1877, Briefe 585–674
674. An Carl von Gersdorff in Berlin (Fragment)
Basel, 21. Dezbr. 1877.
Lieber Freund,
die größte Trivialität in der Welt ist der Tod, die zweitgrößte das Geborenwerden; dann aber kommt zu dritt das Heirathen. Ueberlegt man, wie viele Menschen fortwährend heirathen, so muß man über die kindliche Wichtigthuerei aller dieser Liebenden lachen; sie selber sehen gewöhnlich schon nach wenigen Monaten ein, daß sich selbst für sie nichts Wesentliches geändert hat, geschweige denn für die übrige Welt. Daß Ehen nicht zu Stande kommen, weil die beiden Parteien sich über Geldverhältnisse nicht einigen können, ist auch nichts Ungewöhnliches und giebt keinen Grund ab, viel Aufhebens davon zu machen. Dieß Letztere scheint nun bei Dir der Fall zu sein; es mag Dich eine Zeit lang betrüben, aber wenn Du die Sachlage einmal mit voller Klarheit überschaust, so wirst Du Dir dazu noch Glück wünschen müssen. Freund Rohde sagte schon damals in Bayreuth: „Gersdorff mag ein Kalb schlachten, wenn er N<erina> nicht bekommt!“ Das, was für alle Zuschauer dieses schon allzu sehr in die Länge gesponnenen Schauspiels vollkommen klar geworden ist und was Rohde schon damals sah, ist, daß Eure beiden Naturen schlechterdings nicht zu einander passen.
So, wie Du die Familie F<inocchietti> kanntest und wie Du sie mir bei unserem Zusammensein am Genfersee schildertest, konnte eine Heirath mit N<erina> nur den Sinn einer Rettung für sie haben: darüber kamen wir damals überein; es verstand sich aber von selbst, daß wenn es sich um die Rettung der Person handelte, man darauf verzichten müsse, auch all ihr Hab und Gut mitzuretten, — in diesem Punkte mußte man sich auf Einbußen gefaßt machen.
Wenn nun Deine Eltern aus sehr vernünftigen Gründen von einer Rettung in diesem romantischen Sinne nichts wissen wollten, so hätte die Sache für Dich als für einen braven Sohn, ein Ende haben sollen. — Rettung bedeutet übrigens in jenem Falle noch viel mehr, als ein bloßes endgültiges Lostrennen. N.’s von der Familie: es war das viel Schwierigere nöthig, die edleren und werthvolleren Eigenschaften N.s von dem ihr jedenfalls anhaftenden Familien-Charakter loszutrennen und zu retten. Ist man die Tochter eines Vaters, den Du immer wieder als erbärmlichen Schuft kennzeichnest, hat man eine Mutter, welche die Geliebte ihres Kochs war, umgiebt einen vom ersten Tage an eine schlechte, feige, vorurtheilsvolle Verwandtschaft, da muß einem mancherlei Bedenkliches wohl anhaften, und es bedarf einer starken Hand, eines energischen und klaren Kopfes um das mancherlei Krumme einer solchen Natur zurechtzubiegen. Wenn es nämlich überhaupt möglich ist! Genug, Frl. v. M<eysenbug> glaubte dieß; und sie hatte von Dir eine so hohe Meinung, daß sie Dich für eine so schwere Aufgabe geeignet hielt. Andere dachten anders und zwei
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zu beherrschen und ihr fest als Mann gegenüber zu treten, bist Du ihr völlig verfallen, daß man sagen möchte: es giebt jetzt zwei Ns. eine in Paris und eine in Berlin, und beide geben, ach! ein so erbärmliches Schauspiel. Das Benehmen dieser beiden Ns. gegen Frl. v. M. ist so abscheulich undankbar, daß es das Non plus ultra von Allem ist, was mir in dieser Gattung menschlicher Erbärmlichkeit bekannt wurde. Schon in Sorrent war ich öfters erzürnt über die zudringliche Rücksichtslosigkeit mit der Jedermann sich in ellenlangen Episteln an diese bevorzugte Seele wendete, an sie, die wahrlich eine höhere Mission zu erfüllen hat, als die unklare Sache unklarer Personen immer wieder zurecht zu legen und zum Besten zu kehren. Sie hat Euch Beide mehr geliebt und geschätzt als Ihr Beide verdientet, das ist kein Zweifel; sie hat sich für Euch aufgeopfert, wie bis jetzt Niemand in Eurem curiosen Handel, als die beredteste Fürsprecherin Eurer Beider Naturen. Ihr habt Ansprüche über Ansprüche an den leidenden Kopf, die kranken Augen die kostbare Zeit eines Wesens gemacht, welches so rein und leuchtend, so wirkungsvoll im schönsten Sinne des Wortes jetzt dasteht, daß sie von der plumpen Zudringlichkeit Eurer Florentiner Misere wohl geschützt sein sollte. Wenn N. nach der reinsten Seele unter den deutschen Frauen den Koth ihrer Verdächtigung und ihres Undankes wirft, so verräth sie eben damit, daß sie zu ihrer Florentiner Sippschaft gehört. Ich würde es schmählich und entehrend für einen deutschen Edelmann finden, zum Werkzeug und Polizei-Agenten im Dienste jener Undankbaren zu werden, ich würde es ausreichend finden, um mit ihm allen persönlichen Verkehr abzubrechen, wenn ich nicht wüßte, daß er im Zustande völliger Verblendetheit gehandelt hat. Aber im Namen von Frl. v. M. verbiete ich hiermit diesem Verblendeten, fürderhin noch Briefe an dieselbe zu richten — und selbst in dem Falle, den ich bestimmt voraussetze, daß ein tiefes Gefühl des Unrechtes über ihn kommt und er bitter um Verzeihung flehen möchte, so soll auch dann der Brief erst in Basel seine endgültige Addresse bekommen. Der Zustand der Gesundheit von Frl. v. M. macht diese Maßregel der Vorsicht nothwendig.
Salvavi animam meam, nimm Dir’s zu Herzen. Es ist auch für meinen Gesundheitszustand Etwas, das ich zu büßen habe und gewiß nicht zum zweiten Male thun werde. — Ich denke ich darf mich nach diesem Briefe mehr als je nennen
Deinen wahren Freund
Friedrich Nietzsche.