopf sehr unzweckmäßig ist — in der nächsten Nähe gesehen ergab sich die Gemüsebauerei als eine Unmöglichkeit, leider, leider! So war ich ganz glücklich, meinen Pachtcontrakt (in dem mir verboten war Wäsche im Zwinger aufzuhängen und eine Schänkwirthschaft zu errichten) wieder loszuwerden. Das Beste an der ganzen Geschichte, die Erwartung habe ich gehabt; und zu diesem Glück des Gärtnerthums in spe gehört auch der Gärtnerschurz in spe: für den ich mich bei Deiner lieben Frau herzlichst bedanke.
Dein Freund
897. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz
Naumburg a/Saale<, 27. Oktober 1879>
Werther Herr Schmeitzner,
es thut mir sehr wohl, Ihr Auge jetzt über meinen Ersparnissen wachend zu denken; diese ganze Sache ist so gut geordnet als ich es nur hoffen konnte. Freilich haben Sie die Mühe, und ich den Vortheil dabei. —
Die Vorrede (oder vielmehr der Dialog) stellt mich nicht zufrieden. Ich bitte sehr darum, dieselben Zwischenräume wie beim Texte herstellen zu lassen: so daß Dialog und Aphorismen ganz gleich gedruckt erscheinen. Ende des Dialogs auf Seite 6 unten: so ist mir’s recht. —
An Stelle eines Aphorismus, betitelt „Kurzer Sommer“ (den ich durchzustreichen bitte) stellen Sie Mitfolgendes.
Zwei lateinische Aphorismen bitte ich auch durchzustreichen.
Bis heute (Montag) sind 2 Bogen in meinen Händen.
Mein Befinden ist leidlich — freilich nach meinem Maaßstabe, der nicht nach Jedermanns Geschmack sein möchte.
Mit dem besten Danke
Ihnen ergeben
F Nietzsche
898. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Naumburg,> 28 Oct. 1879.
Lieber Freund, ich hatte noch etwas vergessen! Bitte, lege wie bisher, die kleine Summe für die Bayreuther Zwecke aus, ich wüßte keinen Grund, weshalb ich aufhören sollte sie zu zahlen. (Gelesen freilich habe ich seit Herbst 1877 nichts mehr von jenen Blättern.)
In herzlicher Liebe Dein
Freund
899. An Paul Rée in Stibbe
Naumburg a/Saale 31 Oct. 1879.
Lieber Freund, nur ein paar Zeilen der Ungeduld! Ich warte nämlich seit Wochen auf eine freie Stunde, um einmal länger an Sie zu schreiben — sie kommt nicht, und ich muß alles Erzwingen so hart büssen, daß ich nichts mehr erzwinge. Viele Wünsche habe ich aufgeben müssen, aber noch nie den, mit Ihnen zusammenzuleben — mein „Garten Epikurs“! Die Vernunft sagt auch jetzt immer noch, daß wir warten müssen; es wäre gar zu traurig, wenn „wir uns schlecht bekämen.“ Meine Mutter, heute nur von Herzen grüßend und das Beste wünschend, wird Ihnen bald des Genauern schreiben, ob, wann und wie unser Zusammensein möglich ist. Sie hat mir Lermontoff vorgelesen; ein mir sehr fremder Zustand, die westeuropäische Blasirtheit, ist allerliebst beschrieben, mit russischer Naivetät und halbwüchsiger Weltweltenweisheit — nicht wahr?
Ich danke Ihnen, lieber Freund für alles Gesagte Gesandte und Gewünschte, namentlich aber für die wundersame entzückende und wiederum erschreckende Meldung, daß Ihr Werk wächst, reift — unglaublich! — Ein paar Seiten Ihrer „Untersuchungen“, auf die ich neulich fiel, machten mir nach jenem Werke der Verheißung unbändigen Appetit. —
Mein Hauptgedanke ist jetzt, daß die Hauptursache der irdischen Gebrechlichkeit in kleinen Unwissenheiten besteht — Verzeihung, daß ich die Nutzanwendung auch auf unser Kranksein mache! Wir müssen durchaus gesund werden, sobald wir recht begriffen haben, wie wir krank wurden. Medizinische Gespräche sind nicht zu vermeiden, wenn wir uns wiedersehen.
Und mit dem unausgesprochenen Wunsche der Angst um Sie, lieber lieber Freund schließe ich
In herzlicher Liebe
Ihr
F Nietzsche
900. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Naumburg, 5. November 1879>
Schönsten Dank, lieber Freund, für den Wink, ich wünsche den Anschein der Weiberverachtung nicht und habe den passus ganz gestrichen. Wahr ist es übrigens, daß urspr<ünglich> nur die Männer sich für Menschen gehalten haben, noch die Sprachen beweisen es; das Weib hat wirklich als Thier gegolten, die Anerkennung des Menschen in ihm ist ein<er> der größten moralischen Schritte. Meine oder unsre jetzige Ansicht vom „Weibe“ sollte mit dem Worte „Hausthier“ nicht berührt sein. — Ich urtheilte nach Huntley’s Beschreibung der Frauenlage bei wilden Völkerschaften. —
Sehr lieb ist mir zu hören, daß Sie den Nachsommer nicht kennen, ich verspreche Ihnen etwas Reines und Gutes. Ich selbst kenne ihn seit kurzem, Rée sagte mir einmal, in ihm stehe die schönste Liebesgeschichte, die er je gelesen, das fiel mir ein.
Fahren Sie fort, bei der Corr<ektur> zu winken und zu warnen. Der Boden des Mißverständnisses ist bei dieser Schrift so oft in der Nähe; die Kürze, der verwünschte Telegrammstil, zu dem mich Kopf und Auge nöthigt ist die Ursache.
Von Herzen F. N.
901. An Ida Overbeck in Basel (Postkarte)
Naumb. a/Saale <5. November 1879>
Liebe verehrteste Frau Professor,
wäre es am Ende nicht das Beste, Herrn Chamfort wegzulassen? Ein Meisterstück war der betreffende Artikel wohl nicht; vielleicht erwägen Sie, ob Fontenelle in Ihre „Menschen des 18ten J<a>h<rhunder>t’s“ hineinpaßt? Sonst wäre ich dafür, sofort mit Hrn. Schmeitzner in Verbindung zu treten, oder deutlicher: Erlauben Sie mir, daß ich Schm<eitzner>’n einen Wink gebe; er wird sich brieflich an Sie wenden und Ihnen seine Vorschläge zu unterbreiten haben. — Bitten Sie meinen Freund, er möge Stifter’s Nachsommer aus meinen Büchern („Köselitziana“) nehmen und bei Memel einbinden lassen (grüne Leinwand, gerundete Ecken), ebenfalls Memel’n die Adresse an Hr. Köselitz geben (er soll das Buch gut verpackt und frankirt nach Venedig schicken) — Mein Befinden hat sich langsam, aber sicher verschlechtert: „erträglich“ immer noch, im verschärften Sinne.
Von Herzen ergeben mit den Grüßen meiner Mutter
Ihr F. Nietzsche.
902. An Elisabeth Nietzsche in Tamins (Postkarte)
<Naumburg, 5. November 1879>
Meine geliebte Schwester, heute endlich läuft das Geld ab, die lächerlichen Centimes sollen die Umwechselkosten ausgleichen. Meine Gesundheit hat sich entschieden verschlimmert, doch geht der Schmerz über eine gewisse Grenze des „Erträglichen“ noch nicht hinaus; immerhin ein elender Zustand! Wetter fort und fort schlecht, seit Wochen. Heute ziehe ich in ein neues Schlafzimmer (oben). Ich hatte noch keinen Tag, wo ich im Stande gewesen wäre, ein Colleg zu halten; aber sehr viele Tage, wo eine Karte zu schreiben unmöglich ist. Meine Stimmung immerfort sehr ruhig und entschlossen, ich widerstrebe jeder Veränderung. Deine drei letzten Briefe zeigten etwas Ähnliches; was mir sehr wohl that.
Ich denke Deiner in der herzlichsten Gesinnung als Dein Bruder.
903. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz (Postkarte)
<Naumburg, 5. November 1879>
Werthester Herr Verleger, ich bitte, in dem Aphorismus „Natur als Doppelgängerin“ eine Zeile so umzuformen:
/ in dem gesammten anmuthig ernsten Hügel- Seen- und Wald-Charakter dieser Hochebene, welche sich ohne Furcht neben die Schrecknisse des ewigen Schnee’s hingelagert hat —/
Die zwei ersten Bogen sind vortrefflich gelungen. Ich danke für die Sendung Taine’s. Lebt der Dr. Dühring doch noch?
Ergebenst grüßend
F N.
nicht wahr, es geht langsam!
Mein Befinden hat sich verschlechtert.
904. An Franz Overbeck in Basel
Naumb. den 14 Nov. 1879.
Lieber lieber Freund, Dein Geburtstag ist ein Feiertag für mich, aber wünschen, wünschen — ich weiß gar nicht, was. Daß wir uns wiedersehen! — das versteht sich als ein habitueller Wunsch von selber. Auch daß im Winter Deine Abhandlung über die Entst<ehung> der chr<istlichen> Litt<eratur> fertig werden möge! Im Übrigen habe ich, wenn ich an Dich denke, nichts zu wünschen, sondern nur zu danken. —
Es geht nicht gut, die guten Einwirkungen des Sommers lassen nach, der unablässige Schmerz wird wieder recht lästig. Es ist ein Unglück, daß dies mal der Naumburger Herbst so trübe und naß ausgefallen ist, wie seit Menschengedenken nicht. Alle 8 Tage etwa einen Nachmittag die Sonne und den Himmel sehen — darauf läuft es hinaus. Geistige Ruhe ist mein Programm: die habe ich auch — aber das Wetter liegt schwer auf mir. Mein Muth ist trotzdem noch unerschüttert, und ich will den Winter hier aushalten.
Meine Mutter hat mir vorgelesen Gogol, Lermontoff, Bret Harte, M. Twain E. A. Poe. Wenn Du das letzterschienene Buch von Twain „die Abenteuer von Tom Sawyer“ noch nicht kennst, so wäre es mir ein Vergnügen, Dir damit ein kleines Geschenk zu machen.
Die Frage der Bücher-Versicherung wollen wir in graec<as> cal<endas> vertagen; in meinen Augen sind sie sehr gut versichert, insofern sie im Falkenstein wohnen dürfen.
Dir und Deiner lieben Frau
von ganzem Herzen gut
Dein Freund
F. Nietzsche
905. An Marie Baumgartner in Lörrach (Postkarte)
<Naumburg, 18. November 1879>
Liebe verehrte Frau Baumgartner, so muß denn doch die Karte dran! Ich finde das, was zu einem Briefe gehört, seit Wochen, nicht zusammen; und ich fühle andererseits, daß ich auf einer Karte Ihnen nichts zu sagen habe! Wenn irgend ein Mensch, so sollten Sie hübsche lange und innerliche Briefe von mir erhalten, wie Sie mir solche schreiben (und viel besser als ich’s vermöchte) Nun geht es aber nicht, und darüber verstumme ich ganz. Ach, wie satt habe ich es, über mein Schlechtbefinden zu berichten! Ein kleiner Anflug von Milderung ist wieder verschwunden. Die „Stimmung“ dabei ist ziemlich kaltblütig, dürfte aber etwas sonniger sein. Ich will diesen Winter nicht denken, daher viel Langeweile. Von Herzen
Ihr N.
906. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz (Postkarte)
<Naumburg, 18. November 1879>
Geehrtester Herr, die Sainte-Beuve-Übersetzung ist fertig: wollen Sie sich an Hr. Prof. Overbeck ihretwegen wenden? (Frau Prof. O<verbeck> wünscht dringend, vollständig aus dem Spiele zu bleiben, also bitte, stellen Sie Sich als wüßten Sie nichts von ihrer Mitbetheiligung) Titel vielleicht: „Sainte Beuve. Menschen des achtzehnten Jahrhunderts. Erste deutsche Übersetzung.“ (Es sind 8 Personen; es giebt einen kleinen netten Band zum Anbeißen) —
Wollen Sie, nach Beendigung unsres Drucks, die Güte haben, von dem Honorar-Reste die verschiedenen Auslagen, die Sie für mich machten, abzuziehn und den Rest des Restes dann mir hierher senden? —
Das üble trübe nasse Wetter setzt mir sehr zu. Ach, an jedem Abende, wenn ich mich zu Bette lege, preise ich den Tag, weil er vorüber ist; sonst habe ich nichts daran zu preisen. Geduld!
Mit herzlichem Gruße Ihr N.
Aber unser sehr freimüthiges Buch wird doch nicht verboten werden?
907. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz
<Naumburg,> 22 Nov. 1879.
Werthester Herr Schmeitzner,
Bogen 9 ist eben in meine Hände gelangt.
Also mein Buch macht Ihnen einige Freude? Ich höre dies mit Vergnügen. — Den Titel wollen wir unverändert lassen: etwas räthselhaft ist er, aber das schadet nichts; es ist manche Schelmerei im Buche, so mag auch noch eine auf ihm sein. — Der von mir geschätzte Logiker heißt: A. Spir, sein Buch: „Denken und Wirklichkeit“ (2 Bd. Leipzig) Übrigens kein Autor für Ihren Verlag! —
Kennen Sie etwas von dem englischen Philosophen Herbert Spencer? (hochberühmt in England Amerika Frankreich und Italien, höchst lehrreich für uns, weil er inmitten ungeheurer englischer Material-Sammlungen sitzt)
Von ihm erschien in diesem Jahre the data of ethics. — Wenn Sie einen Übersetzer wüßten, so würde es gewiß lohnend sein, dies Werk in Deutschland einzuführen (Es sind frühere Werke schon übersetzt erschienen zb. bei Brockhaus) Um die Autorisation des Original-Verlegers müßte man sich gewiß rasch bewerben. (Es wäre der beste Gegenschlag gegen Hrn von Hartmanns letzte Unverschämtheit „Prolegomena zu jeder zukünftigen Ethik“!!)
— Freiexemplare bitte ich in meinem Namen abzusenden an
Hr Prof. Overbeck und
Frau Overbeck
Frau Rothpletz in Zürich
Frau Baumgartner in Lörrach
Dr. Rée in Stibbe
Dr. Romundt in Osnabrück
Prof. Jakob Burckhardt in Basel
Bibliothek in Basel per adr.
Herrn Biblioth<ekar> Dr. Sieber
Prof. Heinze in Leipzig (mit dem Titel „Hofrath“ —)
Ms le professeur Gabriel Monod in Paris
Vielleicht fallen mir noch ein paar Personen ein. Hr. Widemann und Hr. Köselitz „verstehen sich von selber“. Die genaueren Adressen haben Sie wohl noch?
Ergebensten Gruß
Dr F Nietzsche.
908. An Elisabeth Nietzsche in Chur (Postkarte)
<Naumburg, 23. November 1879>
Meine liebe Schwester, ich bin sehr erfreut und dankbar für die Art, wie Du an Overbecks Geburtstag gedacht hast. Deine Briefe sind mir voller Interesse, bitte schreibe so ausführlich, wie bisher, auch wenn ich so einsilbig bleibe und bleiben muß, wie bisher. Die Augen vertragen gar nichts mehr (eine Kur dafür giebt es nach Gräfe’s sehr bestimmter Erklärung, nicht: nur Schonung, um den unvermeidlichen Prozeß möglichst in die Länge zu ziehn. Die Verdunkelung durch Blutzudrang ist etwas ganz Anderes und etwas sehr Heilbares, in Sorrent litt ich selber etwa 2 Monate stark daran) Ein paar helle kalte Nachmittage abgerechnet, war mein Kopf fortwährend schmerzhaft und mehreremale in hohem Grade. Geduld!?!
Von Herzen Dein Bruder.
909. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz (Postkarte)
<Naumburg, 25. November 1879> Dienstag.
Wollen Sie etwas zur Anzeige von Dr. Rée’s Buch beifügen, so empfehle ich dafür die Worte aus der Jenaer Litteraturzeitung (von 1877 oder 78?), wo Rée als „junger Spinoza“ bezeichnet wird. Diese gelehrte Zeitschrift wird von der Universität Jena herausgegeben.
Heute sandte ich Ihnen den 8ten Bogen zu.
Herzliche Grüße.
F N.
Ein Citat aus der genannten Recension der Jenaer Litt<eratur>z<ei>t<u>ng ist das wirksamste, was Sie für jenen Zweck sich wünschen können.
910. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz (Postkarte)
<Naumburg, 27. November 1879>
(B<ogen> 9)
p. 135 muß es heißen:
um gute Bücher zu lesen und zu schreiben (usw. wie in der Correctur)
Dankbarsten und theilnehmendsten Gruß für den eben erhaltenen sehr interessanten Brief.
Der Ihrige F. N.
911. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz
<Naumburg,> 7 December 1879.
Eine schreckliche Woche hinter mir, daher Verzögerung zu entschuldigen!
Das Geld dankbar erhalten.
Mit herzlichem Gruße
der Ihrige
F Nietzsche
912. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Naumburg, 11. Dezember 1879>
Ich ängstige mich um Ihr Befinden in dieser Schnee-Welt. Mir selber geht es so schlecht, daß ich in 14 Tagen nach Riva (Gardasee) aufbrechen muß, um in meine einzige Existenzform, die des Spazierengehens zurückzufallen. — Morus’ Utopie mir unbekannt, J. Burckhardt sprach mir einmal begeistert davon, sie habe den Blick der Zukunft, während Macch<iavelli>’s principe nur den Bl<ick> der Vergangenh<eit> und Gegenwart habe. — Sobald ich Sie mir den Nachsommer lesend vorstelle, bin ich glücklich: eigentlich hatte ich’s mir auf unser Zusammensein aufsparen wollen; bestimmt für Sie war das Buch, seitdem ich es kenne. — Alles ist eingetroffen! Wie warm und gut gehegt fühle ich mich, wenn ich Ihre Correcturen und Winke lese! Ich empfand nie anders dabei! —
Treulich und dankbar
F N.
913. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Naumburg, 11. Dezember 1879>
Seit letzten Nachrichten immer krank, die Anfälle fürchterlich (mit Erbrechen usw), viele Tage zu Bett. In 2 Wochen werde ich nach dem Süden (nach Riva) abreisen, womöglich! Ich halte nur die Spaziergehe-Existenz aus, die jetzt bei diesem Schnee, dieser Kälte mir hier versagt ist. Kannst Du mir bis dahin noch 4 Hundert Markscheine zusenden? Nächste Woche trifft M. Twain bei Dir ein, ebenso eine Erinnerung an meinen St. Moritzer Aufenthalt. Hoffentlich hat Deine liebe Frau nun Linderung ihrer Augenleiden; ich konnte ihr noch nicht für ihren Brief danken! Schmeitzner ist zu totaler Verschwiegenheit in Betreff der St. Beuve Übersetzerin veranlaßt worden. Hast Du Schm<eitzner>’s „ersten Verlagsbericht“ gesehn? Meine Freude ist groß, daraus zu erfahren daß das 2te Heft Deiner „Studien“ in Jahresfrist versprochen ist. — Ich danke Dir von Herzen für Deine Briefe und wünsche ein gutes Weihnachten.
F. N.
mit seiner Mutter.
914. An Franz Overbeck in Basel
<Naumburg,> Freitag d. 12 Dec. <1879>
Schönsten Dank, lieber Freund, meine Karte gieng Vormittags ab und Dein Brief kam Abends —. Geduld — es ist viel zu tragen! — Meiner Schwester dagegen geht es ordentlich.
In herzlicher Liebe
Dein F. N.
Nun werde ich Dr. Rée doch nicht zu sehen bekommen!
Erdbebentag war auch für mich ein non!-plus!-ultra!-Tag des Leidens.
915. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz
<Naumburg,> 18 Dec. 1879.
Ein Wort des Dankes, werthester Herr Schmeitzner, zugleich mit meinen Wünschen zu Ihrem Geburtstage, der in diesen Tagen sein muß. Sie haben sich mit Ihrem „ersten Verlagsbericht“ ein schönes Geschenk gemacht: gute Saat, die hoffentlich eine gute Ernte bringt! Der Bericht ist vorzüglich geschrieben, sehr vornehm ((ich sehe augenblicklich davon ab, wie von mir darin geredet wird: möge es wahr werden! möchte es wahr sein! usw. usw.))
Ich leide außerordentlich und beständig, Anfälle über Anfälle. Ich denke an eine Flucht nach dem Süden — vielleicht nach dem Gardasee. Aber vielleicht giebt es keinen „Süden“ mehr.
Meine besten und herzlichsten Grüße an unsern gemeinsamen Freund Widemann.
Der vollendete „Wanderer“ ist mir fast etwas Unglaubliches — am 21 Juni kam ich nach St. Moritz — und heute — !
Die ganze „Menschlichkeit“ mit den 2 Anhängen ist aus der Zeit der bittersten und anhaltendsten Schmerzen — und scheint mir doch ein Ding voller Gesundheit. Dies ist mein Triumph.
Ihr Ihnen ganz ergebener
Dr. Nietzsche
Exemplare, bitte, noch zu senden an
Prof. Hillebrand in Florenz
Frl. v. Meysenbug in Rom
Prof. Rohde in Tübingen (Universität)
meine Schwester per adr. — Fräulein
Deta von Planta in Chur
(Graubünden)
916. An Marie Baumgartner in Lörrach (Postkarte)
<Naumburg, 28. Dezember 1879>
Der erste Wiederhall meiner Mittheilung an die Freunde kam von Ihnen, verehrte Frau: dankbar und Sie segnend las ich jedes Wort.
Mein Zustand ist so fürchterlich und unheimlich wie nur je. Daß ich die letzten 4 Wochen überlebte, begreife ich nicht.
Ihnen die herzlichsten Neujahrsgrüße sendend und Ihres lieben Sohnes Hoffnungen mit einschließend bin ich
Ihr getreuer
F. N.
917. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
Naumburg den 28 D<ezember 1879>
Lieber Freund, noch fehlen mir die Nachrichten aus Riva. Mein Zustand war inzwischen zum Entsetzen. Man will mich nicht fortlassen, indeß — meine Frage ist nur, ob ich fort kann. — Wir haben viel Gutes zwischen uns als Gemeingut, jeder Brief zeigt es mir, und wenn es mir ganz schlimm geht, erscheinen Sie mir immer als mein „Überlebender.“
Von Herzen der Ihre
F. N.
918. An Elisabeth Nietzsche in Chur (Postkarte)
<Naumburg, 28. Dezember 1879>
Meine liebe liebe Schwester, es sind Zeiten so hart und furchtbar für mich, wie nur je welche. Der letzte Anfall mit dreitägigem Erbrechen, gestern eine Ohnmacht. Nie habe ich so das regelmäßige Schlimmerwerden so beobachtet wie in den letzten 3 Monaten. Kälte ist mir sehr schädlich. Ich will, sobald ich kann, mit Köselitz in Riva zusammentreffen, Nachrichten von dort erwarte ich noch. Dein Recept war leider ohne Wirkung, ebenso Eisbeutel. Senffußbäder kenne ich reichlich aus Sorrent, nutzlos! Ich freue mich auf Deine Geschenke, meine herzensliebe Schwester.
Dein Bruder
919. An Franz Overbeck in Zürich (Postkarte)
<Naumburg, 28.Dezember 1879>
Der Zustand war zum Entsetzen, der letzte Anfall von dreitägigem Erbrechen begleitet, gestern eine bedenklich lange Bewußtlosigkeit. Wenn ich nicht in bessere und wärmere Luft fortkann, kommt es zum Äußersten. Alle Deine Briefe und Sendungen sind da, theurer Freund, ich danke Dir für Deine Liebe. Rohde hat einen herrlichen Brief geschickt. Deinen Lieben im Falkenstein und Dir selber den herzlichsten Neujahrsgruß von Deinem Freunde.
920. An Erwin Rohde in Tübingen
<Naumburg, 28. Dezember 1879>
Habe Dank, theurer Freund! Deine alte Liebe, neu besiegelt — das war das köstlichste Geschenk am Abende der Bescheerung. Selten ist mir’s so gut gegangen: gewöhnlich war das persönliche Schlußergebniß eines Buches für mich, daß ein Freund mich gekränkt verließ (wie es mein Schatten macht) Ich kenne das Gefühl der freundelosen Vereinsamung recht gut, das herrliche Zeugniß Deiner Treue hat mich ganz erschüttert. — Mein Zustand ist jetzt wieder zum Entsetzen, die Thierquälerei abscheulich — sustineo abstineo und wundere mich selber darüber.
Von Herzen Dein
F. N
921. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz (Postkarte)
<Naumburg, 28. Dezember 1879>
Können Sie mir die Überseztung von Spencer’s Data of Ethic’ verschaffen? Dann möchte ich wissen, was alles von Bagehot in’s Deutsche übersetzt ist.
Auch hätte ich gern aus einem Antiquariat eine deutsche Übersetzung von Labruyère. Ebenfalls von Milton (aber nur bei gutem Druck.)
Mein Zustand ist inzwischen fürchterlich und unheimlich gewesen.
Ein gutes Neujahr für Sie, lieber Herr Verleger.
922. An Elisabeth Nietzsche in Chur
<Naumburg, 29. Dezember 1879>
Ein Wort und nicht mehr, meine geliebte Schwester. Ei wie schön hast Du mich beschenkt, nur ist der Koffer für den bescheidenen „kranken Lehrer“ zu stolz; vielleicht wird er mit mir nicht reisen wollen!
Es liegt eine schwere schwere Last auf mir.
Im letzten Jahre hatte ich 118 schwere Anfallstage. Schöne Statistik! —
In herzlicher Gesinnung
Dein Bruder.