1879, Briefe 790–922
885. An Elisabeth Nietzsche in Tamins
<Naumburg, kurz vor dem 25. September 1879>
Meine geliebte Schwester, seit unserm Wiedersehen und Auseinandergehen hat mich meine Krankheit ziemlich gnädig behandelt, so daß ich anfange, der St. Moritzer Kur mit Dankbarkeit zu gedenken. Das Naumburger Wetter ist nicht so hellherbstlich, wie ich es vom vorigen Jahre her im Gedächtniß hatte, und der große Abstand der Engadiner Höhenluft und der hiesigen feuchten Milde ist mir sehr bemerklich, doch nicht unangenehm; ich leide an Gedankenlosigkeit und bin im Grunde mit diesem Leiden zufrieden. Denke Dir, daß ich jetzt den Besuch des Dr Rée hätte haben können und daß die Vernunft die zu erwartenden Freuden der Vernunft widerrieth; mir als dem Freunde wurde der Entschluß sauer und bitter. — So viel von mir, der übrigens, wie Du vermuthen kannst, mit schönen Speischen und Spaziergängelchen und Novellchen verwöhnt wird — der Berg-Einsiedler vom Sommer. — In Betreff Deiner nicht uninteressanten, aber vielleicht nicht allzu ergötzlichen Lage (— für gefährlich sehe ich sie durchaus nicht an) glaube ich, obschon ganz unmaaßgeblich, daß wenn Ihr Beide miteinander in’s Plänemachen gerathet, auch die häßlichen Gemüths-Trübungen seltner werden dürften: man muß die Zukunft etwas gegen die Vergangenheit in den Kampf führen und die Freuden eines lernenden reisenden wohlthätigen Lebens mit der Phantasie vorwegzunehmen verstehen. Wahrscheinlich spreche ich von Dingen, die Du eben ausübst; aber das ist die beste Art von Rathschlägen, die zu spät kommt. An seinen (vermeintlichen) Feinden sich durch Wohlthaten und Artigkeiten rächen — dazu könntest Du vielleicht auch die Arme anreizen; Kranke wollen Recht behalten und in solchem Falle auch ihre Rache haben. — Gestern kam ein Spottgedicht eines österreichischen Dichters auf mich an, es war gut und nicht unartig. Wenn Du diesen weisen Brief erhältst, wirst Du vielleicht Lust haben daran fortzudichten — ich bin’s zufrieden und verdiene es.
In herzlicher Liebe Dein Bruder.