1877, Briefe 585–674
642. An Paul Deussen in Aachen
<Rosenlauibad, Anfang August 1877>
Lieber Freund, wie spät bekommst Du den Dank für das Geschenk Deines Buches! Aber meine Reisen und indirekt also das, was diese Unbeständigkeit des Aufenthaltes nöthig machte, meine Gesundheit — denn ich bin seit October vorigen Jahres nicht mehr in Basel, sondern überall (namentlich in Süditalien und Hochalpen) gewesen: diese angegebenen Umstände liessen Dein Werk erst spät in meine Hände gelangen. Im Herbst will ich das Experiment machen, meine Baseler Stellung wieder wie früher einzunehmen: viel Vertrauen hab ich nicht. Viel Schmerzen (in Folge einer chronisch gewordenen Kopf-Neuralgie) waren inzwischen mein Loos, ihr Ertragen meine Hauptthätigkeit.
Du hast Deine Jahre sehr gut angewendet: strenger Wille des Lernens, erworbene Deutlichkeit und entschiedene Befähigung zur Mittheilung — welche viell<eicht> im mündl<ichen> Vortrag noch auf einer höhern Stufe stehen mag —: davon redet jede Seite Deines Buches. Allen denen, welchen es nütze ist Schopenhauer kennen zu lernen, namentl<ich> aber denen, welche sich selber über ihre Kenntniss desselben controliren wollen, hast Du einen ausgezeichneten Leitfaden in die Hand gegeben; jeder Leser findet ausserdem von Dir so manches darin für das er dankbar sein muss (namentl<ich> aus dem schwer zugänglichen Gebiete der indischen Studien)
Ich, ganz persönlich, beklage eins sehr: dass ich nicht eine Reihe Jahre früher ein solches Buch, wie das Deine, empfangen habe! Um wie viel dankbarer wäre ich Dir da gewesen! So aber, wie nun die menschl<ichen> Gedanken ihren Gang gehen, dient mir seltsamerweise Dein Buch als eine glückliche Ansammlung alles dessen, was ich nicht mehr für wahr halte. Das ist traurig! Und ich will nicht mehr davon sagen, um Dir nicht mit der Differenz unserer Urtheile Schmerz zu machen. Schon als ich meine kleine Schrift über Sch<openhauer> schrieb, hielt ich von allen dogmatischen Puncten fast nichts mehr fest; glaube aber jetzt noch wie damals, dass es einstweilen höchst wesentlich ist, durch Schopenhauer hindurch zu gehen und ihn als Erzieher zu benutzen. Nur glaube ich nicht mehr, dass er zur Schopenhauerschen Philosophie erziehen soll. —
Lebe wohl, lieber Freund und verzeih meinen Augen, welche mehr zu schreiben verbieten.
Dein F.
Sende ein Exemplar an Dr. Romundt Gymnasiallehrer in Osnabrück.
An Prof. Dr. Heinze in Leipzig.
Ich bin bis Ende August in Rosenlauibad bei Meiringen Berner Oberland, von da an: in Basel.