1879, Briefe 790–922
887. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Naumburg, 30. September 1879>
Die letzten Blätter aus dem Engadin sende ich als „Manuscript“ und „einge schrieben“: die billigste und zuverlässigste Versendungsart, wie mir Postbeamte sagten. — Hier in Naumburg will ich keine Gedanken haben und jedenfalls keine aufschreiben: letzteres wenigstens ist Sache des Willens. — Der Gesammteindruck des Neuesten, wie Sie, mein erster und letzter Leser bisher — das sind Sie ja unbedingt in Bezug auf M<enschliches> Allzum<enschliches> — ihn empfunden haben, entspricht so sehr meinem innersten Wunsche, daß ich vermuthe, unsre Seelen-Verwandtschaft sei dabei im Spiele. Lieber Freund, Sie wissen doch, daß Sie, je mehr Sie mit mir zusammenstimmen — und wünschen, auch an meiner Last zu tragen haben und daß Sie alles einmal gut und sehr gut machen müssen, was ich schlecht und versuchsweise gemacht habe? Sie haben viel Noth* mit mir — daran denke ich, so oft ich an Sie denke.
F. N.
Ich habe der Stadt Naumb<urg> ein kleines burgartiges Stück der mittelalterl<ichen> Stadtbefestigung abgepachtet, um hier Gemüse zu bauen — auf 6 Jahre (! — !), wie es Brauch ist. Alles ist grün und buschig umwachsen; in einem Thurme der Mauer wird ein langes Zimmer (sehr alterthümlich —) für mich zum Wohnen hergerichtet. Ich habe 10 Obstbäume, Rosen Lilien Nelken Erdbeeren Stachel- und Johannisbeeren. Im Frühjahr geht meine Arbeit an, auf 10 Gemüsebeeten. — Alles ist mein Gedanke, und ich habe Glück dabei gehabt. Bei diesen Zukunftsspinnereien spinne ich mitunter auch den lieben Freund in Venedig mit in mein Thurm-Netz hinein — sehr dreist, nicht wahr? —
Eben jetzt, Dienstag Morgens, kommt zu meiner großen Freude, Ihre Abschrift in meine Hände; augenblicklich bin ich ganz Dankbarkeit gegen Sie — und weiter nichts mehr! Auch die begleitenden Worte Ihrer Karte erquicken mich, ich habe ganz und völlig das Urtheil über meine Sachen eingebüßt, weil ich zu wenig mit Menschen verkehre und keine Bücher lese. Mitunter fürchte ich zu sagen, was alle Welt weiß. Sie machen mir Muth.