1877, Briefe 585–674
585. An Sophie Ritschl in Leipzig
<Sorrent, Januar 1877>
Verehrteste Frau,
Nur andauernde Krankheit und das wirkliche Unvermögen Briefe zu schreiben konnte der Grund sein, welcher mich abhielt, so lange Zeit abhielt, Ihnen mein tiefstes Mitgefühl zu erkennen zu geben; denn ich habe auf ein Jahr Basel verlassen und hier in Sorrent Genesung suchen müssen und fange eben erst an, die Gesundheit aus der Ferne zu sehen.
Wie oft ist die Gestalt des grossen geliebten Lehrers an mir seit jener Trauerbotschaft vorübergeschwebt, wie oft durchlief ich im Geiste jene nun schon so fernen Zeiten eines fast täglichen Zusammenseins mit ihm und erwog die zahllosen Beweise seiner wohlwollenden und wahrhaft hülfreichen Gesinnung. Ich bin glücklich, noch aus dem letzten Jahre ein kostbares Zeugniss seiner unveränderten Milde und Herzlichkeit für mich in einem Briefe zu besitzen und mir vorstellen zu dürfen, dass er, auch wo er mir nicht Recht geben konnte, mich doch vertrauensvoll gewähren liess. Ich glaubte, dass er den Tag noch erleben würde, da ich ihm öffentlich den Dank und die Ehre geben könnte, so wie es längst mein Herz wünschte, und in einer Art, dass auch er vielleicht sich daran hätte freuen können. Heute trauere ich nun an seinem Grabe und muss, meiner üblen Gesundheit nachgebend, auch mein Todtenopfer noch auf eine unbestimmte Zukunft verschieben.
Was mit ihm, abgesehen von allem persönlichen Verluste, überhaupt verloren gegangen ist, ob nicht in ihm der letzte grosse Philologe zu Grabe getragen wurde — das weiss ich nicht mit Sicherheit zu beantworten. Aber ob die Antwort so oder ganz anders ausfalle — dass in seinen Schülern eine nie erhörte Fruchtbarkeit seiner Wissenschaft verbürgt sei — jede Antwort fällt zu seiner Ehre aus: es ist ein gleich grosser Ruhm, der letzte der Grossen oder der Vater einer ganzen grossen Periode zu heissen.
Empfangen Sie die wärmsten Wünsche eines Ihnen immerdar aufrichtig ergebenen und mit Ihnen trauernden Freundes.
Ihr
Friedrich Nietzsche.
586. An Heinrich Köselitz und Paul Widemann in Basel (Postkarte)
<Sorrent, 8. Januar 1877>
Ja, werthe Freunde, wir verstehen uns, meine ich, viel zu gut als dass über diese Zeitschriftensache viel Worte meinerseits von Nöthen wären. Erstens: R. W<agner> hat das Fürchten, aber leider auch das Warten nicht gelernt. In 4 Jahren, hoffte ich bisher, würden genug Menschen beisammen sein, um das Unternehmen in grösserem Style beginnen zu können. Nun soll es aber jetzt geschehen: wobei mich die Furcht einer fausse couche beschleicht. Indessen: ist Hr. Schmeitzner entschlossen, so müssen wir Alle zusehen und mithelfen, dass die Sache gut läuft. — Herzliche Neujahrswünsche von Herzen erwiedernd
Ihr F. N.
587. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Sorrent, 8. Januar 1877>
Wirklich bekam ich die schönen Neujahrsbriefe am Neujahrstage, zurückkehrend von einer gemeinsamen Landpartie, welche den ganzen Tag währte, bei schönstem Wetter und einer bezaubernden Ansicht des Golfs; wir waren auf einem der königl. Schlösser. Es geht mir jetzt besser, eine 5 Wochen fortgesetzte Kur mit inneren Nasendouchen hat Erleichterung gebracht: so dass ein Kopfcatarrh vielleicht bei dem ganzen Leiden im Spiele ist. Viel Schnupfen ist jetzt mein Heilmittel. Schönsten Dank für Bennoni. Was macht das Wiener Paket? Von Allen herzliche Grüsse.
588. An Marie Baumgartner in Lörrach (Postkarte)
<Sorrent, 9. Januar 1877>
Neben dem wärmsten Danke für Ihre Briefe und für zwei solche Briefe habe ich heute nur zu melden, dass allen guten glückwünschenden Empfindungen befreundeter Menschen meine Gesundheit wirklich zu entsprechen beginnt: mehr wage ich noch nicht zu sagen. Die Adresse von A. Metschersky, der jetzt wieder in Petersburg ist, sende ich nächster Tage. Ich bitte also für Fr. Diodati, Ott, Nat. Herzen. (Liszt und Dönhof überflüssig vielleicht, ich weiss die Adressen nicht)
Dann:
Ms. Schuré, Paris 104 rue d’Assas.
Princesse Carolyne de Sayn Wittgenstein, Roma 89 via Babuino
Madame Laura Minghetti, Roma
Marchese Anselmo Guerrieri-Gonzaga, Roma 5 via Rasella 152
Alexandre Herzen, Firenze 2 via Lorenzo magnifico
589. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Sorrent, 20. Januar 1877>
So plötzlich geht es nicht bei einem jahrelang verschleppten Übel! Wieder 2 Tage zu Bett, auch hinterdrein noch schlimme Tage. — Vielen Dank für Benoni und Reuter’s Schrift (brave Gesinnung, guter Kopf, abscheuliche Darstellung). Über Dr Förster’s Besuch gefreut (wir mögen seine Brüder nicht recht) Danke sehr für Deine Briefe, alle angekommen. Die „Schule der Erzieher“ (auch modernes Kloster, Idealkolonie, université libre genannt) schwebt in der Luft, wer weiß was geschieht! Wir haben Dich schon im Geiste zum Vorstand aller wirthschaftl. Angelegenheiten unsrer Anstalt von 40 Personen ernannt. Du mußt vor allem italiänisch lernen!
590. An Marie Baumgartner in Lörrach (Postkarte)
<Sorrent, 27. Januar 1877>
Verehrteste Frau, es beunruhigt mich ein wenig, was der Übersetzung widerfahren sein mag, dass sie immer noch nicht erscheint. — Inzwischen ist Dr. Rée’s Manuscr. an Schmeitzner abgegangen. — Ich habe manche schlechte, doch auch einige gute Tage hinter mir. Doch kann ich nicht lesen. Langsame Besserung; und der Zweifel, ob es wieder gut wird, nicht überwunden. — Hat Frau Cos. W<agner> Ihren „Schopenh.“ zurückgeschickt? — Von Schuré ist ein Band Gedichte erschienen. Kennen Sie Romane von Daudet? Wir haben Voltaire Diderot Michelet Thukydides vorgehabt.
Meine allerbesten Wünsche!
Ihr F N.
591. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Sorrent,> 27 Januar 1877.
Meine herzlichsten Glückwünsche voran, meine geliebte Mutter; wir wollen zusammen wünschen, daß Dein kommendes Lebensjahr mehr von Leid Verlust und Sorgen verschont bleiben möge als das vergangene.
Einen eigentl. Brief kann ich nicht schreiben, es greift mich so an, daß ich es immer ein Paar Tage zu büßen habe (so wie neulich als ich endlich der armen Frau Ritschl schreiben mußte) Es gab immer wieder schlechte Tage und Stunden; in summa glaube ich aber, es geht vorwärts, nur soll niemand glauben, daß es auf einmal gut gehe. Wir haben es jetzt auch ein Bischen frisch und windig. Meinem Kopf scheint es immer noch an Blut zu fehlen; ich habe die letzten 10 Jahre zu viel nachgedacht (was bekanntlich mehr angreift als wenn man nur „zu viel arbeitet“: obwohl ich dies auch gethan habe.)
Wo mag nur die französ. Übersetzung meiner Schrift über Wagner bleiben? — Man liest mir jetzt Lorenzo Benoni vor, wir freuen uns alle daran.
Dr Rée hat sein Manuscript „über den Ursprung der moralischen Empfindung“ an Schmeitzner geschickt. — Brenner hat hübsche Novellen geschrieben, Frl. von Meysenbug arbeitet an einem Roman. — Es ist möglich, daß Fürst Lichtenstein sich unsrer kleinen Gemeinde anschließt. Später kommen Seydlitz und Frau, schon angekündigt; auch einige römische Damen.
Ich werde Euch später lehren, wie man Risotto macht, das weiß ich nun.
Zuletzt meinen schönsten Dank für Deinen unterhaltenden langen Brief
Dein Fritz.
592. An Marie Baumgartner in Lörrach
<Sorrent, 2. Februar 1877>
Verehrteste Frau
was für eine Freude haben Sie mir, und uns Allen gemacht! Wir können uns gar nicht darüber beruhigen, wie gut die Übersetzung gelungen ist; Fräulein von Meysenbug meinte immer wieder, es klinge als ob man einen der besten französischen Autoren höre, und ich selber bin fast überzeugt, dass die Übersetzung besser verstanden wird als das Original; ja wir Alle meinen, vielleicht sei Schmeitzner sehr klug gewesen: der Dampfer der Übersetzung nehme das etwas schwerfällige Lastschiff des Originals in’s Schlepptau. Es ist eine wirklich artistische Leistung, so dass ich mich über mein Glück, einer solchen Übersetzerin und Sprachbildnerin zu begegnen, nicht genug wundern kann; die Vereinigung von grösster Deutlichkeit mit Schönheit und Zartgefühl des Ausdrucks ist gewiss etwas Seltenes. Es war so leicht meine Gedanken in einer fremden Sprache noch zu verdunkeln; in der That, ich fürchtete immer etwas die pathetische Rhetorik des modernen Französisch. Aber Ihnen ist es gelungen, mich zu erhellen. das macht mich sehr froh. Ausserordentlich schön ist z.B. der Schlusssatz von p. 19, dann auf p. 21 „de personnifier, de vivifier“ Dann p. 66. Das ganze VII Capitel, für das ich Grund hatte zu fürchten, sehr schön! Viele glückliche Einfälle und Erfindungen! Ich hebe noch p. 123 hervor; schon weiss ich dass ich täglich noch neue Überraschungen haben werde; bis jetzt konnten wir nur einen Theil zusammen lesen, und ich habe für mich das Ganze überschaut.
Nehmen Sie heute mit dieser Danksagung, welche ich Ihnen aus vollem Herzen ausspreche, fürlieb.
Ihrem Herrn Gemahl und meinem lieben Adolf die besten Grüsse.
Treu ergeben
Ihr
Friedrich Nietzsche.
Ein Wort von meinem Befinden: denken Sie dass meine Augen in fast plötzlicher Weise so abgenommen haben, dass ich fast gar nicht lesen kann! Höchstens noch, wenn die Buchstaben so gross sind wie in Ihrem merkwürdig schön ausgestatteten Buche.
593. An Ernst Schmeitzner in Schloßchemnitz (Postkarte)
<Sorrent, 2. Februar 1877>
Werther Herr Verleger, ausser dem Danke für Ihre briefl. Mittheilungen bin ich Ihnen für die franz. Übersetz. grossen Dank schuldig; dieselbe ist ausserordentl. gelungen und wird von competenten Personen als ein Meisterstück bezeichnet: aber die Ausstattung ist entsprechend. Hoffen wir, dass „Europa“ sich günstiger zeigt als Germania. — Ich bitte Sie um den ersten Band jenes Industriewerkes; sodann um: Spir, Denken und Wirklichkeit, Leipzig Findel (?) — Wollen wir nicht die Unzeit<gemässen> Betr<achtungen> als abgeschlossen betrachten?
Ihr F. N.
594. An Marie Baumgartner in Lörrach (Postkarte)
<Sorrent, 4. Februar 1877>
Hier, verehrte Frau, ein paar Feldblumen aus Sorrent. Wir alle senden Ihnen den Ausdruck unserer Verehrung und Bewunderung, denn die letzten Abende haben wir immer mit neuem Erstaunen in Ihrem Buche gelesen. Brenner hat die Blumen am felsigen Ufer gesucht, Frl. v. M<eysenbug> sie geordnet.
595. An Heinrich Köselitz in Basel (Postkarte)
<Sorrent, 8. Februar 1877>
Lieber Freund, eine kleine Belästigung durch eine Bitte! Ich wünsche von Memmel-Tripet, meinem Buchbinder ein Buch
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liniirtes Papier, dessen Zeilen diese Entfernung haben:
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Sie kennen es. Wollen Sie mir dies in Quart brechen (ja nicht rollen!) und unter Kreuzband zusenden? Noch immer Villa Rubinacci. Herzlich grüssend Ihr F.N.
596. An Reinhart von Seydlitz in Davos
<Sorrent, Mitte Februar 1877>
Lieber guter Freund, nichts als eine Anfrage — ausser dem allerherzlichsten Danke für Ihren Brief. Geht es Ihrer Gesundheit so gut und förderlich, um Bestimmungen über das Frühjahr treffen zu können? Ich hoffe und wünsche es aus ganzem Herzen. — Mich würden Sie nach wie vor in Sorrent finden. Meine beiden Freunde und Begleiter verlassen mich Ende März, und ich bleibe mit Frl. von Meysenbug (welche sich dankbar Ihrem verehrten Kreise empfiehlt) allein hier zurück.
Meinen Augen geht es schlechter, meinem Kopfe nicht wesentlich besser — also, mit altitaliänischer Wendung (welche ein päpstlicher Nepote zuerst gebrauchte; die Gerichtsdiener kamen, ihn zum Tode zu führen) „Va bene, patienza!“
Die Tage sind ausserordentlich schön; eine Mischung von Meer- Wald- und Bergluft herrscht hier, und viele halbdunkle stille Wege giebt es. Manche Pläne gehen uns Beiden (Frl. v. M<eysenbug> und mir) durch den Kopf, und Sie kommen immer mit darin vor.
Vor allem: wenn man keine Gesundheit hat, soll man sich eine anschaffen. — Haben wir sie aber, dann soll noch manches Gute zu Stande kommen, nicht wahr?
Treulich der
Ihre
Friedrich Nietzsche
Sorrent, Villa Rubinacci
(eventuell können Sie hier Wohnung finden)
597. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Sorrent, 18. Februar 1877>
Meine liebe Mutter, es schmerzt mich, durch eine Briefstelle Anlaß gegeben zu haben, daß Ihr unter einander etwas Verdruß hattet; genug, ich hatte gar nichts dabei gedacht und beabsichtigt. Ich schrieb an F<rau> R<itschl>, weil ich es für nöthig hielt, ebenso wie ich an Frau Gerlach schon vor Weihnachten und an Frau Brockhaus kürzlich geschrieben habe. Daß es mich angegriffen hatte, dafür könnt Ihr nichts; also — ich bitte um Entschuldigung.
Mein Befinden ist wieder sehr schlecht gewesen, fast desperat. Es gab Tage, wie um Weihnachten voriges Jahr. Innerhalb einer Woche lag ich 2 mal zu Bett, mit heftigen Schmerzen. — „Flimmern“ ist ein falscher Ausdruck für den Zustand meiner Augen. Ich kann nicht lesen, die Worte werden zu Klumpen.
Prof. Schiess, darüber consultirt, fand es beunruhigend, wenn es nicht bald weichen wollte; er empfahl mich in Neapel ärztlich zu berathen. (Neapel hat eine ausgezeichnete medicinische Fakultät an seiner Universität) Ich war dort und conferirte mit dem berühmtesten Arzt, Professor Schrön; und jetzt bin ich wieder ordentlich in Kur. Nach drei Monaten soll ich wieder kommen, wenn inzwischen keine neuen Symptome kommen. Alle Mittel wirken bei solch einem vorgeschrittenen Zustande meines Kopfleidens sehr langsam. Die Erklärung mit einem Kopfkatarrh ist nichts, vielmehr weiß ich jetzt sehr genau, wie das Übel beschaffen ist. Die erste ganz sorgfältige Untersuchung und Besprechung!
Sorrent ausgezeichnet zur Kur; namentlich als Augenkurort mit Recht gerühmt.
Meinen herzlichsten Dank für Alles Geschriebene und Mitgetheilte. (Ich selber kann nicht recht lesen was ich schreibe: Verzeihung, wenn alles sehr unordentlich aussieht)
mit herzlichen Grüßen
Dein F.
598. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Sorrent, 21. Februar 1877>
Liebe gute Schwester, glaube nur, immer die herzlichste Empfindung, das alte Zutrauen gegen dich! Es giebt gar kein Mißverständniß. Es that mir wehe, solchen Hoffnungen und Wünschen nicht entsprechen zu können; und bei jedem Briefe gab es mir einen Stich, zu hören, wie bestimmt Ihr mich erwartet, wie schon das Datum (Anfang April) bestimmt und die Wohnung gemiethet ist. Ich konnte ja gar nicht an’s Reisen denken! Frl. v. M<eysenbug>, die über Italien viel Erfahrung hat, konnte Dich besser aufklären als ich, zumal ich nicht lang schreiben kann. — Es geht nicht gut. F. N.
Herzl. Dank der guten Mutter für Ritschl.
599. An Reinhart von Seydlitz in Davos
Sorrent, villa RubinacciEnde Februar 1877.
Lieber Freund
die gegenseitigen Versicherungen unsrer hoffnungsvollen Neigungen haben sich gekreuzt: dankbar nehme ich das gute Wahrzeichen an.
Ich bedarf solcher Nachrichten, wie Sie sie mir geben, denn mein Befinden war zuletzt wieder schlecht und erweckte den bösen Geist der Ungeduld in mir.
In Neapel suchte ich den ausgezeichneten Arzt Professor Schrön, an der Universität, auf; ich empfehle denselben nach dem Rufe den er geniesst und der Erfahrung, welche ich jetzt von ihm habe. Aber Sie haben die Wahl noch zwischen 6 andern deutschen Ärzten. Auch in Sorrent ist ein guter deutschsprechender Arzt. Die medicinische Facultät in Neapel ist überall geachtet und erzieht tüchtige Ärzte. Die Fremden beginnen nach Sorrent zu strömen; der März gilt sogar als der Monat, welcher die allermeisten bringt. Dass es stürmisch hier sein kann, haben wir eigentlich erst in den letzten Tagen erfahren. Dem März sagt man nach, dass er die schöne Jahreszeit beginne, aber ein paar windige Tage dürften doch kaum ausbleiben. Es giebt so gute verdeckte Spaziergänge zwischen Orangengärten, dass es einem darin immer windstill zu Muthe wird und man nur aus der heftigen Bewegung der Pinien über einem sieht, wie es draussen in der Welt stürmt. (Wirklichkeit und Gleichniss unseres hiesigen Lebens — wahr in beidem)
Dass ich bleibe, dass ich Sie erwarte, wissen Sie schon; Frl. von Meysenbug wird selber schreiben, ich glaube Sie haben sehr viel Freude durch Ihren Brief gemacht, gemischt mit jener Verwunderung, wie auch ich sie empfand, welche immer wieder fragt: ist es nur möglich? Solche Menschen leben? Und warum schenken sie uns diese Liebe? Verdienen wir sie? (ich rede von mir und frage ernstlich noch zuletzt: werden Sie sich nicht täuschen? Der Himmel weiss, Sie werden einen sehr einfachen Menschen finden, welcher von sich keine grosse Meinung hat)
Und nun alles Herzliche und Gute
dem neuen Freunde kräftig angewünscht von
Friedrich Nietzsche
600. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Sorrent, 12. März 1877>
Seit 3 Wochen Winter oder unaufhörliches Regenwetter mit starken Winden. Der Vesuv tief eingeschneit. Der arme Vetter Albrecht war zweimal in Sorrent bei schlimmem Wetter: einen Abend war er bei uns. In 2—3 Wochen reisen Dr Rée und Brenner ab. Seydlitz, mir sehr befreundet, kommt um dieselbe Zeit hier an, mit seiner Frau. — In Bayreuth ist der alte Dekan begraben. Gersdorff ist in die diplomat. Carrière eingetreten. Rohde verheirathet sich Pfingsten. Overbecks Mutter ist gestorben. — Mir geht es im Ganzen nicht besser, aber ich hoffe auf die bessere Jahreszeit. Ich sende Dir und meiner guten Schwester dankbare Grüße.
601. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Sorrent, 26. März 1877>
Ein böser Monat, mit ewigem Regenwetter und Sturm. Aber die gute Zeit ist vor der Thür. Wir waren in Capri, ohne viel Glück; ich einen Tag krank, wie bei jeder kleinen Reise. Wenn ich nur daran glauben könnte, dass es allmählich besser würde! Ich merke es nicht. Aber der sehr bedenkl. Zustand der Augen ist gewichen, das ist gut. Herzlichen Dank für den guten Brief. Und gute Wünsche! Rée und Brenner reisen am 2t. April
602. An Franz Overbeck in Basel
<Sorrent,> 26 März 1877.
Lieber guter Freund, ich war gerade die ganze letzte Zeit, durch eine Verschlimmerung meines Augenleidens, nicht in der Verfassung des Lesens und Schreibens; so konnte ich nur in stiller schweigsamer Theilnahme Deinen Schmerz ehren, Deinen grossen Verlust beklagen und mich im Allgemeinen verwundern, wie der Mensch doch weiterlebt, wenn ihm die natürlichen Wurzeln abgeschnitten werden. Ich schloss daraus, dass er viel mehr Wurzeln haben müsse als er gewöhnlich annimmt; verliert er welche, so schafft er sich neue. Dabei dachte ich an Deine Ehe und meine, dass Dir dieselbe als beste Trösterin genützt haben wird. Schrieb ich Dir, dass ich meine Grossmutter verloren habe?
Mein Befinden erweckt mir viel Bedenken, ich sah die Nothwendigkeit ein, mich wieder der ärztlichen Hülfe anzuvertrauen und bin jetzt unter der Obhut des Professor Schrön (Universität Neapel) Einsalben des Kopfes mit Narcein, dann Gebrauch von Brom Natrium, nebst einigen diätetischen Vorschriften; nach drei Monaten soll ich berichten. In der That geht es jetzt den Augen wieder besser (ich war vollständig ausser Stande zu lesen)
Der letzte Monat war sehr schlecht, Kälte Sturm Regen fast unablässig. Rée und Brenner reisen Ende März ab. Seydlitzens kommen zu uns. Wir bleiben hier. — Rohde heirathet Pfingsten. Gersdorff’s Sache steht nicht gut.
Grüsse, mein lieber Freund, Deine Frau, dann Frau Baumgartner, Baumann, auch Immermanns.
Dem guten Köselitz bin ich Dank und Antwort schuldig.
Lebe wohl und sei der Liebe Deines Freundes gewiss.
Ich habe mancherlei durchdacht, was Dir, wenn wir zusammen kommen, zuerst vorgelegt werden soll.
Alle grüssen. — Bitte bezahle die Buchhändlerrechnung.
603. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Sorrent, 31. März 1877> Sonnabend v. Ostern
Liebe gute Schwester, ich danke herzlich für Deine Briefe und antworte erst heute, weil ich nicht wußte, was ich antworten sollte; eigentlich weiß ich es heute auch nicht. Glaubst Du nicht, daß ich nach 6 Wochen B<ertha> R<ohr> nicht mehr ausstehen werde und sie nicht mehr sehen hören kann? Vielleicht übertreibe ich. Sonst weißt Du ja, wie wir zusammen über sie denken, Illusionen haben wir uns wohl nicht gemacht; oder doch? — Hier redet man mir zu in Bezug auf Nat. Herzen, was meinst Du? Aber 30 Jahre ist sie auch, es wäre besser, daß sie 12 Jahre jünger wäre. Sonst ist ihre Art und ihr Geist recht gut zu mir passend. — Bei Gersd<orff> sind die Mitgift-fragen immer noch nicht geordnet, es ist eine sehr verwickelte Geschichte. Aber schweige darüber. — Seydlitzens sind da, voller guten Willens und Artigkeiten für mich. Allmählich wird es wohl gelingen, den sehr guten begabten S<eydlitz> „einzufreundschaften“. Seine junge Frau ist Ungarin, sehr angenehm. — Hast Du Frau Wagner auf ihren Brief geantwortet? Wagners gehen den <Mai> nach London, und ich muthmaße etwas in Betreff Deiner. — Auf Capri trafen wir zufällig Besucherinnen der Bayreuther Feste, wie es schien aus der nächsten Umgebung von Bayreuth, ein junges Mädchen hieß A. v. T. Wer ist das? — Hier ist es jetzt Frühling geworden, oder beinahe soviel. Heute wieder trübe. Mir geht es die letzte Zeit etwas besser.
Von Herzen Dein Bruder.
Das musik. Wochenblatt über mich kenne ich.
Erwäge doch auch einmal die kleine Köckert. — (Religiöse Freisinnigkeit absolute Bedingung!)
604. An Marie Baumgartner in Lörrach (Postkarte)
<Sorrent, 17. April 1877>
Seit einer Woche bin ich mit Frl v M<eysenbug> allein, die Freunde sind abgereist. Ich denke, Dr. Rée wird Ihnen, wenn er Zeit in Basel hat, erzählen. Seine Schrift ist im Druck fast fertig. Gersdorff schrieb mir Gutes über Ihren Sohn, den er in Berlin gesehn hat. Ein neuer Freund, v. Seydlitz hat sich in unserer Nähe mit seiner Frau einer Ungarin niedergelassen. Im Juli denke ich in die Schweiz zu kommen. Meine Gesundheit ist und bleibt schlecht, sehr schwankend, namentlich die letzte Zeit. Die Augen etwas besser. Alles Gute und Herzliche von Ihrem ergebenen F. N.
605. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Sorrent, 17. April 1877>
Für alles Gute, Unterhaltende herzlichen Dank. Die Freunde Rée und Brenner sind seit einer Woche fort. Mein Befinden seit dem wieder schlecht, mehrere mal zu Bett gelegen. Schöner Frühling überall. Ich freue mich dass es meiner lieben Lisbeth wieder ganz gut geht. Für den Juli projectire ich in die Schweiz zurückzukehren, zunächst nach einer höheren Gegend, zusammen mit Frl. v. M<eysenbug> welche mit Monod’s dort zusammentrifft. Gersdorff ist in Berlin und zwar für ein paar Jahr als Maler, unter Rau’s Leitung, er ist glücklich darüber
Mit innigen Wünschen.
606. An Paul Rée in Jena
<Sorrent, den 17. April 1877>
Ich war bis Freitag allein in der Villa Rub<inacci>. Da endlich kam Frl. v. M<eysenbug> zurück. — Mehrere Tage zu Bett gelegen, immer schlecht, bis heute. Nichts ist oeder als Ihr Zimmer ohne Rée. Wir sprechen und schweigen viel von dem Abwesenden; gestern wurde constatirt, dass nur Ihre „Erscheinung“ abhanden gekommen sei. Abends spielen wir Mühle. Lesen giebt es nicht Seydl<itz> liegt zu Bett; wir konnten gegenseitig einer des andern „humaner Krankenwärter“ sein, insofern wir mit Bettliegen abwechselten. Liebster Freund, wie viel verdanke ich Ihnen! Sie sollen mir nie wieder verloren gehn!
In herzlicher Treue Ihr F N
Für Telegramm und Brief Dank und wieder Dank.
607. An Louis Kelterborn in Basel (Postkarte)
<Sorrent, 22. April 1877>
Dank, lieber Freund, für alle Theilnahme, welche mir Ihr Brief von Herzen zeigt. Leider kann ich über mein Befinden nichts Tröstliches melden; nach manchen Schwankungen, und zeitweiligen Aussichten auf Besserung wage ich jetzt im Ganzen kaum zu sagen, dass es nicht schlimmer geworden ist. Im Herbst komme ich nach Basel zurück. Treugesinnt der Ihre F. N.
608. An Heinrich Köselitz in Basel (Postkarte)
<Sorrent, 25. April 1877>
Für alles Gesagte Gewünschte Geschickte herzlichen Dank. Aber keine Polemik mehr, ich bitte Sie, das ist nicht das Geschäft der Musiker. Später sage ich Ihnen mehr über diesen Fall, den ich als ein spaßhaftes Unglück bezeichnen muß. Jak. Burckhardt zu gewinnen ist, nach einer sehr entsprechenden früheren Erfahrung, unmöglich; wer wollte auch das Einzige, was er von uns wünscht, Achtung vor seinem persönlichen Begriff der Freiheit, nicht achten? Treulich Ihr N.
Mein Befinden elend schwankend.
609. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
Sorrent 25 April <1877>immer unbeständiges Wetter
Nichts Heiteres als Dein Brief, liebste Schwester, der in allen möglichen Punkten den Nagel auf den Kopf traf. Mir ging es so schlimm! Innerhalb 14 Tagen lag ich 6 Tage zu Bett mit 6 Hauptanfällen, der letzte ganz zum Verzweifeln. Ich stand auf, da legte sich Frl. v. M<eysenbug> auf 3 Tage wegen Rheumatismus. In aller Tiefe unsres Elends lachten wir sehr zusammen, als ich ihr einige ausgewählte Stellen des Briefes vorlas. — Der Plan nun welchen Frl. v. M als unverrückbar im Auge zu behalten bezeichnet und an dessen Ausführung Du mit helfen mußt, ist der. Wir überzeugen uns, daß es mit meiner Baseler Universitätsexistenz auf die Dauer nicht gehen kann, daß ich sie höchstens auf Unkosten aller meiner wichtigeren Vorhaben und doch mit totaler Preisgebung meiner Gesundheit durchsetzen könnte. Freilich werde ich den nächsten Winter in diesen Verhältnissen dort noch zu bringen müssen, aber Ostern 1878 soll es zu Ende sein, falls die andre Combination gelingt d. h. die Verheirathung mit einer zu mir passenden, aber nothwendig vermöglichen Frau. „Gut, aber reich“ wie Frl v M. sagte, über welches „Aber“ wir sehr lachten. Mit dieser würde ich dann die nächsten Jahre in Rom leben; welcher Ort für Gesundheit Gesellschaft und meine Studien gleich geeignet ist. In diesem Sommer soll nun das Projekt gefördert werden, in der Schweiz, so daß ich im Herbst verheirathet nach Basel käme. Verschiedne „Wesen“ sind eingeladen, in die Schweiz zu kommen, mehrere Dir ganz fremde Namen darunter zB. Elise Bülow aus Berlin, Elisabeth Brandes aus Hannover. Den geistigen Qualitäten nach finde ich immer Nat. Herzen am besten geeignet. Mit der Idealisirung der kl. Köckert in Genf hast Du viel geleistet! Lob Ehr und Preis! Aber es ist doch bedenklich; und Vermögen? —
Rohde soll die Wagner-Büste bekommen, mir fällt gar nichts mehr ein, meine Dummheit ist groß. Also willst Du dies schnell besorgen, mit einem Briefchen an Rohde?
Von Frankfurt hat man mich zu einer Rede über Wagner eingeladen. — Die Übersetzung von Frau Baumgartner wird durch die competenten Personen nicht gut gefunden. Dies ganz im Vertrauen.
In alter Brüderlichkeit Dein
Fritz
in Zukunft (wenn ich noch in einem
Jahr lebe) Römer.
Mit der Bayreuther Sorge bleibst Du verschont; wozu ich eigentlich gratulire, denn die Verantwortlichkeit ist zu groß. Lulu und die Gouvernante führen das Regiment. Die arme Loldi ist in ein orthopädisches Institut in Altenburg gebracht.
610. An Ernst Schmeitzner in Schloßchemnitz
<Sorrent, Mai 1877>
Können und wollen Sie diesem Vereine die erbetene Gunst gewähren, lieber Herr Schmeitzner? —
Mir geht es schlimm und schlimmer.
Briefe von jetzt an: Ragaz, Schweiz, poste restante.
F. N.
611. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Sorrent, 7. Mai 1877>
Dir und unserer lieben Mutter den herzlichsten Dank. Heute nur die Bemerkung, dass Du in Sachen Rohde’s nach eignem Ermessen handeln sollst. Ich bin auch mit einem Juno Ludovisi-Kopf zufrieden. — Der Marchese Guerrieri war da, fragte zu allererst nach der Sorella, ihrem Aussehen usw., sie sei molto simpathica. — Mein Befinden schlecht.
612. An Franz Overbeck in Basel
Sorrent Montag. <7. Mai 1877>
Lieber treuer Freund,
Befinden immer schlechter, so dass ich schnell abreisen muss, ich lag alle 3 Tage zu Bett. Morgen geht es fort mit Schiff, ich will eine Kur in Pfäffers bei Ragaz versuchen. Briefe bitte nach Ragaz poste restante.
Es ist nicht daran zu denken, dass ich im Herbst meine Collegien wieder aufnehme: also!
Bitte hilf mir etwas und theile mir mit, an wen (und mit welchem Titel) ich mein Demissions-Gesuch zu richten habe. Es bleibe einstweilen Dein Geheimniss, der Entschluss ist mir schwer geworden, Frl. v. M<eysenbug> hält ihn aber für absolut geboten. Ich muss mich noch auf Jahre vielleicht meines Leidens gewärtigen.
Ich betrübe Dich damit, ich kann nicht anders.
Willst Du die Hug’sche Rechnung berichtigen, ebenso die einliegende Hutmacher-Rechnung von fr. 3,30?
Dein Brief hat mir so wohl gethan, ich bekam ihn im elendesten Zustande.
Deiner lieben Frau meine herzlichsten Grüsse.
Dein Freund und
Bruder
F N.
613. An Paul Rée in Stibbe
<Sorrent, 7. Mai 1877>
Ja, liebster Freund, morgen reise auch ich ab! Aus Noth, denn es gieng seit Ihrer Abreise immer schlimmer, alle 3 Tage lag ich zu Bett. Jetzt will ich auf dem kürzesten Wege (zu Meer) nach Pfäffers, zu dem ich einiges Vertrauen besitze. Ich reise allein. Briefe bitte nach Ragaz poste restante.
Es scheint nichts mehr zu helfen, die Schmerzen waren gar zu toll. Ihre Anwesenheit hatte den Dämon meiner Noth etwas in Schranken gehalten.
Alles was Sie reisend und schreibend mir Gutes erwiesen haben, werde Ihnen hundertfältig vergolten. Auf Jena vertraue ich als Ihren nächsten Musensitz.
Ist das gute Buch schon auf Wanderschaft? Wenn ich an dasselbe denke, so überfällt mich jedesmal eine solche Regung des Wohlwollens und Wohlbefindens, dass ich daraus die Existenz und Art des „unegoistischen“ „Triebes“ mir klar mache.
Bleibe ich leben, so bleiben wir uns auch gut. —
Al<exander> Herzen bittet doch um Rücksendung seiner Schrift, es war sein einziges Exemplar. Seine Adresse 2 via Lorenzo il magnifico Firenze.
Leben Sie wohl Getreuer Lieber! Ihren verehrten Angehörigen mich bestens empfehlend.
F. N.
614. An Reinhart von Seydlitz in Sorrent (Postkarte)
<Genua, 11. Mai 1877>
„Der hatte aes triplex um die Brust, der zum ersten Male das Meer befuhr“ sagt Horaz: ich hatte nur aurum triplex, daran lag’s, es war grässlich! Heute ein in allen Beziehungen gebrochener Mann; auch moralisch, denn ich bin äusserst misstrauisch, zähle alle Augenblicke Hab und Gut, verdächtige die Mitmenschen und komme mir nicht werth vor, dass mich die Sonne bescheint: was auch nicht der Fall ist.
— Dank und Preis Ihnen Beiden!
FN.
615. An Malwida von Meysenbug in Sorrent
Lugano Sonntag morgen. <13. Mai 1877>
Verehrteste Freundin
nachdem ich durch Nachdenken herausgebracht habe, dass eine Karte, obschon leichter als ein Brief, doch nicht schneller geht als ein Brief, müssen Sie nun schon einen längeren Bericht über meine bisherigen Odysseischen Irrfahrten hinnehmen. Das menschliche Elend bei einer Meerfahrt ist schrecklich und doch eigentlich lächerlich, ungefähr so wie mir mitunter mein Kopfschmerz vorkommt, bei dem man sich in ganz blühenden Leibesumständen befinden kann — kurz, ich bin heute wieder in der Stimmung des „heitern Krüppelthums“, während ich auf dem Schiffe nur die schwärzesten Gedanken hatte und in Bezug auf Selbstmord allein darüber im Zweifel blieb, wo das Meer am tiefsten sei, damit man nicht gleich wieder herausgefischt werde und seinen Errettern noch dazu eine schreckliche Masse Gold als Sold der Dankbarkeit zu zahlen habe. Übrigens kannte ich den schlimmsten Zustand der Seekrankheit ganz genau aus der Zeit her, wo ein heftiges Magenleiden mich mit dem Kopfschmerz im Bruderbunde quälte: es war „Erinnerung halb verklungener Zeiten“. Nur kam die Unbequemlichkeit hinzu, in jeder Minute dreimal — bis 8 mal die Lage zu wechseln und zwar bei Tag und Nacht: sodann in nächster Nähe Gerüche und Gespräche einer schmausenden Tischgesellschaft zu haben, was über alle Maassen ekelerregend ist. In Livorno’s Hafen war es Nacht, es regnete, trotzdem wollte ich hinaus, aber kaltblütige Verheissungen des Capitäns hielten mich zurück. Alles im Schiffe rollte mit grossem Lärme hin und her, die Töpfe sprangen und bekamen Leben, die Kinder schrieen, der Sturm heulte; ewige Schlaflosigkeit war mein Loos, würde der Dichter sagen. Die Ausschiffung hatte neue Leiden; ganz voll von meinem grässlichen Kopfschmerz, hatte ich doch Stundenlang die schärfste Brille auf der Nase und misstraute jedem. Die Dogana gieng leidlich vorbei, doch vergass ich die Hauptsache, nämlich mein Gepäck für die Eisenbahn einschreiben zu lassen. Nun ging eine Fahrt nach dem fabelhaften Hôtel national los, mit zwei Spitzbuben auf dem Kutscherbock, welche mit aller Gewalt mich in eine elende Trattoria absetzen wollten; fortwährend war mein Gepäck in andern Händen, immer keuchte ein Mann mit meinem Koffer vor mir her. Ich wurde ein paar Mal wüthend und schüchterte den Kutscher ein, der andere Kerl riss aus. Wissen Sie, wie ich in’s Hôtel de Londres gekommen bin? Ich weiss es nicht, kurz es war gut, nur der Eintritt war greulich, weil ein ganzes Gefolge von Strolchen bezahlt werden wollte. Dort legte ich mich gleich zu Bett und sehr leidend! Am Freitag, bei trübem regnerischen Wetter, ermannte ich mich um Mittag und ging in die Gallerie des Palazzo Brignole; und erstaunlich, der Anblick dieser Familienporträts war es, welcher mich ganz heraushob und begeisterte; ein Brignole zu Pferd, und in’s Auge dieses gewaltigen Streitrosses der ganze Stolz dieser Familie gelegt — das war etwas für mein deprimirtes Menschenthum! Ich achte persönlich van Dy<c>k und Rubens höher als alle Maler der Welt. Die andern Bilder liessen mich kalt, ausgenommen eine sterbende Cleopatra von Guercino.
So kam ich wieder in’s Leben zurück, und sass den übrigen Tag still und muthig in meinem Hôtel. Am nächsten Tage gab es eine andre Erheiterung. Die ganze Reise von Genua nach Mailand machte ich mit einer sehr angenehmen jungen ballerina eines Mailänder Theaters zusammen; Camilla era molto simpathica, o Sie hätten mein Italiänisch hören sollen. Wäre ich ein Pascha gewesen, so hätte ich sie mit nach Pfäffers genommen, wo sie mir, bei der Versagung geistiger Beschäftigungen, etwas hätte vortanzen können. Ich bin immer noch von Zeit zu Zeit ein bischen ärgerlich über mich, dass ich ihretwegen nicht wenigstens ein paar Tage in Mailand geblieben bin. Nun näherte ich mich der Schweiz und fuhr die erste Strecke auf der Gotthardbahn, welche fertig geworden ist, von Como nach Lugano. Wie bin ich doch nach Lugano gekommen? Ich wollte eigentlich nicht recht, aber ich bin da. Als ich die Schweizer Grenze passirte, unter heftigem Regen, gab es einen einmaligen starken Blitz und Donnerschlag. Ich nahm es als gutes Omen hin, auch will ich nicht verschweigen, dass je mehr ich mich den Bergen näherte, mein Befinden immer besser wurde. In Chiasso entfernte sich mein Gepäck auf zwei verschiedenen Zügen von einander, es war eine heillose Verwirrung, dazu noch Dogana. Selbst die beiden Schirme folgten entgegengesetzten Trieben. Da half ein guter Packträger, er sprach das erste Schweizerdeutsch; denken Sie dass ich es mit einer gewissen Rührung hörte, ich merkte auf einmal, dass ich viel lieber unter Deutschschweizern lebe als unter Deutschen. Der Mann sorgte so gut für mich, so väterlich lief er hin und her — alle Väter sind etwas Ungeschicktes — endlich war alles wieder bei einander und ich fuhr nach Lugano weiter. Der Wagen des Hôtel du Parc erwartete mich, und hier entstand in mir ein wahres Jauchzen, so gut ist alles, ich wollte sagen, es ist das beste Hôtel der Welt. Ich habe mich etwas mit mecklenburgischen Landadel eingelassen, das ist so eine Art von Deutschen, die mir recht ist; am Abend sah ich einem improvi<sir>ten Balle der harmlosesten Art zu; lauter Engländer, alles war so drollig. Hinterdrein schlief ich, zum ersten Male gut und tief; und heute morgen sehe ich alle meine geliebten Berge vor mir, lauter Berge der Erinnerung. Seit acht Tagen hat es hier geregnet. Wie es mit den Alpenpässen steht, will ich heute auf der Post erfahren.
Mir kommt auf ein Mal der Gedanke, dass ich seit Jahren keinen so langen Brief geschrieben, ebenso dass Sie ihn gar nicht lesen werden.
Sehen Sie also nur in der Thatsache dieses Briefes ein Zeichen meines Besserbefindens. Wenn Sie nur den Schluss des Briefes entziffern können!
Ich denke mit herzlicher Liebe an Sie, alle Stunden mehrere Male; es ist mir ein gutes Stück mütterlichen Wesens geschenkt worden, ich werde es nie vergessen.
Trina der Guten meine besten Grüsse.
Ich vertraue mehr als je auf Pfäffers und Hochgebirge.
Leben Sie wohl! Bleiben Sie mir, was Sie mir waren, ich komme mir viel geschützter und geborgener vor; denn mitunter überkommt mich das Gefühl der Einöde, dass ich schreien möchte.
Ihr dankend ergebener
Friedrich Nietzsche.
Dritter Bericht des
Odysseus.
Wie schön hatten Seydlitzens mich auf’s Schiff gebracht! Ich kam mir wie ein ideales Gepäckstück aus einer besseren Welt vor.
616. An Erwin Rohde in Jena (Entwurf)
<Ragaz, vor dem 20. Mai 1877>
Eine bedeut<ende> Verschlimmerung meiner Leiden, bei der vielleicht das Frühlings-Klima in Süditalien einige Schuld trägt, zwang mich Sorrent schnell zu verlassen; jetzt brauche ich die Kur in Ragaz, als der erste doch schon nicht mehr einzige Badegast. Meine Einsamkeit ist groß, meine Aussichten sehr trübe, die Gegenwart verhaßt, geistige Beschäftigung jeder Art untersagt, Skrupel und Sorgen allerlei auf dem Gemüth — ein andermal von dem Allem; oder warum überhaupt davon reden? Es ist nichts.
Aber nun weg von mir und hin zu Dir liebster Freund. Es ist doch dabei geblieben, daß dieses Pfingstfest, wie Du es mir früher schriebest Dein Hochzeitfest ist? Der Frühling nahm heute eine Wendung zum Überherrlichen; ich dachte Deiner lange, als ich im hellsten Grüne, in der stärkendsten Blüthenbaumluft die Vögel singen und zwitschern hörte. Mir fiel ein, daß Rée sagte, es werde selten ein so schönes Paar geben als Dich und Deine Braut, und ich glaube wohl gar, ihr werdet immer schöner. Wir Männer namentlich sind in der Gefahr, aus Verarmung der Seele uns selber unangenehm zu werden; und ich erinnere mich dessen wohl, was Du mir einmal in Basel sagtest, am meisten thäte Dir ein Wesen noth, an dem durch immer neue Beweise der Liebe, durch zahllose tägliche kleine und große Opfer des Eigenwillens Deine Seele wieder voll würde. Wäre ich gesund, so würde ich Dir dies etwas besser in Musik gesagt haben. So wie es steht, kann ich nicht einmal mehr schreiben; aber Du weißt und fühlst daß ein wahrer Freund mit ganzer Seele Dir seine Segenswünsche schickt und daß er traurig ist, fern sein zu müssen und Dich nicht umarmen zu können.
617. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Ragaz, 20. Mai 1877>
So! Da bin ich wieder in der Schweiz. Ich gebrauche die Bäder von Ragatz seit ein paar Tagen; Pfäffers, wohin ich zuerst wollte, ist noch nicht eröffnet. Meine Adresse ist hier: Hôtel Tamina.
Heute ist Pfingsten, Overbeck hat für heute Mittag seinen Besuch angekündigt.
Die herzlichsten Grüsse Eures
F.
618. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Ragaz, 28. Mai 1877>
Herzlichen Dank für Briefe und Karte. Bis jetzt bin ich mit der Kur zufrieden. Gar nicht aufregend. Der Arzt besucht mich alle drei Tage. Die allgemeine Ermüdung des Gehirns will freilich noch nicht weichen. Overbeck war hier Pfingstsonntag und Montag. Die gute Frl. Kästner ist todt (auch der alte Herr Mosley) Nach Beendigung der Kur (4—5 Wochen) will ich in’s Hochgebirge, worauf auch ich meine letzte Hoffnung setze. In Aeschi am Thunersee Zusammentreffen mit Monod’s verabredet. — Hier ist ausgezeichnete Berg- und Tannenwaldluft. Lebt recht wohl.
Euer F.
619. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Ragaz, 1. Juni 1877>
Es geht erträglich. Ein böser Tag. 17 Bäder genommen. Noch kein Schritt bei den Behörden gethan. Vielleicht genügt es, versuchsweise, Pädagogium abzunehmen? Allgemeine Ermüdung des Gehirns will freilich noch nicht weichen. Mitte Monats will ich höher hinauf. — Weg nach Dorf Pfäffers, Brückchen, Geländer, schönstens hergestellt, Du Armer! Heute beginnt Kurmusik.
Dir und der Deinen das Herzlichste
620. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Ragaz, 2. Juni 1877>
Liebe gute Schwester, ein paar Zeilen für Dich allein.
In der That, ich glaube, es ist gut, wenn Du Ende des Monates nach Basel gehst, schon der Wohnung wegen. Vielleicht ist doch die Wohnung der Frl. Kästner das Rechte, (namentlich für den Fall der Verheirathung) Ich selber will am 15tn d. M. auf die Berge gehen, wahrscheinlich nach Rosenlauibad bei Meiringen. Ich suche Frl. v. M<eysenbug> ebenda hin zu locken; sie und die Monod’s kommen aber erst 15 Juli. Willst Du um dieselbe Zeit auch hinauf kommen? — Weisst Du, dass ich arg hin und her schwanke, meine Baseler Stellung ganz aufzugeben? Ich fürchte, es ist unverantwortlich, im Herbst wieder anzufangen. Mein Kopf ist viel leidender als wir dachten, das Übel verschleppt durch Jahre, jede geistige Anstrengung sofort schädlich. Bis zum 15 Juni muss ich mich entschieden haben (4 Monate vor dem Anfange des Winterhalbjahrs) Freund Rée hat mein Befinden immer besser dargestellt als es ist, unserer Mutter wegen. — Frl. v. M<eysenbug> ist dringend dieser Meinung, Overbeck auch. Trotzdem schwanke ich. Den Winter würde ich dann vielleicht im Engadin oder in Davos zubringen (das ja auch für Nervenleiden gut ist.) Diese allzufrühzeitige Baseler Professur entpuppt sich nachgerade als das Hauptunglück meines Lebens. — Du glaubst nicht, wie Kopf und Augen müde und arbeitsunfähig sind (ganz abgesehen von den schlimmen Tagen) — Bin ich wieder gesund, so auch wieder erwerbsfähig, an Stellung und Unterkommen wird es nicht fehlen, ich habe Freunde in aller Welt.
Die Verheirathung, sehr wünschenswerth zwar — ist doch die unwahrscheinlichste Sache, das weiss ich sehr deutlich!
Übrigens wollen wir zusehen. — Glaube nicht, dass mir in meiner jetzigen Einsamkeit etwas abgeht. Es ist mir sogar vorgekommen, als ob es mir gesünder sei, so ganz allein, ohne interessante Gespräche und gesellschaftliche Rücksichten, zu leben. Ich bin fast immer unterwegs und habe 20 Bäder genommen. Es geht mir besser als in Sorrent. Viele gute Briefe. Rée und Rohde wollen nächstens in Naumburg einen Besuch machen.
Weisst Du, dass ich gelegentlich erwartete, Du werdest mir etwas von Deiner bevorstehenden Verlobung melden? Nun, nichts für ungut.
Bitte schreib mir schnell ein paar Worte und grüsse unsere liebe Mutter herzlich.
Dein Bruder in Liebe.
621. An Malwida von Meysenbug in Sorrent
<Ragaz, 6. Juni 1877>
3 böse Tage hinter mir. Arzt will dass ich Bäder abbreche, fortgehe, in die Höhe. Sonntag den 10 Juni will ich reisen. Bitte Nachrichten immer nach Ragatz poste restante. Denn ich weiss noch nicht genau, wohin ich gehe.
Rosenlauibad Luft und Molkenkurort. Hübscher Damensalon mit Piano. Die meisten Zimmer mit Teppichen belegt: Bäder in dem alkalischen, sehr weichen Natronwasser. Winde kennt man beinahe gar nicht. Nur vor Sonnenaufgang ist die Luft in der Regel mehr als maifrisch, dagegen sind die Abende bis in die Nacht hinein auffallend mild. Arzt in Meiringen (Entfernung 2 1/2Stunde.) — Bequeme Hinreise über Thun Interlaken Brienzersee Meiringen.
Ich hoffe dass es Ihnen besser als mir geht
Ihr Getreuer.
Hat Trina die dicke Wintermütze mit in meinen Koffer gepackt?
Einziger Haus- und Tischkamerad der Kommandant von Posen. — Seit heute ein von Oertzen.
Herrlicher Tannenwald in der Nähe vom Bad Rosenlaui.
622. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Ragaz, 6. Juni 1877> (Mittwoch)
3 böse böse Tage hinter mir. Ich empfieng Deinen lieben Brief im Bett liegend. Der Arzt widerräth weiteres Baden, will dass ich fortgehe, in die Höhe. Nächsten Sonntag reise ich ab. Ist es Dir möglich, mir bis dahin noch frs. 500 zukommen zu lassen? (Durch Postmandat). Schwüle Luft, grosse Hitze hier. — Rohde’s Heirath erst in den Sommerferien.
Lebwohl Lieber Guter
623. An Hermann Siebeck in Basel
Ragatz 8 Juni <1877>
Hochgeehrter Herr College
wenn auch meine Gesundheit keineswegs so beschaffen ist, dass ich mit irgend welcher Zuversicht dem kommenden Winter entgegensehe, so will ich doch noch auf die Wirkung der Zwischen-Monate rechnen; vielleicht wendet es sich zum Besseren. Für den Fall, dass ich Collegien lesen kann, habe ich diese drei mir ausgewählt:
1)
Aeschylus Choephoren. Dreistündig.
die Rhetorik des Aristoteles. Zweistündig.
Im philologischen Seminar: griechische Elegiker. Einstündig.
Mit herzlichem Danke für Ihre guten Wünsche
bin ich Ihr ergebenster
Dr F Nietzsche
624. An Marie Baumgartner in Lörrach (Postkarte)
<Ragaz, 9. Juni 1877>
Verehrte Frau, ich las Ihren Brief, der mir aus Italien hierher nachfolgte, noch einmal und dachte eben, wie gut Sie zu trösten verstehen. Ich danke Ihnen von Herzen dafür. Meine Kurzeit in Ragaz ist auch nun abgelaufen, Erfolg ist abzuwarten (schlimm! dass er noch nicht da ist, denn die ganze letzte Woche war wieder schlecht) Nun soll ich in’s Gebirge hinauf: wohin, weiss ich noch nicht sicher. Frl. v. Meysenbug m<it> Monod’s kommen Mitte Juli in die Schweiz (wahrscheinl<ich> Aeschi am Thunersee) Ich will auch dorthin. Vielleicht Sie ebenfalls? Herzl. Grüsse!
625. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Rosenlauibad, 14. Juni 1877>
Letzte Woche in Ragaz schlecht, mehrere böse Tage. Arzt rieth abzureisen, Höhe zu suchen. Ich wollte nicht in’s Engadin, weil dies zurück liegt und so reiste ich Sonntag früh um 5 ab, nach Zürich, Luzern mit Eisenbahn, von dort mit Post nach Brienz über den Brünig. Kam mit heftigen Schmerzen Abends 9 Uhr an, hatte böse Nacht und Vormittag. Mittag nach Meiringen mit Post, Nachmittag 3 Stunden zu Fuss mit Führer nach Rosenlauibad. Hier bin ich der einzige bleibende Gast; wie gewöhnl<ich>. Sehr schön, ohne Übertreibung. Kein Wind, Tannenwald. Bis jetzt geht es gut. Herzliche Grüsse. Adresse: Rosenlauibad bei Meiringen, Berner Oberland.
626. An Franz Overbeck in Basel (Fragment)
<Rosenlauibad 17. Juni 1877>
[+ + +] Ich habe keinen Schritt gethan, was die Angelegenheit in B<asel> betrifft; bitte sprich doch mit Fritz Burckhardt, ob ich mich darauf verlassen kann, dass man mir, unter den gleichen (Geld-) Bedingungen wie in diesem Jahre, das Pädagog<ium> erlässt, so lange es nicht wesentlich besser geht. Ich kann selber keine langen Briefe schreiben; hilf mir, guter Freund!
627. An Paul Rée in Jena
<Rosenlauibad, zweite Junihälfte 1877>
An diesen Ort, den das Bildchen zeigt, habe ich 3 Bücher mitgenommen: etwas Neues von Mark Twain dem Amerikaner (ich liebe dessen Albernheiten mehr als die deutschen Gescheutheiten), dann Plato’s Gesetze — und Sie, lieber Freund. So bin ich wohl der Erste, der Sie in der Nähe der Gletscher liest; und ich kann Ihnen sagen, das ist der rechte Ort, wo man überschaut das menschliche Wesen mit einer Art von Geringschätzung und Verachtung (sich selbst sehr einbegriffen) gemischt mit Mitleiden über die vielfältige Qual des Lebens; und mit dieser doppelten Resonanz gelesen, wirkt Ihr Buch sehr stark.
Es ist so viel überflüssige Noth im Leben, man sollte doch am Schmerz schon genug haben. Da kommt aber alles Leidwesen noch hinzu, welches die Meinungen mit sich bringen. —
Weshalb fühlt man sich so wohl in der freien Natur? Weil diese keine Meinung über uns hat. —
Immer mehr bewundere ich übrigens, wie gut gewappnet Ihre Darstellung nach der logischen Seite ist. Ja so etwas kann ich nicht machen, höchstens ein bischen seufzen oder singen — aber beweisen, dass es einem wohl im Kopfe wird, das können Sie, und daran ist hundertmal mehr gelegen.
Die Vaterschaft, welche mir Ihr allzuliebenswürdiges Widmungswort zuschreibt, habe ich mit ungläubigem Lächeln passiren lassen, ungefähr wie wenn — usw.
Mein Befinden ist auch nach der Kur in Ragaz und trotz der herrlichen Hochgebirgsluft mittelmässig, bedenklich — ich weiss mir nicht recht zu helfen. Viel Erschöpfung, aber in Folge davon innerlicher Gemüths-Wurmfrass. Ich war Ihnen so dankbar für den lustigen Brief — und wünsche täglich ein paar Mal (auch dreimal) Sie herbei, denn ich bin ganz allein und von allen Zweisamkeiten ist mir die Ihrige eine der allerliebsten und ersehntesten.
Leben Sie wohl, mein guter Freund.
Ich freue mich, dass Sie Rohde in der persönlichen Nähe haben, Sie haben an ihm mehr, in jeder Beziehung, als an mir, glauben Sie mir dies auf mein ehrliches Gesicht hin; in einiger Zeit werden Sie es wissen. — Dies unter uns.
Es bleibt bei der Zusammenkunft in Aeschi am Thunersee; Fr. v. M<eysenbug> — Monods, meine Schwester, ich. Von Mitte Juli an. Bis dahin bleibe ich in Rosenlaui bei Meiringen (C<an>t<on> Bern).
628. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Rosenlauibad, 25. Juni 1877>
Ich schreibe eigentlich nur, um dies Bildchen zu schicken. Denn neues ist nicht zu melden. Ort, Umgebung, Verpflegung ist sehr gut. Luft mild und angenehm von früh bis in die Nacht. Ich muss mich aber vor grösseren Spaziergängen in Acht nehmen, ich hatte schon zweimal zu büssen (es dauerte 2 Tage, ehe ich leidlich wieder zurecht kam: Schlaflosigkeit und grösste Erschöpfung der Nerven) Jedesmal wenn ein Gewitter in der Luft liegt, habe ich Kopfschmerzen. Vielleicht ist es noch nicht hoch genug? (etwas über 4000 Fuss) Sehr allein bin <ich>, obschon genug Engländer durch passiren: Auf die Dauer muss der Aufenthalt gut sein. Es ist meine Art Natur.
Von Herzen Euer F.
629. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Rosenlauibad, vor dem 29. Juni 1877>
Liebe, liebe Schwester
den besten Dank. Alles sehr gut ausgedacht. Ich kann kaum die Zeit unseres Wiedersehens erwarten, es kommt mir noch so ferne vor.
Eine gewisse Veränderung der Pläne wird durch Frl. v. M<eysenbug>’s Wort auf ihrer letzten Karte hervorgerufen „aber Nat<alie> müssen wir total von der Liste streichen, sie hat mir neulich wieder zufällig ihre feste Ansicht in der Beziehung mitgetheilt“. Es kommt übrigens niemand nach Äschi ausser Monods und Frl. v. M<eysenbug>. Mit den andern „Wesen“ ist alles Phantasie und Hirngespinst. Nun ist mir Aeschi wirklich zu niedrig (niedriger als die Frohburg) ich werde mich jetzt, wo keine höheren Zwecke vorliegen, darauf beschränken, dort einen Besuch zu machen. — Wagner’s kommen nächstens nach Selisberg am Vierwaldst<ättersee>, Frl. v. M<eysenbug> geht bis zum 20 Juli dorthin, bis Olga in Aeschi eintrifft. Ich werde vernünftiger Weise auch dorthin nicht gehen; denn ich muss jetzt nur ein Ziel haben, bis zum Herbst wieder arbeitsfähig zu werden. Wagner’s Nähe ist nicht für Kranke, das zeigte sich auch in Sorrent.
Übrigens graut mir vor Basel, wo ich wie in einer Verpuppung leben muss und wirklich nervenschwach und melancholisch geworden bin. Sie schätzen mich; aber was habe ich mit ihnen gemein? Was kann ich ihnen, was sie mir nützen? — Das lässt sich aber vorläufig nicht ändern. Aber noch mehr abschliessen müssen wir uns, namentl<ich> vor den Deutschen (Overbeck klagte sehr über Immermann’s, seine Frau hat ihm „die rechten Gesichtspuncte gegeben“; auch die „flachen“ Miaskow<s>ky’s sind wieder da!!)
Denke Dir, ich habe wieder an B<ertha> R<ohr> in Basel gedacht, sie stimmt zuletzt doch am besten für meinen Baseler Nothwehr-Zustand. Bitte, erkundige dich doch sofort wo sie diesen Sommer zu finden ist.
Gegen den Genfer Gedanken (Kl. K<öckert> habe ich manches einzuwenden, der Vater gefällt mir nicht, ich glaube es ist ein etwas verrufener Geschäftsmann. Und dann — wo ist Vermögen? Vielleicht eines Tages Bankerott. Mutter sehr geizig.
Also Deinen Geburtstag! Mir ist es ungefähr gleich, Bern oder Luzern, ich möchte nur meine späteren Pläne damit verbinden. Denn auf die Dauer bleibe ich nicht in Rosenl<auibad>, es ist wie Du Dir denkst, auf und ab. Sonst sehr gut. Ich gebrauche die Kur von St. Moritzer Wasser.
Grüsse unsere gute Mutter und danke ihr sehr für Ihren Brief. Schreib mir doch, bevor Du abreist. Auch, wohin ich Dir nach Basel schreiben soll.
In Treue und Liebe F.
630. An Malwida von Meysenbug in Seelisberg
(Sonntag) <Rosenlauibad, 1. Juli 1877>
Hochverehrte Freundin,
es hat mich betrübt, dass mein ausführlicher Reiseplan in Betreff des Splügen zu spät nach Florenz gelangt ist, wahrscheinlich nur um Einen Tag zu spät. Ich glaubte nicht, dass Sie so schnell von dort aufbrechen würden. (Diese Dinte ist schrecklich, und ich habe sie mir eigens kommen lassen! Aber man hat sie gefälscht, alle Lebensmittel sind in der ganzen Welt unecht und Dinte ist doch für uns ein Lebensmittel!)
So! jetzt geht es besser. —
Ich bedaure sehr, dass das Reisen Ihnen so schlecht bekommen ist; in der That, das muss aufhören und die Vielen, welche Sie lieben, müssen sich ein bischen bemühen und über die Alpen steigen. Aeschi, glaube ich, wird Ihnen entsprechen, es ist dem Clima nach ähnlich wie Sorrent, natürlich etwas alpiner: aber eine ähnliche Mischung von guter Berg- Wald- und Seeluft. Für meine Bedürfnisse ist es, so lange die ganz heisse Zeit währt, freilich viel zu niedrig, ich kann also erst später hinkommen. Das Hochgebirge hat immer einen wohlthätigen Einfluss auf mich gehabt. Zwar liege ich hier auch krank zu Bett wie in Sorrent und schleppe mich Tagelang unter Schmerzen herum, aber je dünner die Luft, umso leichter trage ich es. Jetzt habe ich eine Kur mit St. Moritzer Wasser begonnen, die mich mehrere Wochen beschäftigen wird. Es wurde mir sehr empfohlen, nach Ragatzer Kur in die Höhe zu gehn und dies Wasser zu trinken; als Mittel gegen eingewurzelte Neurosen gerade in dieser Combination mit Ragatz. Bis zum Herbst habe ich nun noch die schöne Aufgabe, mir ein Weib zu gewinnen, und wenn ich sie von der Gasse nehmen müsste: die Götter mögen mir Munterkeit zu dieser Aufgabe geben! Ich hatte wieder ein ganzes Jahr zum Überlegen und habe es unbenutzt verstreichen lassen; und doch weiss ich längst, dass ohne diess auch nicht einmal auf eine Milderung meiner Leiden zu rechnen ist. Im October bin ich entschlossen wieder nach Basel zu gehn und meine alte Thätigkeit aufzunehmen. Ich halte es nicht aus ohne das Gefühl nützlich zu sein; und die Baseler sind die einzigen Menschen, welche es mich merken lassen, dass ich es bin. Meine sehr problematische Nachdenkerei und Schriftstellerei hat mich bis jetzt immer krank gemacht; so lange ich wirklich Gelehrter war, war ich auch gesund; aber da kam die nervenzerrüttende Musik und die metaphysische Philosophie und die Sorge um tausend Dinge, die mich nichts angehen. Also ich will wieder Lehrer sein: halte ich’s nicht aus, so will ich im Handwerk zu Grunde gehn. Ich erzählte Ihnen, wie Plato diese Dinge auffasst. — Meine besten Wünsche und Grüsse für die unermüdlichen Bayreuther. (ich bewundere alle Tage dreimal ihre Tapferkeit) Bitte beruhigen Sie mich über das Londoner Gesammtergebniss, man erzählte mir etwas sehr Schlimmes. Wie gern unterhielte ich mich mit Frau W<agner>, es ist immer einer meiner grössten Genüsse, und seit Jahren bin ich ganz darum gekommen! —
Ihre mütterliche Güte giebt Ihnen das traurige Vorrecht, auch Jammer-Briefe zu bekommen!
Overbeck hat keineswegs mir zugerathen, nach B<asel> zu gehen. Wohl aber meine Schwester, die mehr Vernunft hat als ich.
Es müssen mehrere Karten (von mir an Sie) nicht angekommen sein.
Leben Sie wohl, recht wohl! Ihnen herzlich ergeben
Friedrich Nietzsche.
4000 Fuss aber wie geschützt, mild, gut für die Augen!
(6 frs. die Pension, sehr gut.)
631. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Rosenlauibad, 2. Juli 1877>
Mein lieber Freund, ich habe noch immer nichts von merkbarer Besserung zu melden; genug ich glaube dass auf die Dauer mir der Aufenthalt hier gut thun muss: es ist gar zu schön, kräftig, gesund auf dieser Höhe und das Hôtel sehr gut. Ich trinke jetzt St. Moritz-Wasser; man rieth es mir sehr an, diese Cur nach Ragaz zu machen: zusammen als Mittel gegen eingewurzelte Neurose. — Meine Schwester kommt ungefähr den 6t d. M., bitte gieb ihr das Geld, für dessen Besorgung ich Dir herzlich danke, ebenso wie für die Unterredung mit B<urckhardt>. Gethan hab’ ich nichts in dieser Sache, will warten.
F. N.
632. An Elisabeth Nietzsche in Basel (Postkarte)
<Rosenlauibad, 3. Juli 1877>
Also mein Vorschlag: wir treffen uns Montag d. 9ten gegen 1 bis 2 Uhr, da kommt Dein Zug v<on> Basel an, und auch die Brünigpost. Wer zuerst kommt, wartet im Hôtel Gotthard, gleich gegenüber vom Bahnhof. Ist das Wetter gut, so gehen wir Nachmittags ¾ Stunde nach Pension Sonnenberg, herrlich gelegen und bleiben die paar Tage dort: nämlich den 10t.; den 11t. würde ich dann wieder mit der Post nach Rosenlaui zurückkehren — ich nehme Retourbillet, 2 frs. Gewinn. Oder? — sie geht etwa um 2 Uhr Mittags von Luzern ab. So haben wir noch den Vormittag für uns. Freilich wäre das Schönste Du giengest mit mir nach R<osenlauibad>, denn es ist gut hier in jeder Beziehung (Pens. frs. 5) und ein ebener Spazierweg von ¾ Stunde Länge (mit der schönsten Alpenansicht, die ich kenne) Indessen: ich will Deine Pläne hören. Wegen der St. Moritz Wasser Kur muss ich jedenfalls auf ein paar Wochen nach R<osenlauibad> zurück.
In ungeduldiger allerherzlichster Erwartung
F N.
Bis Sonntag Mittag muss spätestens das Telegr<amm> abgesandt sein!
633. An Carl Fuchs in Hirschberg
Rosenlaui bei Meiringen Berner Ober-land: hier bleibe ich 2, 3 Wochen.4 Juli 77.
Lieber Herr Doctor,
mein unstätes Wanderleben und dessen leidige Ursache, meine schlechte Gesundheit, hat es verschuldet, dass ich mich so spät erst für den Empfang Ihrer Programme bedanken kann; sie kamen erst spät in meine Hände. Thätigkeit über Thätigkeit, ersehe ich daraus; und wenn ich recht verstanden habe, ist nun auch von Zeit zu Zeit der Dirigenten-Stab in die kunstfertige Hand gelangt, etwas, was ich Ihnen längst gewünscht habe — gemäss Ihrem allerwürdigsten Vorbilde, Hans von Bülow. Kurz, es fällt mir immer wieder ein, wenn ich an Sie denke „wer immer strebend sich bemüht usw.“ Und heute muss ich’s Ihnen schreiben. In Hinsicht auf dies Wort stehe ich mit Ihnen ganz gleich, und es bleibt die gute Kameradschaft des „Strebend sich Bemühens“.
Ich habe Ihnen im vorigen Jahre Kummer gemacht; hatte ich völlig Unrecht, so haben Sie diesen Kummer rasch wieder überwunden. Man wird fortwährend verkannt, selbst von den Nächsten. Nur glaube ich, darin rechtschaffen gehandelt zu haben, dass ich Ihnen sagte, wie ich empfand: — Sie hielten mich für Ihren Freund, aber es stand etwas zwischen Ihnen und mir. In solchen Dingen halte ich an dem amerikanischen Sprüchworte fest „Ehrlichkeit ist die beste Politik.“
Vielleicht nahmen Sie meine Worte zu schwer, vielleicht verstanden Sie auch einiges anders, als ich es sagte; jeder hat seine Ausdrucks- jeder seine Verständnissweise: — daher so viel Missverstehens. Jedenfalls aber habe ich mich nicht gut ausgedrückt. Jetzt scheint es mir sogar, dass ich einer gewissen trüben allgemeinen Verstimmung (der allzuhäufigen Folge meines Krankseins) allzusehr nachgegeben habe und dass ich Ihnen irgendwie Unrecht gethan haben muss.
Schonung bedürfen wir alle; Sie wissen, was Goethe sagt „und wie der Mensch nur sagen kann „hier bin ich“ dass Freunde seiner schonend sich erfreun“ — Die Sache ist nur: ich war damals nicht Ihr Freund. Aber die Kürze unserer Bekanntschaft! Briefe sind nichts, so gut sie auch geschrieben werden. Man muss seine Empfindung für einen Menschen immer von Zeit zu Zeit angesichts dieses Menschen controliren können. Sonst giebt es ein Phantasiebild: und man bringt Züge hinein aus günstigen oder ungünstigen Erzählungen Anderer. — Ich hätte grosse Freude daran zu wissen, dass meine Verstimmung, mein Misstrauen einem Phantasie-Fuchs gegolten habe — und dass der wirkliche Dr. Carl Fuchs in allen Stücken geliebt und geehrt werden müsste. Also: seien Sie mir so weit böse, als Sie mir nicht gut sein können! Und vergessen Sie!
F. N.
634. An Hugo von Senger in Genf
Rosenlauibad bei Meiringen, Berner Oberland, 4. Juli 77.
Lieber Freund!
Sie haben ein volles Recht zu schweigen, das ist unter uns ausgemacht; denn wir wissen, dass wir uns gut sind und bleiben und dass Briefe nichts dazu noch davon thun können. Aber eine kurze Nachricht darf ich mir wohl einmal ausnahmsweise erbitten, alles übrige auf ein hoffentlich bald kommendes Wiedersehen versparend.
Ich erzählte Ihnen von einem ausgezeichneten Pianisten, einem wahren Lehrgenie, Dr. Carl Fuchs in Hirschberg (Schlesien), von dem Hans von Bülow gesagt hat, er sei sein bester Schüler. Ist die Möglichkeit noch nicht in Genf eingetreten, diese bedeutende Kraft für das Conservatoire zu gewinnen? Wenn nicht, nun so bitte ich nur darum, den Namen nicht zu vergessen.
Im vorigen Herbst wollte ich Sie sehen, als ich auf meiner Durchreise nach Italien Genf berührte — aber es misslang, ich weiss noch jetzt nicht, warum keine meiner Karten Erfolg hatte. Man wusste mir Ihre Wohnung im Hôtel nicht anzugeben — Sie waren umgezogen. Gar zu gern hätte ich mich Ihrer selber und Ihrer, herzlich von mir zu grüssenden Frau Gemahlin erfreut, Leila und Agenor ja nicht zu vergessen, wenn diese nur den Vetter nicht vergessen haben!
Meine Gesundheit war so schlecht; — ich will nicht jammern. —
Was machen die beiden guten Mädchen, deren Bekanntschaft ich Ihnen damals verdankte? Mit grossem Bedauern hörte ich von einem leidenden Zustande der älteren.
Sie haben doch meine kleine Schrift über Wagner erhalten. Die französ<ische> Übersetzung habe ich an Mad<ame> Diodati abgeschickt, im Anfang des Jahres. Wie geht es ihr, darf man fragen?
Wissen Sie, wohin Frau Koekert diesen Sommer ins Gebirge geht? Ich hörte, sie wolle mit ihrer Freundin, der Marquise Guerrieri, irgendwo in der Schweiz zusammentreffen.
Bemühe ich Sie nicht mit dieser Fragerei? Machen Sie’s kurz mit der Antwort, nehmen Sie eine Correspondenzkarte! Ich ehre den Künstler, ich liebe den Menschen, dabei bleibt es.
Treulich der Ihre Dr. Friedrich Nietzsche.
635. An Franz Overbeck in Basel
Felsenegg Mittwoch. <18. Juli 1877>
Mein lieber Freund, das Rendezvous mit meiner Schwester hat sich verlängert und meine Rückkehr nach Rosenlaui ist um 1½ Wochen verzögert. Wir haben uns soviel zu sagen. Unser Aufenthalt ist die Kuranstalt Felsenegg bei Zug.
Kannst Du mir vielleicht hierher Dein Exemplar der „Memoiren einer Idealistin“ schicken, vorausgesetzt dass es nicht zu schön eingebunden ist? Wir wollen freilich schon am Sonnabend fortreisen, aber es liegt mir viel daran. Mein Exemplar ist in Naumburg.
Mein Befinden ist erbärmlich wechselnd.
Heute nur herzlichsten Gruss
Dir und Deiner Frau
von uns Beiden.
636. An Reinhart von Seydlitz in Kreuznach
<Rosenlauibad,> 24 Juli. 1877.
Lieber lieber Freund,
gestern Abend kam ich nach Rosenlaui zurück, fand Ihren Brief vor und war ganz von Herzen befriedigt. Sie waren mir auf einmal verloren gegangen — wie oft verlangte es mich, Ihnen zu schreiben, für Ernst und Scherz Ihrer Briefe, für Sie selbst zu danken! Aber auch unsre Freundin Malvida wusste Ihre Adresse nicht; und so ging mirs wie dem Knaben, dem der Bindfaden gerissen ist so dass er dem schönen Drachen in den Lüften eben nur noch nachsehen kann, und endlich auch dies nicht mehr. (Das Gleichniss ist nicht schön: denn dass Sie nicht „von Papier“ sind, weiss Gott und Welt; auch sind Sie kein Drache. Aber mit dem „Knaben“ hat es seine Richtigkeit, und ich bin der Meinung Homer’s, dass es schon recht ist, wenn ein Gleichniss auf einem Beine stehen kann)
Also: ich sitze hier und warte auf Sie. Es geht mir gut? schreiben Sie — die Wahrheit ist, es ging mir einen Tag einmal gut, an diesem schrieb ich fünf Briefe und meldete es: so dass jetzt alle meine Freunde sich freuen, wie gut es mir gehe. Am Tag darauf lag ich zu Bette, und die letzten vierzehn Tage waren erbärmlich. — Reisen bekommt mir schlecht, ich will jetzt fünf Wochen noch hier bleiben und mich um Rosenlaui herumdrehen als ob ich mit einem halben-Stunden-Strick hier angebunden sei. —
Gestern ehrte ich das Andenken Ihrer lieben Frau durch eine gewisse festliche Art, mit jener Seife umzugehen, welche ich ihrer Güte verdanke. Ich bin immer mit ihr gereist, sie hat alles gesehen, was ich gesehn habe. (Freilich, ich sehe unterwegs nicht viel, ungefähr aber doch soviel als ein Stück Seife) — Wir wollen guter Dinge alle zusammen sein, nicht wahr? Ich darf ungestraft pränumerando ein wenig Unsinn reden?
Schumann’s Kopf erinnerte mich an die Erzählung eines seiner Leipziger Freunde, er habe schweigend ganze Abende dagesessen und schweres Bier getrunken. —
Nun Getreuer Lieber, auf
Wiedersehen!
Es ist sehr angenehm hier, das weiss eine englische Familie, die Jahr für Jahr herkommt (der General Staatsanwalt von England, ein Mann mit 20 000 Pf. Einkommen, er hat den berühmtesten engl. Landschaftsmaler mit sich hier)
Ihnen Beiden herzlich zugethan
Friedrich Nietzsche.
637. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
Rosenlaui bei Meiringen, Berner Oberland.<25. Juli 1877>
Seit einigen Tagen habe ich mich nun wieder von unsrer lieben Elisabeth getrennt, wir hatten uns soviel zu sagen; ich fand sie wohler als je. Jetzt will ich nun still hier in der Höhe die Ankunft des Herbstes erwarten und dann nach Basel zurück. Herzl<ichen> Dank für die ausführl<iche> Erzählung von Lipiner. Mein Befinden ist immer noch wenig versprechend, ach, die Augen!! ich sehe mit Besorgniss dem Winter entgegen. In Meiringen fand ich einen Arzt aus Frankfurt (er hatte alle meine Schriften bei sich) und consultirte ihn. Das Zusammenkommen mit Frl. v. M<eysenbug> ist bis jetzt missglückt. Es gab zu schlechtes Wetter.
Mit den besten Grüssen und Wünschen Dein Sohn.
638. An Elisabeth Nietzsche in Basel (Postkarte)
<Rosenlauibad, 25. Juli 1877>
Glücklich, dass ich wieder in Rosenlaui bin! Nie bin ich schlechter, unangenehmer, kostspieliger gereist als seit der Trennung von Dir. Alles missglückte. In Bern lag ich krank. Ich war trotz allen Herumfahrens im Wagen ausser Stande Frl v M<eysenbug> zu finden. Hier fand ich Karten vor, dass ihr Aeschi nicht gefallen habe; Nachrichten Thun poste restante. Wo ist sie? — Seydlitzens haben sich bei mir angekündigt. Dr. Fuchs rührend, Brief von 62 Quartseiten. In Meiringen kam ich mit Dr. Eiser aus Frankfurt zusammen (er führte alle meine Schriften bei sich) Ich hatte ärztl<iche> Consultation mit ihm. Möge Dir es gut gehen, geliebte Schwester.
Dein F.
639. An Malwida von Meysenbug in Bad Faulensee
<Rosenlauibad,> 27 Juli. <1877>
Ist es möglich, verehrteste Freundin so viel Missgeschick zu haben? Ich war unterwegs, Sie zu suchen, und bin missmuthig hierher zurückgekehrt, nach einer sehr unangenehmen, durch Krankheit getrübten und unsinnig kostspieligen Herumreiserei. Sie hatten keine Adresse gegeben, aber ich glaubte an Aeschi, wie mein Vater an’s Evangelium, und so war ich auch in Aeschi.
Jetzt will ich Rosenlaui fünf Wochen lang nicht verlassen (eigentlich ist’s kein Wollen, sondern Müssen, unter dem Despotismus des Geldbeutels) Dann kehre ich nach Basel zurück, wo meine Schwester schon für unsern gemeinsamen Winteraufenthalt „arbeitet“. Mein Trost ist, dass Sie auch dorthin kommen wollen. Aber wie leid thut es mir, nun gar Niemanden der Ihrigen zu sehen — ich sah mir in Aeschi und Umgegend jeden kleinen Jungen an, ob es nicht Bébé wäre. Weil mir der Ort zu sonnig und zu windig vorkam, suchte ich Sie auch im Heustrichbade und blieb einen Tag dort, es ist eine Stunde von Aeschi entfernt; auch an Faulenseebad dachte ich. Aber nichts war über Sie zu erfahren als zuletzt die Notiz, von der ich jetzt Gebrauch mache, dass Briefe nach Thun poste restante zu schicken sei<e>n. Ein Telegramm nach Aeschi blieb unbeantwortet, natürlich; ich erklärte es mir aus einem Zufalle.
Ich hatte R<osenlauibad> verlassen, um in Luzern eine eintägige Zusammenkunft mit meiner Schwester zu haben, zur Feier ihres Geburtstages. Aber das Wetter wurde so schlecht, und meine Gesundheit schwankte hin und her, dass ein Tag nach dem andern verstrich: zuletzt wurde eine Abwesenheit von 14 Tagen daraus. Wie viel haben wir an Sie gedacht, wie mit Ihnen gelitten! Denn Sie haben einen heillosen Sommer bis jetzt erlebt. Jetzt wird es entsetzlich heiss; als ich nach Aeschi kam, hätte man mich essen können, wenn ich sonst schmackhaft wäre: denn gekocht war ich.
Hier ist es gut, aber zu viel Steigens für Sie, fürchte ich. Der Pensionspreis für Alles, Licht und Bedienung einbegriffen ist jetzt 7 oder 8 frs. (Der Wein wird besonders gerechnet.) Es sind nur Engländer da, sehr ange<se>hene zB der General Staatsanwalt Englands und der berühmteste engl<ische> Landschaftsmaler)
Mit Dr. Fuchs habe ich mich versöhnt. Ich fand einen sehr gehaltreichen Brief vor (62 Quartseiten, nebst geschriebenen Beilagen) In Meiringen fand ich bei Tisch einen Dr. med. Eiser aus Frankfurt, der alle meine Schriften im Berner Oberlande herumführte; ich habe eine ärztliche Consultation mit ihm gehabt, er fand dass Schrön mich mit homöopath<ischen> Dosen behandelt habe. Jetzt trinke ich wieder St. Moritz. — Ich freue mich, dass Sie an Prof. Schiess gedacht haben. — Mit wahrem Leidwesen sage ich aus der Ferne Lebewohl, Ihnen und allen Ihren Lieben.
F. N.
Es ging mir einen Tag gut, das meldete meine letzte Karte. Den Tag darauf lag ich zu Bette.
Ich fand hier alle Briefe und Karten von 14 Tagen vor.
640. An Carl Fuchs in Hirschberg
<Rosenlauibad, den 29. Juli 1877>Ende Juli 77.
Lieber Herr Doktor, ich war von Rosenlaui ein paar Wochen abwesend: bei der Rückkehr fand ich mich durch Sie so reich beschenkt, daß ich zwei drei Tage laufen lassen mußte, um den Schatz ganz zu heben. Es gieng mir alles so recht zu Herzen und Sinnen, was Sie schrieben; namentlich danke ich Ihnen für die Schilderung des „Abends“ und der Vorbereitung dazu, ich glaube sogar es flossen meine Thränen dabei; was ich Ihnen nur erzähle, um zu beweisen, daß ich Ihnen nicht sehr fern stehe, mag geschehen und gesagt worden sein, was da wolle. Überhaupt: mir scheint doch dabei etwas Gutes herausgekommen zu sein, daß ich damals, in einer so unerquicklichen und harten Weise, mein Herz erleichterte: denn ich fühle es jetzt zu deutlich, daß meine Empfindung für Sie verändert ist, in’s Hoffnungsreiche, Freudige. (Ein Skeptiker würde sagen: da sieht man, was einige Gran Unrecht in der Einen Wagschale nützen können.) Das Übrige wollen wir nun einer persönlichen Begegnung überlassen, welche hoffentlich nicht mehr in weiter Ferne zu suchen ist. Komme ich nach Basel (Anfang September, denke ich), so soll auch meinerseits an Volkland ein Wort gerichtet werden. Es war zweifelhaft, ob ich wieder zurückkehren würde: denn ich habe, noch in diesem Frühjahr, ernstlich in Erwägung ziehen müssen, ob nicht meine Baseler Stellung aufzugeben sei; auch jetzt stehe ich mit Besorgniß vor dem nächsten Winter und seiner Thätigkeit: es wird ein Versuch, ein letzter sein. Von Oktober bis Mai war ich in Sorrent, zusammen mit drei Freunden und — meinen Kopfschmerzen. Ich nenne Ihnen die verehrte Freundin, welche mütterlich dort für mich sorgte: es ist die Verfasserin der anonym erschienenen „Memoiren einer Idealistin“ (bitte, lesen Sie dies ganz und gar ausgezeichnete Buch und geben Sie es Ihrer Frau Gemahlin!)
Ihre rhythmische Taktzählung ist ein bedeutender Fund reinen Goldes, Sie werden viele gute Münzen daraus schlagen können. Mir fiel ein, daß ich, beim Studium der antiken Rhythmik, 1870, auf der Jagd nach 5- und 7taktigen Perioden war und die Meistersinger und Tristan durchzählte: wobei mir einiges über W<agner>’s Rhythmik aufgieng. Er ist nämlich so abgeneigt gegen das Mathematische, streng Symmetrische (wie es im Kleinen der Gebrauch der Triole zeigt, ich meine sogar das Übermaaß im Gebrauch derselben) daß er mit Vorliebe die 4taktigen Perioden in 5taktige verzögert, die 6taktigen in 7taktige (In den Meistersingern, III. Akt, kommt ein Walzer vor: sehen Sie zu, ob da nicht die Siebenzahl regiert). Mitunter — aber es ist vielleicht crimen laesae majestatis — fällt mir die Manier Bernini’s ein, der auch die Säule nicht mehr einfach erträgt, sondern sie von unten bis oben durch Voluten wie er glaubt lebendig macht. Unter den gefährlichen Nachwirkungen W<agner>’s scheint mir „das Lebendig-machen-wollen um jeden Preis“ eine der gefährlichsten: denn blitzschnell wird’s Manier, Handgriff.
Ich habe immer gewünscht, es möchte Einer, der es kann, einmal Wagners verschiedne Methoden innerhalb seiner Kunst einfach beschreiben, historisch-schlicht sagen, wie er es hier, wie dort macht. Da erweckt nun das aufgezeichnete Schema, welches Ihr Brief enthält, alle meine Hoffnungen: gerade so einfach thatsächlich müßte es beschrieben werden. Die Andern, welche über Wagner schreiben, sagen im Grunde nicht mehr, als daß sie großes Vergnügen gehabt und dafür dankbar sein wollen; man lernt nichts. Wolzogen scheint mir nicht Musiker genug zu sein; und als Schriftsteller ist er zum Todtlachen, mit seiner Confusion artistischer und psychologischer Sprechweise. Könnte man übrigens, an Stelle des unklaren Wortes „Motiv“ nicht sagen „Symbol“? Etwas anderes ist’s ja nicht. — Wenn Sie an Ihren „musikalischen Briefen“ schreiben, so wenden Sie doch so wenig als möglich Ausdrücke aus der Schopenhauerschen Metaphysik an; ich glaube nämlich — Verzeihung! ich glaube, ich weiß es — daß sie falsch ist, und daß alle Schriften, welche mit ihr abgestempelt sind, bald einmal unverständlich werden möchten. Später darüber mehr, und auch dies nicht brieflich. — Über verschiedne meiner Bayreuther Eindrücke, aesthetische Grundprobleme berührend, möchte ich auch mit Ihnen mündlich mich verständigen, zum Theil mich von Ihnen beruhigen lassen. Ihren „Briefen“ sehe ich mit solcher hungriger Erwartung entgegen, daß ich nicht einmal mich entscheiden kann, ob ich lieber Ihre Aufschlüsse über Beethovens Stil, Takt, Dynamik u.s.w. zuerst in Händen hätte oder Ihren Lehr- und Leitfaden durch die Nibelungen-Noth (denn Noth macht alles, was nibelungenhaft ist). Am allerliebsten speiste ich beide Bissen auf einmal und wollte mich dann gerne, der Boa gleich, in die Sonne legen, um still einen Monat lang zu verdauen.
Aber nun sagen die Augen: höre auf! Können Sie die Blätter noch eine Zeit entbehren? Oder ist’s besser, daß ich sie gleich schicke? — Ich bleibe noch vier Wochen in Rosenlaui.
Mehr noch nach wie vor
Ihr
F. Nietzsche.
641. An Elisabeth Nietzsche in Basel (Postkarte)
<Rosenlauibad, 29. Juli 1877>
Wie geht’s, meine liebe Lisbeth? Mir thut die Luft hier so wohl, es geht besser als in Felsenegg. Ich bleibe bis zur Rückkehr nach B<asel>. Ist Freund Köselitz den September da? Es wäre sehr erwünscht. Sende mir doch einen Kragen, im Briefe, einen nicht zu weiten. Mein Koffer ist wieder in Brienz. Frl. v. M<eysenbug> ist im Faulenseebad, bei Aeschi. Seydlitzens wollen hierher kommen. Eben an Fuchs geschrieben. Dr. Eiser und Frau werden mich auch besuchen (der Arzt aus Frankfurt: er meinte, Prof. Schrön habe mich zu homöopathisch behandelt und war guter Hoffnung in Betreff meiner Neuralgie) War unser Zusammensein nicht hübsch? Das Beste Dir wünschend Dein Bruder.
Warst Du in Strassburg? Bitte.
642. An Paul Deussen in Aachen
<Rosenlauibad, Anfang August 1877>
Lieber Freund, wie spät bekommst Du den Dank für das Geschenk Deines Buches! Aber meine Reisen und indirekt also das, was diese Unbeständigkeit des Aufenthaltes nöthig machte, meine Gesundheit — denn ich bin seit October vorigen Jahres nicht mehr in Basel, sondern überall (namentlich in Süditalien und Hochalpen) gewesen: diese angegebenen Umstände liessen Dein Werk erst spät in meine Hände gelangen. Im Herbst will ich das Experiment machen, meine Baseler Stellung wieder wie früher einzunehmen: viel Vertrauen hab ich nicht. Viel Schmerzen (in Folge einer chronisch gewordenen Kopf-Neuralgie) waren inzwischen mein Loos, ihr Ertragen meine Hauptthätigkeit.
Du hast Deine Jahre sehr gut angewendet: strenger Wille des Lernens, erworbene Deutlichkeit und entschiedene Befähigung zur Mittheilung — welche viell<eicht> im mündl<ichen> Vortrag noch auf einer höhern Stufe stehen mag —: davon redet jede Seite Deines Buches. Allen denen, welchen es nütze ist Schopenhauer kennen zu lernen, namentl<ich> aber denen, welche sich selber über ihre Kenntniss desselben controliren wollen, hast Du einen ausgezeichneten Leitfaden in die Hand gegeben; jeder Leser findet ausserdem von Dir so manches darin für das er dankbar sein muss (namentl<ich> aus dem schwer zugänglichen Gebiete der indischen Studien)
Ich, ganz persönlich, beklage eins sehr: dass ich nicht eine Reihe Jahre früher ein solches Buch, wie das Deine, empfangen habe! Um wie viel dankbarer wäre ich Dir da gewesen! So aber, wie nun die menschl<ichen> Gedanken ihren Gang gehen, dient mir seltsamerweise Dein Buch als eine glückliche Ansammlung alles dessen, was ich nicht mehr für wahr halte. Das ist traurig! Und ich will nicht mehr davon sagen, um Dir nicht mit der Differenz unserer Urtheile Schmerz zu machen. Schon als ich meine kleine Schrift über Sch<openhauer> schrieb, hielt ich von allen dogmatischen Puncten fast nichts mehr fest; glaube aber jetzt noch wie damals, dass es einstweilen höchst wesentlich ist, durch Schopenhauer hindurch zu gehen und ihn als Erzieher zu benutzen. Nur glaube ich nicht mehr, dass er zur Schopenhauerschen Philosophie erziehen soll. —
Lebe wohl, lieber Freund und verzeih meinen Augen, welche mehr zu schreiben verbieten.
Dein F.
Sende ein Exemplar an Dr. Romundt Gymnasiallehrer in Osnabrück.
An Prof. Dr. Heinze in Leipzig.
Ich bin bis Ende August in Rosenlauibad bei Meiringen Berner Oberland, von da an: in Basel.
643. An Paul Rée in Stibbe
Rosenlaui <Anfang August 1877>Residenz für den ganzen August 1877.
Mein lieber Freund,
man schreibt mir, dass es Ihnen wieder besser geht und dass Sie aus dem dunklen Zimmer entsprungen sind: so darf ich ja wieder schreiben, ohne zu befürchten, dass ein Brief Sie zu gesundheitswidrigen Excessen der Freundschaft treibt: wie es Ihr letzter lieber Brief leider gewesen ist! —
Heute habe ich etwas für die Verbreitung Ihres Namens thun können. Unter den Engländern, welche hier mit mir wohnen, ist auch der mir sehr sympathische Professor der Philosophie an dem Londoner University Col<l>ege Robertson, der Herausgeber der besten englischen Zeitschrift über Philosophie „Mind“, a quarterly review“ (Williams and Norgate, 14 Henrietta Street, Covent Garden, London). Mitarbeiter sind alle Größen Englands Darwin (von dem ein reizend guter Aufsatz biographical Sketch of an Infant in No VI steht) Spencer Tylor usw. Sie wissen dass wir in Deutschland nichts Ähnliches an Güte haben, wie die Engländer in dieser Zeitschrift, die Franzosen in der ausgezeichneten revue philosophiqu<e> von Th. Ribot. Also: der Editor von „Mind“ bekam Ihr Buch zu lesen, ist voller Interesse und versprach heute Mittag aus freien Stücken, in seinem Blatte darauf aufmerksam zu machen. Mir fiel wieder ein, bei seinen Gesprächen über Darwin Bagehot usw, wie sehr ich Ihnen wünschte, in diesen Umgang, den einzig gut philosophischen, den es jetzt giebt, hineinzukommen. Wollen Sie nicht für diese Zeitschrift mitarbeiten? Die Übersetzung besorgt (oder lässt besorgen) der Editor. Von Wundt erscheint im nächsten Hefte ein grosser Aufsatz „die Philosophie in Deutschland“; hier in Rosenlaui wird er übersetzt. —
Heinze hat seine volle Genugthuung über Ihr Buch ausgesprochen: er bedauert ernsthaft, warum Sie nicht Leipzig zur Habilitation ausgewählt haben: er würde dieselbe lebhaft befürworten, weil er längst gewünscht habe, dass dieser Richtung (Philosophie mit Darwin) eine öffentl<iche> Anerkennung gegeben werde. (Er selber, sagte er, sei noch ein bischen radicaler als Sie, er sehe nichts als Egoismus usw).
Die letzten Nachrichten stammen aus einem Gespräche Heinze’s mit meiner Schwester.
Anfang September bin ich wieder in Basel, wo mir besagte gute Schwester bereits eine gute Wohnung besorgt hat. Alles, Universität und Pädagogium, wird wieder in Angriff genommen: ein Versuch. Denken Sie, einer meiner „Leser“, Dr. med. Eiser aus Frankfurt a/M besuchte mich drei Tage hier oben, mit seiner Frau und hat mir sehr gefallen. Er hat sich ganz als mein Arzt benommen und ich glaube Grund zu haben, ihm sehr zu vertrauen. Neue Medicamente und ziemlich hoffnungsvolle Aussichten für meine Gesundheit. (Es war derselbe, der mich zu einer öff<entlichen> Rede in Fr<ankfurt> einlud).
Mit Frl. v. M<eysenbug> habe ich mich in wahrhaft schrecklicher sinneverwirrender Weise verfehlt, ich war aus, sie zu suchen und bin förmlich mit dem Wagen um sie herumgefahren, ohne sie zu finden. Sie ist nicht in Aeschi, sondern in Faulenseebad bei Spiez, Thuner See. — Ihren Angehörigen meine ergebensten Grüsse!
Ihnen selber Gesundheit Glück und Freude! In treuer Gesinnung der
Ihrige Friedrich N.
644. An Malwida von Meysenbug in Faulensee
<Rosenlauibad, den 4. August 1877>(Sonnabend)
Liebste mutter-gleiche Freundin,
es geht nicht! Ich habe mich bei meiner Rückkehr nach R<osenlauibad> sofort für den ganzen August gebunden, in der Annahme, Sie seien wirklich, wie es Ihr Seelisberger Brief verhiess, wegen des elenden Wetters sofort wieder über die Alpen zurück gegangen. So habe ich denn hier einen Ausnahme-Pensionspreis, viel geringer als alle Andern (denn ich brauche viel weniger, esse immer für mich, nicht table d’hôte: denken Sie, ich habe in meinem Leben nie so opulent gelebt wie in Sorrent) Dann bekommt es mir hier immer besser; wo kann ich aber auch, wie hier, vor dem Frühstück zwei Stunden und vor dem Abendessen zwei Stunden wie hier im Schatten der Berge spazieren gehen! — Am ersten September beziehe ich meine neue Wohnung in Basel. Ich bin leider genöthigt, jetzt jeden Franken anzusehen: was soll im Winter sonst werden, mit meiner guten Seh wester zusammen!
Ich entbehre Sie und hätte Ihnen so manches zu sagen.
Dr. Eiser machte mir die Freude, 4 Tage mit seiner Frau mich hier zu besuchen; wir sind uns sehr nahe gekommen und überdiess: ich habe den besorgtesten Arzt für mich gewonnen, den ich mir nur wünschen kann. Ich stehe jetzt also unter seinem Regime: ziemlich gute Hoffnung! Er ist erfahren, Sohn eines Arztes, selber in den 40 Jahren, ich gebe viel auf die geborenen Ärzte.
Dann habe ich mit einem Engländer Ms G Croom Robertson und dessen Familie Neigung um Neigung eingetauscht, es that mir weh, ihn heute scheiden zu sehen. Er ist Professor in University College London und Herausgeber der besten philosoph<ischen> Zeitschrift (nicht nur für England, sondern überhaupt; höchstens Th. Ribot’s Revue philosophique steht ihr gleich) Ihm ist gelungen, was Monod in Betreff aller französ<ischen> Autoritäten der Historie mit seiner Revue gelungen ist: an seiner Zeitschrift „Mind“ arbeiten alle philos<ophischen> Grössen (Spencer Tylor Maine Darwin usw. usw.) — Er war sehr eingenommen für Rée’s Buch, will darauf sehr aufmerksam machen und versprach, wenn Rée oder ich nach London käme, eine persönliche Beziehung zu allen den genannten Autoritäten zu vermitteln. Er sprach sehr gut über Wagner und Londoner Concerte. Beim Abschied habe ich seiner Frau noch Ihre „Memoiren“ in einer Weise empfohlen und an’s Herz gelegt, dass — usw. Dasselbe habe ich neulich mit zwei polnischen Damen gethan, mit denen ich mich innerhalb zweier Wochen förmlich befreundet habe, Mutter und Tochter de Hattovski, der Vater ist russischer General in Tiflis. — In summa: die Menschen sind recht gut mit mir gewesen.
Prof. Heinze (ord. Prof. der Philosophie) in Leipzig bedauert sehr dass Rée nicht dort sich habilitire: er verlange längst nach einer Vertretung dieser Richtung. (Übrigens sei er selber noch etwas radicaler, er sehe nichts als Egoismus usw) — Deussen’s Elemente der Metaphysik“ ein Leitfaden für Schopenhauer, ist erschienen. Viel Indisches darin.
Über Brenner schreibt Köselitz; ich lege den Brief bei, bitte ihn mir gelegentlich wieder aus.
So! Die Augen thun wieder weh. Ihrer Gesundheit gute Kräftigung von Herzen ersehnend und mit herzlichen Empfehlungen an die Ihrigen
Ihr treuer
Friedr. Nietzsche
645. An Heinrich Köselitz in Basel (Postkarte)
<Rosenlauibad, 7. August 1877>
Wie gut haben Sie geschrieben, lieber Freund! — Ihre „Busse“ gehört, nach kathol<ischen> Begriffen zu den „überschüssigen Verdiensten“ der Heiligen: sie soll Anderen zu Gute kommen; Sie selbst haben sie für sich nicht nöthig gehabt. Ich habe nicht einen Augenblick anders an Sie gedacht als mit Freude und der Erwartung eines fruchtbaren Zusammensein’s vom Herbst an. — Wie könnte man nur Ihrem Freunde etwas nützen? Ich zerbreche mir den Kopf. Was wünscht er ungefähr, welche Art von Stellung? Wohl nicht mehr eine Informator-Stellung, sondern etwas Festeres? Und mit welchen Lehrgegenständen? Sagen Sie mir doch ein kurzes Wort darüber.
Mit herzl<ichen> Grüssen an Sie Beide Guten!
646. An Elisabeth Nietzsche in Basel (Postkarte)
<Rosenlauibad, 7. August 1877>
Liebe Schwester, herzl<ichen> Dank für gute Nachrichten. Dr. Eiser und Frau besuchten mich 4 Tage hier, sehr angenehme Beziehungen mit Frankfurt entstanden, ich habe versprechen müssen, sie im Winter einmal zu besuchen. Sodann ist mir ein Engländer mit seiner Familie sehr nahe getreten (Professor an der Universität zu London Ms Croom Robertson (mit nächsten Beziehungen zu Darwin Tylor Spencer, allen philos<ophischen> Grössen Engl<and>s überhaupt) Werden uns im nächsten Sommer in Basel besuchen. Dann war Kaiser und Kaiserin v<on> Brasilien hier im Hause. Ein Freund Lipiner’s hat sich hier niedergelassen. Freitag lag ich zu Bett. Im Ganzen geht es gut.
Wenn es Dir nur gut geht! Von Herzen.
647. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Rosenlauibad, 10. August 1877>
Herzl<ichen> Dank, ja wer so unterhalt<ende> Briefe schreiben kann! Oder dürfte! Denn die Augen sind schlechter, immer schlechter. Die Salbe ist nichts für mich (ich habe sie versucht), ganz anders Leidenden mag sie gut sein (mein Auge ist ja gesund, nur der Augennerv leidend, in Verbindung mit allen benachbarten Nerven) Freitag lag ich zu Bette. Im Ganzen thut mir aber das Hochgebirge sehr wohl. Besuch eines Arztes und seiner Frau auf 4 Tage. Dann Besuch von Prof. Monod und Olga. Dann sehr angenehme Beziehungen zu einem englischen Gelehrten. Dann war der Kaiser von Brasilien mit 17 Mann Gefolge hier im Hause. Es ist immer ganz voll. (v. Seydlitz mit Frau hat seinen Besuch angekündigt. Auch ein Freund Lipiner’s war hier, Hr. Vohsen aus Mainz. Mag es Dir recht, recht gut gehen!
Dein F
648. An Elisabeth Nietzsche in Basel (Postkarte)
<Rosenlauibad, 10. August 1877>
Liebe Lisbeth, inzwischen hat mich Dr. Eiser mit Frau auf 4 Tage besucht, sehr angenehm! Ebenso war Monod und Olga hier; ein wunderhübsches Bild der 2 Kinder habe ich für Dich bekommen. Seydlitzens sind in Faulensee und kommen dann hierher. Kaiser und Kaiserin v<on> Brasilien waren hier im Hause. Auch ein Freund v<on> Lipiner. Sehr gutes Wetter. Mir thut nichts so wohl wie Hochgebirge. Einen Tag zu Bett gelegen. Im Ganzen viel besser als in Felsenegg. Langer Brief unsrer Mutter. Ich bleibe bis Ende August hier (werde aber noch Geld brauchen!) Adieu meine Gute Liebe!
Dein B<ruder>.
649. An Reinhart von Seydlitz in Grindelwald (Postkarte)
<Rosenlauibad, 20. August 1877>
Liebster Freund, heute nur die Nachricht, dass nächsten Montag unser Haus sich bedeutend leeren wird, insofern ungefähr die Hälfte der Pensionäre weg reist. — Ich bedauere immer noch auf das Schmerzlichste, dass der Aufenthalt hier reich an Übelständen war: ich will von Herzen wünschen, dass die „Wasserfahrt über das Gebirge“ ohne Leibesschaden abgelaufen ist. — Novelle zweimal gelesen, einmal als Freund, sodann als Schriftgelehrter. — Plato und Seneca grüssen, jeder auf seine Art: ich selber schwankte inzwischen mit meiner Gesundheit hin und her und sah gestern (zu Bett liegend) Seneca ähnlich (besonders mit dem Bande) Möge mein Gruss Sie und Ihre verehrten Frauen bei Heiterkeit und Sonnenschein treffen! —
650. An Reinbart von Seydlitz in Grindelwald
Rosenlauibad, Mittwoch <22. August 1877>
Mein lieber Freund,
Sie in Grindelwald, ich in Rosenlaui — nichts als eines Esels Rücken liegt zwischen uns (Sie wissen doch, daß man die große Scheidegg so nennt?)
Nun will ich Ihnen zum zweiten Male zeigen, inwiefern ein Eselsrücken zwischen uns liegt. Nichts besser ausgedacht als Ihr Plan des allgemeinen Rendezvous — aber ich muß fehlen (jedes Wort, aber aus verschiednen Gründen zu unterstreichen, so daß es eigentlich 4 Sätze, mit verändertem Sinne, sind). Nach der Verständigung mit meiner Schwester kann ich erst am 1. Sept. in meine Wohnung. So lange bleibe ich hier, weil ich hier am billigsten lebe, Sie wissen, inwiefern. Am Abreisetag will ich morgens um 3 Uhr aufbrechen, in Meiringen die Post nach Brienz erreichen, und dann, mit Hülfe 2. Classe auf Dampfschiffen und 3. Classe auf Eisenbahnen, direkt nach Basel fahren. Schämen Sie sich an meiner Stelle, ich habe darin alle Scham verloren, es ist zum Erbarmen. — Trotzdem glaube ich, daß ich nichts mehr, nach dieser Mittheilung, zu sagen habe, um meine Abwesenheit beim Rendezvous zu entschuldigen. — Frl. von M<eysenbug> kommt später nach Basel, ebenso Monod’s — und daß Sie Basel kreuzen müssen, möchte ich beschwören, ohne auch zu wissen, was inzwischen über Ihren Winteraufenthalt entschieden worden ist. So zweifle ich ebenfalls nicht daran, daß es mir erlaubt sein wird, noch vor Monatsfrist, Ihre verehrte Frau Mutter nochmals zu begrüßen und mich bei der Grindelwalder Briefschreiberin und Rosenlaui-Herumkletterin schönstens persönlich zu bedanken. Kurz wenn ich’s recht überlege: alle Wege führen (zwar nicht nach Rom! oder doch?) aber nach Basel. —
Eine Karte, nach dem Lauterbrunner Steinbock gesandt, ist nicht in Ihre Hände gekommen.
Das Hôtel ist immer noch, zu meinem Erstaunen, fast voll. Doch würde es zu keinen solchen „Miserabilitäten“ wieder kommen, wie bei Ihrem damaligen Erscheinen. — Gestern Abend kam Ihre Karte, diese Nacht großes Gewitter, heute früh (in der Voraussetzung, daß Sie alle noch schlafen) schreibe ich und war schon am Gletscher.
Ihre Novelle giebt mir viel zu denken (über Sie und über die Novelle) und wenn wir uns wiedersehen, viel zu sprechen. Spinnen Sie, spinnen Sie — ich fürchte immer, das Netz risse zu schnell. Und verknoten Sie am Ende den Amerikaner recht fest (mit Matrosenknoten) in’s Netz, und wenn er dran ersticken sollte!
Mich herzlich grüßend vor Ihnen Allen verneigend, Manches bedauernd, Vieles hoffend
bin ich
Freund F. Nietzsche.
651. An Elisabeth Nietzsche in St. Romey (Postkarte)
<Rosenlauibad, 22. August 1877>
Liebe Schwester, für alles Mitgetheilte herzl<ichen> Dank. Inzwischen waren Seidlitzens hier, auch die alte Baronin Mutter. Ich lag seit letzter Karte 2 mal zu Bett und bin doch recht über den Winter besorgt. Die Anstrengung der Augen ist es jedesmal, die mich für den nächsten Tag zu Grunde richtet! — 100 werden wohl genügen, ich will Samstag 1 Sept. von hier direct nach Basel, falls Du dann fertig bist. So eben schrieb ich ein allgemeines, von Seydl<itz> vorgeschlag<enes> Rendezvous in Interlaken ab (als zu kostspielig für mich) Es ist sehr heiss, nicht? Grüsse Vischers auf’s Herzlichste und denke an mich.
Dein F.
Alle Strassburg<er> Nachricht <en> haben mich sehr gefreut.
652. An Siegfried Lipiner in Jena (Fragment)
<Rosenlauibad, 24 August 1877>
[+ + +] Also: Von jetzt an glaube ich, dass es einen Dichter giebt. [+ + +] sagen Sie mir sodann ganz unbefangen, ob Sie in Hinsicht auf Herkunft in irgend einer Beziehung zu den Juden stehen. Ich habe nämlich neuerdings so manche Erfahrungen gemacht, die mir eine sehr grosse Erwartung gerade von Jünglingen dieser Herkunft erregt hat. [+ + +] erst wenn mein Buch erschienen ist, wünsche ich, aber dann auch ganz dringend Ihre persönliche Begegnung: Vor dem wären zu viele Präliminarien nöthig, um sich nicht misszuverstehen — und ich habe wenig Zeit. — [+ + +]
653. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Rosenlauibad, 25. August 1877>
Den herzlichsten Dank für die Sendung. Ich habe eine unbeschreibliche Freude durch die Dichtung L<ipiner>’s gehabt, sie ist ersten Ranges, er selber ein wirklicher Dichter, seine Jugend rein wunderbar bei alledem. Nun du mir sagst, dass er auch als Mensch liebenswerth ist, so ist es ja ein überreicher Gewinn, den ich da auf einmal mache.
Dies in Kürze Dein F.
654. An Franz Overbeck in Zürich
<Rosenlauibad, 28. August 1877>
Lieber lieber Freund
in wenigen Tagen mache ich meine Heimfahrt, nach Basel. Meine Schwester ist schon dort und richtet ein (sie richtet immer viel aus, in solchen Dingen) Von dort aus will ich eines schönen Tages auch zu Dir, zu Euch hinüber kommen, denn es verlangt mich herzlich darnach, mit Dir zu reden und zu rathen. Der Aufenthalt hier oben war gewiss das Vernünftigste meiner ganzen Gesundheitsjagd; aber ich bringe sie auch von hier nicht heim. Eine Zeit lang wird’s aber schon vorhalten. Eins aber sehe ich jetzt mit völliger Klarheit: auf die Dauer ist eine akadem<ische> Existenz für mich unhaltbar. Ich habe täglich ungefähr 1½ Stunde Augenlicht zu verbrauchen, das weiss ich jetzt aus sorgsamer Beobachtung. Lese und schreibe ich länger, so muss ich’s schon am selben Tage mit Schmerzen büssen und wenige Tage darauf mit einem alten heftigen Anfall (Gestern hatte ich ihn wieder) Ich habe den 4 tägigen Besuch eines treffl<ichen> Arztes und Menschen gehabt, des Dr. Eiser aus Frankfurt (mit Frau) dessen Behandlung ich mich jetzt ganz anvertraut habe. Er fand, dass Prof. Schrön mich beinahe homöopathisch behandelt habe.
Nun drängen mich meine Gedanken vorwärts, ich habe ein so reiches Jahr (an innerem Ergebniss) hinter mir; es ist mir als ob die alte Moosschicht täglichen philologischen Nothberufs eben nur abgehoben zu werden brauchte — und alles steht grün und saftig da. Mit Missmuth denke ich daran, dass ich jetzt meine Ausbeute liegen lassen muss, vielleicht die frische Empfindung dafür und damit Alles verliere! Hätte ich doch irgendwo ein Häuschen; da gienge ich wie hier täglich 6-8 Stunden spazieren und dächte mir dabei aus, was ich nachher im Fluge und vollkommener Sicherheit auf’s Papier hinwerfe — so habe ich’s in Sorrent, so hier gemacht und einem im Ganzen unangenehmen und verdüsterten Jahre viel abgewonnen. (Nicht wahr, ich habe vor Dir mich nicht über diese Offenheit des Selbstgefühls zu entschuldigen?)
Alles Andre (und manches Andre) mündlich. Sage Deinen lieben An- und Zugehörigen meinen herzlichsten Dank für Alle Theilnahme und die wiederholte Einladung. Dir selbst mit innigem Händedruck das Beste wünschend, alter lieber Freund
F N.
655. An Malwida von Meysenbug in Faulensee (Postkarte)
<Rosenlauibad, 28. August 1877>
Verehrteste Freundin, ist meine Karte verloren gegangen? Ich hatte so grosse Freude an M<onod>s plötzl<ichem> Erscheinen; wäre nur die arme Olga nicht krank geworden! Wir haben uns so wenig sagen können. Zum Rendezvous kann ich nicht kommen, Gründe dieselben. Am 1 Sept. Abends bin ich in Basel; meine gute Schwester arbeitet jetzt schon mächtig in Umzug und Einrichtung. — Ach könnte ich doch Basel 4000 Fuss in die Höhe heben! — Also wir sehen uns! Schönsten Dank für die schwarzen Kappen!
Treulich Ihr
F. N.
Was macht Bébé?
656. An Erwin Rohde
<Rosenlauibad, 28. August 1877>
Lieber lieber Freund,
wie soll ich es nur nennen — immer wenn ich an Dich denke, überkommt mich eine Rührung; und als mir neulich jemand schrieb „Rohdens junge Frau ein höchst liebliches Wesen, dem die edle Seele aus allen Zügen hervorleuchtet“ da habe ich sogar Thränen vergossen, ich weiss gar keinen haltbaren Grund dafür anzugeben. Wir wollen einmal die Psychologen fragen; die bringen am Ende heraus, es sei der Neid, dass ich Dir Dein Glück nicht gönne oder der Ärger darüber, dass mir jemand meinen Freund entführt habe und nun Gott weiss wo in der Welt, am Rhein oder in Paris, verborgen halte und ihn gar nicht wieder herausgeben wolle! Als ich neulich meinen Hymnus an die Einsamkeit im Geiste mir vorsang, war es mir plötzlich als ob Du meine Musik gar nicht möchtest und durchaus ein Lied auf die Zweisamkeit verlangtest: am Abend darauf spielte ich auch eins, so gut ich es verstand, und es gelang mir: so dass alle Englein mit Vergnügen hätten zuhören können, die menschlichen Englein zumal. Aber es war in einer finstern Stube, und niemand hörte es: so muss ich Glück und Thränen und Alles in mich verschlucken.
Soll ich Dir von mir erzählen? Wie ich immer, schon 2 Stunden bevor die Sonne in die Berge kommt, unterwegs bin, und dann namentlich in den langen Schatten des Nachmittags und Abends? Wie ich mir vielerlei ausgedacht habe und mir so reich vorkomme, nachdem dies Jahr mir endlich einmal erlaubt hat, die alte Moosschicht täglichen Lehr- und Denkzwanges einmal abzuheben? So wie ich hier lebe, ertrage ich es selbst mit allen Schmerzen, die mir freilich auch auf die Höhe gefolgt sind — aber dazwischen giebt es so viele glückliche Erhebungen des Gedankens und der Empfindung. Ganz neuerdings erst erlebte ich durch den „entfesselten Prometheus“ einen wahren Weihetag: wenn der Dichter nicht ein veritables „Genie“ ist, so weiss ich nicht mehr, was eins ist: alles ist wunderbar, und mir ist als ob ich meinem erhöhten und verhimmlischten Selbst darin begegnete. Ich beuge mich tief vor einem, der so etwas in sich erleben und herausstellen kann.
In drei Tagen gehe ich nach Basel zurück. Meine Schwester ist dort bereits mit Einrichten tüchtig beschäftigt. Der treue Musiker Köselitz zieht in meine Behausung und will die Dienste eines hülfreichen Schreiber-Freundes übernehmen. Mir graut etwas vor diesem Winter; es muss anders werden. Jemand, der täglich nur wenig Zeit für seine Hauptsachen und fast alle Zeit und Kraft für Pflichten auszugeben hat, die andre so gut besorgen können wie er — ein solcher ist nicht harmonisch, mit sich im Zwiespalt — er wird endlich krank. Wenn ich Wirkung auf die Jugend habe, so verdanke ich sie meinen Schriften, und diese meinen abgestohlenen Stunden, ja den durch Krankheit eroberten Interimszeiten zwischen Beruf und Beruf. — Nun, es wird anders: si male nunc, non olim sic erit. Inzwischen möge das Glück meiner Freunde wachsen und blühen, es thut mir immer herzlich wohl an Dich zu denken, mein geliebter Freund (ich sehe dich eben an einem rosenumgränzten See und einen schönen weissen Schwan auf Dich zuschwimmen)
In brüderlicher Liebe Dein F.
657. An Elisabeth Nietzsche in Basel (Postkarte)
<Rosenlauibad, 28. August 1877>
Meine liebe Elisab<eth> hast Du meine letzte Karte bekommen? Also ich komme Sonnabend Abend, den 1 Sept. Welche Hausnummer? — Meinen Augen geht es wieder recht schlecht, ich habe es nun auf das sorgsamste erprobt, dass Vormittags 1½ Stunde Schreiben und Lesen und den ganzen Tag sonst spazieren gehen und schlafen, womögl<ich> im Schatten, die einzige Existenzform ist, die ich aushalte. Mir graut vor der verdammten Philol<ogie>. Wie viel habe ich ausgedacht! Wie reich fühle ich mich! Und nun soll alles wieder unter die Moosdecke vergraben werden! Höchst widerlich! — Hilf mir’s tragen und sinne auf Abhülfe.
Dein Getreuer F.
658. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Rosenlauibad, 28. August 1877>
Gleich wieder schreiben und danken, für B<uch> und G<eld>, aber auf Kärtchen, hilft nichts! Eben vom Krankenbette wieder auferstanden, schmerzende Augen, trotzdem 6 Briefe und Karten heute morgen abzumachen. Ich bin immer wüthend, wenn ich daran denke: Correspondenz mit 30 und mehr Personen, ausser dem Zufälligen: dabei Nr. 2 Brille; Blindheit irgendwann unvermeidlich; tägliche Augenschmerzen; höchstens 1½ Stunde jeden Tag noch Augenlicht für Lesen und Schreiben (für meine Pflichten und Hauptsachen!) ich glaube Du denkst Dir’s nicht schlimm genug. — An Lip<iner> nach Wien geschrieben. Sonnabend nach Basel. Könnte ich doch auf der Höhe hier noch bleiben! Der Winter wird schlimm. — Im Frühjahr also auf Wiedersehen bei mir?
Adieu meine liebe Mutter. F.
Unzureichend frankirt, 65 ct. nachgezahlt.
659. An Reinhart von Sedlitz in Mürren (Postkarte)
<Rosenlauibad, 28. August 1877>
Novelle wieder gelesen, in Hinsicht auf Stil. Nun steht alles Tugenden und Schwächen, schön im Geiste vor mir aufmarschirt. Die Schwächen werden Sie besser kennen, die Tugenden aber kenne ich besser (nebst dem was Tugend werden will) So kann es eine hübsche Unterredung abgeben. —
Hinter Murren liegt der Allmendhubel: hinter diesem in Nachmittagsspaziergangs-Weite, ein schöner Berg, von mir „Druidenaltar“ getauft und oft bestiegen. Oben ein allerliebster kleiner Grat von 20 Fuss; da lag ich viel. Ich freue mich, dass Sie zusammen in Mürren sind; aber wann werden wir uns nun wiedersehen? Meinen Brief nach Grindelwald haben Sie erhalten? Ihrer verehrten Frau Mutter und liebwerthesten Frau Gattin ergebenste Grüsse von
Ihrem Freunde F N. (keine Briefe hier)
660. An Louise Ott in Paris
Rosenlauibad, 29. August <1877>(ach, übermorgen muss ich fort! nach dem alten Basel wieder!)
Liebe liebe Freundin
ich will meine Bergeinsamkeit nicht verlassen, ohne Ihnen wieder einmal brieflich zu sagen, wie gut ich Ihnen bin. Wie unnütz, dies zu sagen, zu schreiben, nicht wahr? Aber meine freundschaftliche Empfindung für Jemanden hängt sich ein wie ein Dorn und ist mitunter lästig wie ein Dorn, man wird sie nicht leicht los. So nehmen Sie denn den kleinen unnützen lästigen Brief nur immer hin!
Man hat mir erzählt, daß Sie — nun, daß Sie erwarten, hoffen, wünschen; mit inniger Theilnahme hörte ich es und wünsche mit Ihnen. Ein neuer guter und schöner Mensch mehr auf der Welt, das ist etwas, das ist viel! Da Sie es durchaus ablehnen, sich in Romanen zu verewigen, so thun Sie es auf jene Weise; wir Alle müssen Ihnen sehr dankbar dafür sein (zumal es, wie man mir sagt, sehr viel mehr Noth macht als selbst das Romaneschreiben) —
Neulich sah ich auf einmal plötzlich im Dunkeln Ihre Augen. — Warum sieht mich kein Mensch mit solchen Augen an, rief ich ganz erbittert aus. O es ist abscheulich! —
Warum habe ich Sie niemals singen gehört? — Wissen Sie, noch niemals hat eine weibliche Stimme auf mich tief gewirkt, obschon ich Berühmtheiten aller Art gehört habe. Aber ich glaube daran, dass es eine Stimme für mich auf der Welt giebt, ich suche nach ihr. Wo ist sie nur? —
Leben Sie wohl, alle guten Geister mögen um Sie sein.
Treulich
Ihr
Friedrich Nietzsche
661. An Marie Baumgartner in Lörrach
<Rosenlauibad> 30 August. <1877>
Hier, meine liebe und verehrte Frau, ein Briefchen als Vorreiter meiner Ankunft in Basel — nicht als Antwort auf Ihren guten wie immer seelenreichen Brief. Wenn es mir mannichmal graute, an die Dämmerung meiner Baseler Existenz in diesem kommenden Winter zu denken, so fiel mir auch immer Ihre trauliche Stube und Ihr herzliches Empfinden ein. „Entbehren sollst du, musst entbehren“ heisst es ja überall, in jedem Menschenleben: da müssen die guten Freunde schön an einander halten, damit es doch ein warmes Plätzchen in der Welt giebt, wohin die Oede des Entbehrens nicht hinein darf.
Mir ist jetzt immer deutlicher geworden, dass es eigentlich der übergrosse Zwang war, den ich mir selbst in Basel anthun musste, an dem ich zuletzt krank geworden bin; die Widerstandskraft war endlich gebrochen. Ich weiss es, fühle es, dass es eine höhere Bestimmung für mich giebt als sie sich in meiner Baseler so achtbaren Stellung ausspricht; auch bin ich mehr als ein Philologe, so sehr ich für meine höhere Aufgabe, auch die Philologie selbst gebrauchen kann. „Ich lechze nach mir“ das war eigentlich das fortwährende Thema meiner letzten 10 Jahre. Jetzt, wo durch ein Jahr Zusammensein mit mir selbst alles ganz deutlich und übersichtlich geworden ist (— ich kann nicht aussprechen, wie reich, wie schaffensfreudig, trotz allen Schmerzen, ich mich fühle, sobald man mich allein lässt —) jetzt sage ich Ihnen auch mit Bewusstsein, dass ich nicht nach Basel zurückkehre, um dort zu bleiben. Wie es sich gestalten wird, ich weiss es nicht; aber meine Freiheit (— ach, die äusseren Bedingungen dazu sollen so bescheiden wie möglich sein —) diese Freiheit werde ich mir erobern.
Nun helfen und sinnen Sie mit, aus gutem freundschaftlichen Herzen, wie ich es zunächst wieder ertrage.
Ihr lieber Sohn geht nach Jena? Das hat mich sehr erfreut, ich wüsste ihm auch nichts besseres zu rathen. Rohde ist der begabteste und tüchtigste der jungen Philologen. — Aber ich sehe ihn noch im September? so schreibt mir meine Schwester, die arme, die jetzt wieder das Haus in Stand zu bringen hat.
Also auf Wiedersehen in Kürze.
Treulich der Ihre
Dr Friedr Nietzsche
662. An Malwida von Meysenbug in Faulensee
<Basel, 3. September 1877>Gellertstrasse 22.Montag.
Verehrte liebe Freundin
wie freuen wir uns Sie hier zu sehen, wie bedauern wir, dass M<onod>s nur unserem Basel eine Durchfahrt gönnen! Unter allen Umständen möchten wir am Bahnhofe sein — also wann? Um 5 Uhr vermuthlich? —
— Nun ich bin hier, die ganze letzte Zeit in Rosenlaui war für mich schlecht; mit heftigem Kopfweh verliess ich es früh um 4 Uhr, allein, im Finstern. —
Wohnung, Umgebung und meine gute Schwester — alles finde ich um mich herum reizend, anreizend, festbannend. — Aber in mir kriecht mancher Wurm der Sorge.
Ich schlief 2 Nächte so gut, so gut!
Auch waren schöne Briefe da, von Overbeck, Frau Ott und Dr. Eiser, der es als Arzt verlangt, dass ich bald nach Frankfurt zu einer neuen Berathung komme. — Was sagen Sie von Sorrent! Noch jüngst in Rosenlaui brachte ich eine schlaflose Nacht damit zu, in lieblichen Naturbildern zu schwelgen und mich zu besinnen, ob ich nicht auf irgend eine Weise oben auf Anacapri wohnen könnte. Ich seufzte aber immer bei der Einsicht, dass Italien mich entmuthigt, mich kraftlos macht (wie haben Sie mich in diesem Mai kennen gelernt! Ich schäme mich; so war ich nie!)
In der Schweiz bin ich mehr ich, und da ich die Ethik auf möglichste Ausprägung des „Ich“ und nicht auf Verdunstung baue, so — — — — — — — —
In den Alpen bin ich unbesiegbar, namentlich wenn ich allein bin und ich keinen andern Feind als mich selber habe.
Ich habe meine Studien über griech<ische> Literatur vorgenommen — wer weiss ob was daraus wird? —
Leben Sie wohl. Haben Sie das Feenweibchen gefunden, welches mich von der Säule, an welche ich angeschmiedet bin, losmacht?
Herzlichstes und Gutes
voraus sendend, Ihnen entgegen
F.
663. An Franz Overbeck in Zürich
<Basel, 11. September 1877>Dienstag Gellertstr. 22
Lieber lieber Freund,
mir ist es zur Feier meiner Rückkehr nach Basel bis jetzt immer schlecht gegangen; nun wollen wir zusammen sehen, ob ich mich in Zürich besser benehme: was ich, in Deinem, in Eurem Interesse wünsche, damit Ihr nicht bereut, einen Kranken eingeladen zu haben.
Also: ich denke übermorgen, Donnerstag Vormittag, mit Bözbergbahn, zu Dir zu kommen: 12 Uhr 28 M. Ankunft in Zürich. Erwarte mich ja nicht am Bahnhofe, bitte! Kann ich 2, 3 Tage bleiben?
Wie freue ich mich auf unser Wiedersehen!
Heute ist Frl. v. Meysenbug bei uns.
Ich will Brenner’s Novelle (in der „Rundschau“ gedruckt) mitbringen.
Deinen Lieben meinen herzlichsten Dank und Gruss voraus schickend.
F N.
664. An Heinrich Köselitz in Basel (Postkarte)
<Basel, 20. September 1877>
Wollen Sie, lieber Guter, heute Nachmittag (vielleicht um 3 Uhr?) kommen? Ich bin von Zürich zurück und fand Ihre Abschriften mit Erstaunen vor (ich gab sie Ihnen mit der stillen Bosheit, Sie zum Geständnisse zu nöthigen, dass ich unleserlich sei: aber was ist Ihnen unverständlich? —)
665. An Franz Overbeck in Zürich (Postkarte)
<Basel, 25. September 1877>
Ein paar Worte Dank für den eben erhaltenen Brief. Unsern armen G<ersdorff> müssen wir jetzt gehen lassen, die Sache ist nicht mehr aufzuhalten. Er schrieb mir von Paris aus, wo N<erina> und ihr Vater ist. G<ersdorff> ist voll Erbitterung gegen Alle, nament<lich> Frl. v. Meys<enbug> (!) und nur N<erina> behält Recht und Gunst. Wir könnten ihn jetzt durch Aufklärungen nur wüthend machen, er glaubt keinem Menschen ausser ihr. Traurig, zum Erbarmen. — Dr. Eiser erwartet mich in der ersten Octoberwoche. Baumg<artner> reist heute ab. — Electrother<apie> leuchtet mir ein, ich werde gewiss nach Heidelberg gehen. Ich habe mich so satt. Wie schön war es bei Dir, bei Euch. Auf Wiedersehen mit Dir und Deiner lieben Frau!
N.
666. An Reinhart von Seydlitz in München (Postkarte)
<Basel, 27. September 1877>
Den menschlichen Dingen ist nicht zu trauen. In Zürich wurde auch ich förmlich vor Zürich gewarnt, in Ihrem Interesse, liebster Guter. Beugen wir uns vor der Nothwendigkeit; auch ich thue es in diesem Augenblick, denn ich darf keinen Brief schreiben. Nächste Woche will ich nach Heidelberg und Frankfurt, der Ärzte wegen: Elektrotherapie empfohlen. — Der schönen Türkin schönster Dank und Ergebenheit von neuem versichert. In Zürich war ich zweimal in Ihrem Hôtel. Novelle und Rundschau in Ihren Händen? In Betreff ersterer nehme ich Antheil daran, daß mehrere Personen um die Ecke gehen und verschwinden — dies Lebenlassen ist gefährlicher als das Sterbenlassen. Oder? — Dem Treuen das Beste wünschend, Gesundheit und häusliches Glück.
Die Geschwister N.
667. An Reinhart von Seydlitz in München (Postkarte)
<Basel, 28. September 1877>
Haben Sie, lieber Freund, die Karte? Verargen Sie es mir nicht, wenn auch heute kein Brief kommt. Ergebensten Dank an Ihre verehrte Frau Mutter, daß sie mir Gelegenheit giebt, Philologe zu sein (ich vergesse es mitunter.) pollice verso heißt: „den Daumen gegen die Brust gerichtet“: die Gebärde, mit der das Volk die Tödtung des Gl<adiators> verlangte, pollicem premere „den Daumen drücken“ wörtlich: dh. „eine Faust machen und den Daumen hinein verstecken“ ist dasselbe wie unser „Jemandem den Daumen halten“, als Zeichen der Gunst. Mit Aufhebung des Zeigefingers flehte der Gl<adiator> die Gnade des Volkes an; die Gewährung derselben, durch die erwähnte Gebärde, heißt missio. Den Dreien herzl<iche> Grüsse von den Zweien.
Augenblicklich nach Ankunft des Br<iefe>’s, Freitag 4 Uhr
667a. An Elisabeth Nietzsche in Basel (Nachschrift zu einem Brief Otto Eisers)
Frankfurt, 6. Oktober 1877
Erwarte mich Sonntag Abend. Herzlichste Grüße voran.
668. An Heinrich Köselitz in Basel (Postkarte)
Frankfurt a/M6 October 77.
Können Sie am Montag Morgen mich besuchen? Herzlichen Gruß von Ihrem
F. N.
669. An Cosima Wagner in Bayreuth
Basel, 10. October 1877.
Hochverehrte Frau!
Ein werthgeschätzter Freund las mir jüngst eine Abhandlung über den „Ring des Nibelungen“ vor, welche mir so sympathisch und verständnißreich erschien, daß ich es wage, sie Ihnen und dem Meister zu einem Lese-Abend zu empfehlen. Dieser Freund ist ganz unlitterarischer Art und seine Schrift dem allerengsten Publicum angepaßt; ich glaube nicht, daß dieselbe von Jemanden gelesen ist, die Gattin und zwei, drei Personen ausgenommen. Vielleicht setzen Sie zu einigen Hypothesen ein entscheidendes Ja oder Nein an den Rand, namentlich erwünsche ich diess bei der Frage, wie Wotan sein Auge verlor und weshalb er die Wala aus ihrem Schlafe weckt.
Über Alles, was in Bayreuth vorgeht, kam hie und da doch auch zu mir, dem Abgeschlossenen, eine Kunde; und Einiges, wie den ächt Wagnerischen Gedanken der Bayreuther Schule, glaube ich so gut zu verstehen, daß mir jedes geschriebene Wort indiscret vorkommt. Die herrliche Verheißung des Parcival mag uns in allen Dingen trösten, wo wir Trost bedürfen.
Fast alle meine Bekannten, an welche ich augenblicklich denke, haben ihren Wurm, der an ihnen tüchtig herumbeißt: so will ich denn ungescheut von meinem Wurme reden. Nachdem ich ein Jahr lang auf alle Weise gesucht habe, meine Gesundheit wiederzufinden, unterwarf ich mich in den letzten Wochen einer sorgfältigen und andauernden Untersuchung durch drei ausgezeichnete Ärzte. Das Resultat ist so traurig als möglich: die Augen sind fast zweifellos als Quelle meiner Leiden, namentlich der schrecklichen Kopfschmerzen, erkannt, zwei entzündliche Processe in denselben constatiert und die Blindheit als unvermeidlich in Aussicht gestellt, — falls ich mich nicht der harten Forderung aller Ärzte unterwerfe: auf mehrere Jahre hinaus absolut weder zu lesen, noch zu schreiben. In diesem Falle kann vielleicht der schwache Schimmer von Augenlicht noch erhalten werden, den ich jetzt noch habe. So kommt eine trübe Zeit voll peinlicher Entscheidungen für mich heran. Es fehlt mir bis jetzt nicht an Muth; ich denke, darin habe ich Etwas von Wagner abgelernt. Ihm und Ihnen von ganzem Herzen zugethan, in guten wie in bösen Tagen,
F. N.
670. An Carl Burckhardt in Basel
Basel, 17. Okt. 1877.
Hochgeehrter Herr Regierungsrath!
Nachdem ich ein Jahr lang — Dank der Gunst, welche mir durch den verliehenen Urlaub erwiesen wurde — danach gestrebt habe, meine Gesundheit durch alle erdenkliche Schonung und Heilversuche wiederzugewinnen, muß ich am Schluß dieser Frist mir leider eingestehen, daß ich dieses Ziel durchaus nicht erreicht habe; ja eine neuerlich angestellte sorgfältige Untersuchung durch drei Ärzte gab mir die traurige Gewißheit, daß viel schwerere Gefahren vor Allem hinsichtlich meines Augenlichtes im Anzuge seien und daß ich mich noch zu viel eingreifenderen Maßnahmen entschließen müsse. Die Forderung der Ärzte gieng einmüthig darauf hin, daß ich mich auf mehrere Jahre hinaus des Lesens und Schreibens absolut zu enthalten hätte; ich verweise in dieser Beziehung auf ein beigelegtes Memorandum, welches für mich von Dr med. Eiser in Frankfurt a/M, nach gemeinsamer Berathung der drei erwähnten Ärzte, aufgesetzt wurde. Nehme ich noch hinzu, daß mir die Anfälle meines Kopfes ein bis zwei Tage wöchentlich rauben, so sehe ich mich genöthigt, um nur einigermaaßen meinen academischen Pflichten für diesen Winter nachkommen zu können, das Gesuch um fortdauernde Entbindung von meinem Lehramt am Pädagogium an die hohe Erziehungsbehörde zu stellen; vorbehaltlich dessen, daß ich mich höchstwahrscheinlich zu weiteren Entscheidungen über meine gesammte hiesige Lehrthätigkeit gezwungen sehen werde. — Daß ich mit Bedauern von einer Anstalt scheiden werde, an deren Gedeihen ich mit wirklicher Theilnahme fast neun Jahre gehangen habe, werden Sie mir, hochgeehrter Herr Regierungsrath ebensowohl glauben, als daß ich mit Ergebenheit bin
Ihr
Ihnen und der hiesigen Behörde aufrichtig verpflichteter
Dr Friedrich Nietzsche, Professor und Lehrer am Pädagogium
671. An Paul Rée in Stibbe
Basel, 19. Nov. 1877im Jahre des Unheils, wo der Ur-sprung der moralischen Empfin-dungen entdeckt wurde.
Möge ich bald von Ihnen, mein Freund, hören, dass die bösen Krankheitsgeister ganz von Ihnen gewichen sind: dann bliebe mir für Ihr neues Lebensjahr Nichts zu wünschen übrig, als dass Sie bleiben, der Sie sind und dass Sie mir bleiben, der Sie im letzten Jahre waren. Sie haben mich wahrscheinlich verwöhnt; aber ich muss Ihnen doch sagen, dass ich in meinem Leben noch nicht so viel Annehmlichkeiten von der Freundschaft gehabt habe, wie durch Sie in diesem Jahre, gar nicht von dem zu reden, was ich von Ihnen gelernt habe. Wenn ich von Ihren Studien höre, so wässert mir immer der Mund nach Ihrem Umgange; wir sind geschaffen dafür, uns gut zu verständigen, ich glaube, wir finden uns immer auf dem halben Wege schon, wie gute Nachbarn, die immer zur gleichen Zeit den Einfall haben, sich zu besuchen und sich auf der Gränze ihrer Besitzungen einander entgegenkommen. Vielleicht steht es ein Wenig mehr in Ihrer Gewalt, als in meiner, die grosse räumliche Entfernung zwischen Stibbe und Basel zu überwinden: darf ich in dieser Beziehung für das neue Jahr hoffen? Ich selber bin gar elend und gebrechlich daran, als dass ich nicht um die beste Freude, die es giebt, bitten dürfte, selbst wenn die Bitte unbescheiden ist - ein gutes Gespräch unter uns über menschliche Dinge, ein persönliches Gespräch, nicht ein briefliches, zu dem ich immer untauglicher werde.
Im Herbste fehlten Sie uns recht; es gab da eine Zusammenkunft aller Sorrentiner, hinzugerechnet Olga, Monod und die zwei allerliebsten Kinderchen - und Basel gefiel nach Sorrent, selbst mit seiner Herbst-Natur. Sie werden lachen, wenn Sie hören, was die Güte Seydlitzens mir zu meinem Geburtstage präsentirte: ein türkisches Kaffeegeschirr, ganz so drollig und unpractisch wie das, welches wir im Hôtel Vittoria kennen lernten. Die Wanderung dieser Freunde hat ein Ende erreicht, sie haben sich in Salzburg niedergelassen und eingerichtet, auch schon mein Wort bekommen, dass ich sie im nächsten Jahr dort besuche. Vielleicht verbinde ich diess mit einer Reise nach Wien; dort ist jetzt ein wahres Nest von Leuten, welche den zweifelhaften Geschmack haben, meine Schriften zu schätzen (Sie wissen, ich selber bin ein wenig über diesen Standpunct hinaus), aber es scheinen mir tüchtige Menschen darunter zu sein, und einer davon ist ein Genie: derselbe Lipiner, von dem Sie mir zuerst schrieben. Auch ein ungarisches Edelfräulein, in Wien lebend, bedient sich jetzt meines Beirathes in religiösen Seelensorgen. Für solche Fälle muss ich mir ein Verzeichnis von Büchern anlegen, welche den ganzen Cursus der Freigeisterei enthalten: die „Mem<oiren> e<iner> Id<ealistin>“ sollten den Anfang, Sie selber den Schluss dabei machen - haben Sie gehört, was das Jenaer Litteraturblatt von dem jungen „Spinoza“ erzählt hat?
Leben Sie wohl, liebster Freund!
F. N.
Meine Schwester grüsst auf das Herzlichste; Ihrer Frau Mutter bitte ich gut empfohlen zu werden.
672. An Louise Ott in Paris
Basel, 23. November 1877.
Liebe Freundin!
Nehmen Sie herzlichsten Gruß, Dank und Glückwunsch, wenn ich dies alles auch nur in den wenigsten Worten äußern kann. Mein Befinden ist schlecht, Kopf und Augen verweigern den Dienst mehr als je: ich müßte also diktiren. Aber ich will keinen Brief an Sie diktiren.
Für Sie und Ihr Kind hoffend, treu ergeben der Ihrige
F. N.
673. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz
Basel, d. 3. Dec. 1877.
Hochgeehrter Herr Verleger!
Ich danke Ihnen für die Geneigtheit, welche Sie mir zu erkennen gaben, auch mein neues Buch, — ich darf wohl sagen: Hauptbuch — in Verlag zu nehmen. Es versteht sich aber von selbst, dass Sie Sich durch diese vorläufige Zusage in keiner Beziehung gebunden fühlen können, da Ihnen meine Bedingungen bisher unbekannt waren. Ich beeile mich nun, Ihnen dieselben mitzutheilen, und zwar, was Sie entschuldigen mögen, in Form von Paragraphen. Vorher aber setze ich den ganzen Titel meines Buches hin; er soll also lauten:
Menschliches Allzumenschliches.
Ein Buch
für
freie Geister.
Dem Andenken Voltaire’s
geweiht
zur Gedächtnissfeier seines Todestages,
des 30. Mai 1778.
Von
Friedrich Nietzsche.
§ 1.
Es werden 1000 Exemplare gedruckt; das Honorar für den Bogen 10 Thaler.
§ 2.
Es wird das selbe Papier verwendet wie in Prof. Overbeck’s „Studien etc.“
§ 3.
In Betreff der Lettern und ihrer Grösse muss ich nach aller Überlegung doch darauf bestehen, dass dieselben wie in den „unzeitgem<ässen> Betrachtungen“ genommen werden. Sie haben es mit einem Autor zu thun, welcher ziemlich bestimmt das Schicksal vor sich sieht, blind zu werden. Nun will ich wenigstens nicht an meinen Schriften blind werden; oder vielmehr, ich will dieselben so lange lesen können, als ich noch einen Schimmer von Augenlicht habe. Sie dürfen mir es nicht verargen, wenn ich in diesem Puncte etwas heikel bin. Überdiess scheint es mir in Ihrem wie in meinem Interesse, dass diese vielleicht allzu gedankenreiche Schrift so wenig als möglich gedrängt und gestopft erscheint. Also 33 Zeilen wie bisher.
§ 4.
Die Schrift wird erst Anfang Mai veröffentlicht: ich muss dringend bitten, diesen Termin einzuhalten. Später darf sie nicht gut erscheinen in Hinsicht auf die Säcularfeier Voltaire’s (30. Mai). Andererseits wünsche ich, dass die Correcturbogen bis Ende März spätestens von mir erledigt sein können, weil ich den Monat April, meiner Gesundheit wegen, von Basel fortgehe und die Correctur nothwendig in Basel, dem gegenwärtigen Wohnsitze unseres Freundes Köselitz’ gemacht werden muss.
§ 5.
Ich bitte um Verschwiegenheit, aus allerlei persönlichen Gründen, und möchte auch, dass der Drucker um dieselbe ersucht würde. Wenn Sie es, eventuell, vorziehen, könnten Sie demselben meinen Namen bis zum Druck des Titelblattes verschweigen. Doch fürchte ich, es möchte diess seine Neugierde reizen und meine Absicht dadurch erst recht vereitelt werden.
§ 6.
Sie werden wieder gebeten, die Frei-Exemplare an die betreffenden Addressen zu befördern.
Über den Umfang des Buches kann ich durchaus nichts Bestimmtes angeben; nehmen Sie immerhin an, dass es die Zahl von 300 Seiten überschreiten möchte. Falls meine Gesundheit nicht zu arg mich im Stich lässt, so bekommen Sie bis zum 1. Januar das Manuscript, mindestens einen Theil desselben.
Zuletzt, werthester Herr, sage ich Ihnen nochmals auf das Aufrichtigste, dass Sie ja nicht glauben dürfen, gegen mich irgendeine Art Verbindlichkeit bereits zu haben. Ich weiss nicht, in welchen Verhältnissen Sie Sich gegenwärtig befinden, und würde es vollkommen verstehen, wenn Sie mir einfach schrieben: ich kann nicht. In diesem Falle müssten wir uns dessen getrösten, dass ich vielleicht noch manches Buch hervorbringen werde, das eines Verlegers bedarf und dass ich mich bei solchen späteren Anlässen Ihrer, wie sich von selbst versteht, immer gern erinnern werde.
Mit vollkommener Hochachtung
der Ihrige
Dr Friedrich Nietzsche.
674. An Carl von Gersdorff in Berlin (Fragment)
Basel, 21. Dezbr. 1877.
Lieber Freund,
die größte Trivialität in der Welt ist der Tod, die zweitgrößte das Geborenwerden; dann aber kommt zu dritt das Heirathen. Ueberlegt man, wie viele Menschen fortwährend heirathen, so muß man über die kindliche Wichtigthuerei aller dieser Liebenden lachen; sie selber sehen gewöhnlich schon nach wenigen Monaten ein, daß sich selbst für sie nichts Wesentliches geändert hat, geschweige denn für die übrige Welt. Daß Ehen nicht zu Stande kommen, weil die beiden Parteien sich über Geldverhältnisse nicht einigen können, ist auch nichts Ungewöhnliches und giebt keinen Grund ab, viel Aufhebens davon zu machen. Dieß Letztere scheint nun bei Dir der Fall zu sein; es mag Dich eine Zeit lang betrüben, aber wenn Du die Sachlage einmal mit voller Klarheit überschaust, so wirst Du Dir dazu noch Glück wünschen müssen. Freund Rohde sagte schon damals in Bayreuth: „Gersdorff mag ein Kalb schlachten, wenn er N<erina> nicht bekommt!“ Das, was für alle Zuschauer dieses schon allzu sehr in die Länge gesponnenen Schauspiels vollkommen klar geworden ist und was Rohde schon damals sah, ist, daß Eure beiden Naturen schlechterdings nicht zu einander passen.
So, wie Du die Familie F<inocchietti> kanntest und wie Du sie mir bei unserem Zusammensein am Genfersee schildertest, konnte eine Heirath mit N<erina> nur den Sinn einer Rettung für sie haben: darüber kamen wir damals überein; es verstand sich aber von selbst, daß wenn es sich um die Rettung der Person handelte, man darauf verzichten müsse, auch all ihr Hab und Gut mitzuretten, — in diesem Punkte mußte man sich auf Einbußen gefaßt machen.
Wenn nun Deine Eltern aus sehr vernünftigen Gründen von einer Rettung in diesem romantischen Sinne nichts wissen wollten, so hätte die Sache für Dich als für einen braven Sohn, ein Ende haben sollen. — Rettung bedeutet übrigens in jenem Falle noch viel mehr, als ein bloßes endgültiges Lostrennen. N.’s von der Familie: es war das viel Schwierigere nöthig, die edleren und werthvolleren Eigenschaften N.s von dem ihr jedenfalls anhaftenden Familien-Charakter loszutrennen und zu retten. Ist man die Tochter eines Vaters, den Du immer wieder als erbärmlichen Schuft kennzeichnest, hat man eine Mutter, welche die Geliebte ihres Kochs war, umgiebt einen vom ersten Tage an eine schlechte, feige, vorurtheilsvolle Verwandtschaft, da muß einem mancherlei Bedenkliches wohl anhaften, und es bedarf einer starken Hand, eines energischen und klaren Kopfes um das mancherlei Krumme einer solchen Natur zurechtzubiegen. Wenn es nämlich überhaupt möglich ist! Genug, Frl. v. M<eysenbug> glaubte dieß; und sie hatte von Dir eine so hohe Meinung, daß sie Dich für eine so schwere Aufgabe geeignet hielt. Andere dachten anders und zwei
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zu beherrschen und ihr fest als Mann gegenüber zu treten, bist Du ihr völlig verfallen, daß man sagen möchte: es giebt jetzt zwei Ns. eine in Paris und eine in Berlin, und beide geben, ach! ein so erbärmliches Schauspiel. Das Benehmen dieser beiden Ns. gegen Frl. v. M. ist so abscheulich undankbar, daß es das Non plus ultra von Allem ist, was mir in dieser Gattung menschlicher Erbärmlichkeit bekannt wurde. Schon in Sorrent war ich öfters erzürnt über die zudringliche Rücksichtslosigkeit mit der Jedermann sich in ellenlangen Episteln an diese bevorzugte Seele wendete, an sie, die wahrlich eine höhere Mission zu erfüllen hat, als die unklare Sache unklarer Personen immer wieder zurecht zu legen und zum Besten zu kehren. Sie hat Euch Beide mehr geliebt und geschätzt als Ihr Beide verdientet, das ist kein Zweifel; sie hat sich für Euch aufgeopfert, wie bis jetzt Niemand in Eurem curiosen Handel, als die beredteste Fürsprecherin Eurer Beider Naturen. Ihr habt Ansprüche über Ansprüche an den leidenden Kopf, die kranken Augen die kostbare Zeit eines Wesens gemacht, welches so rein und leuchtend, so wirkungsvoll im schönsten Sinne des Wortes jetzt dasteht, daß sie von der plumpen Zudringlichkeit Eurer Florentiner Misere wohl geschützt sein sollte. Wenn N. nach der reinsten Seele unter den deutschen Frauen den Koth ihrer Verdächtigung und ihres Undankes wirft, so verräth sie eben damit, daß sie zu ihrer Florentiner Sippschaft gehört. Ich würde es schmählich und entehrend für einen deutschen Edelmann finden, zum Werkzeug und Polizei-Agenten im Dienste jener Undankbaren zu werden, ich würde es ausreichend finden, um mit ihm allen persönlichen Verkehr abzubrechen, wenn ich nicht wüßte, daß er im Zustande völliger Verblendetheit gehandelt hat. Aber im Namen von Frl. v. M. verbiete ich hiermit diesem Verblendeten, fürderhin noch Briefe an dieselbe zu richten — und selbst in dem Falle, den ich bestimmt voraussetze, daß ein tiefes Gefühl des Unrechtes über ihn kommt und er bitter um Verzeihung flehen möchte, so soll auch dann der Brief erst in Basel seine endgültige Addresse bekommen. Der Zustand der Gesundheit von Frl. v. M. macht diese Maßregel der Vorsicht nothwendig.
Salvavi animam meam, nimm Dir’s zu Herzen. Es ist auch für meinen Gesundheitszustand Etwas, das ich zu büßen habe und gewiß nicht zum zweiten Male thun werde. — Ich denke ich darf mich nach diesem Briefe mehr als je nennen
Deinen wahren Freund
Friedrich Nietzsche.