1877, Briefe 585–674
627. An Paul Rée in Jena
<Rosenlauibad, zweite Junihälfte 1877>
An diesen Ort, den das Bildchen zeigt, habe ich 3 Bücher mitgenommen: etwas Neues von Mark Twain dem Amerikaner (ich liebe dessen Albernheiten mehr als die deutschen Gescheutheiten), dann Plato’s Gesetze — und Sie, lieber Freund. So bin ich wohl der Erste, der Sie in der Nähe der Gletscher liest; und ich kann Ihnen sagen, das ist der rechte Ort, wo man überschaut das menschliche Wesen mit einer Art von Geringschätzung und Verachtung (sich selbst sehr einbegriffen) gemischt mit Mitleiden über die vielfältige Qual des Lebens; und mit dieser doppelten Resonanz gelesen, wirkt Ihr Buch sehr stark.
Es ist so viel überflüssige Noth im Leben, man sollte doch am Schmerz schon genug haben. Da kommt aber alles Leidwesen noch hinzu, welches die Meinungen mit sich bringen. —
Weshalb fühlt man sich so wohl in der freien Natur? Weil diese keine Meinung über uns hat. —
Immer mehr bewundere ich übrigens, wie gut gewappnet Ihre Darstellung nach der logischen Seite ist. Ja so etwas kann ich nicht machen, höchstens ein bischen seufzen oder singen — aber beweisen, dass es einem wohl im Kopfe wird, das können Sie, und daran ist hundertmal mehr gelegen.
Die Vaterschaft, welche mir Ihr allzuliebenswürdiges Widmungswort zuschreibt, habe ich mit ungläubigem Lächeln passiren lassen, ungefähr wie wenn — usw.
Mein Befinden ist auch nach der Kur in Ragaz und trotz der herrlichen Hochgebirgsluft mittelmässig, bedenklich — ich weiss mir nicht recht zu helfen. Viel Erschöpfung, aber in Folge davon innerlicher Gemüths-Wurmfrass. Ich war Ihnen so dankbar für den lustigen Brief — und wünsche täglich ein paar Mal (auch dreimal) Sie herbei, denn ich bin ganz allein und von allen Zweisamkeiten ist mir die Ihrige eine der allerliebsten und ersehntesten.
Leben Sie wohl, mein guter Freund.
Ich freue mich, dass Sie Rohde in der persönlichen Nähe haben, Sie haben an ihm mehr, in jeder Beziehung, als an mir, glauben Sie mir dies auf mein ehrliches Gesicht hin; in einiger Zeit werden Sie es wissen. — Dies unter uns.
Es bleibt bei der Zusammenkunft in Aeschi am Thunersee; Fr. v. M<eysenbug> — Monods, meine Schwester, ich. Von Mitte Juli an. Bis dahin bleibe ich in Rosenlaui bei Meiringen (C<an>t<on> Bern).