1877, Briefe 585–674
585. An Sophie Ritschl in Leipzig
<Sorrent, Januar 1877>
Verehrteste Frau,
Nur andauernde Krankheit und das wirkliche Unvermögen Briefe zu schreiben konnte der Grund sein, welcher mich abhielt, so lange Zeit abhielt, Ihnen mein tiefstes Mitgefühl zu erkennen zu geben; denn ich habe auf ein Jahr Basel verlassen und hier in Sorrent Genesung suchen müssen und fange eben erst an, die Gesundheit aus der Ferne zu sehen.
Wie oft ist die Gestalt des grossen geliebten Lehrers an mir seit jener Trauerbotschaft vorübergeschwebt, wie oft durchlief ich im Geiste jene nun schon so fernen Zeiten eines fast täglichen Zusammenseins mit ihm und erwog die zahllosen Beweise seiner wohlwollenden und wahrhaft hülfreichen Gesinnung. Ich bin glücklich, noch aus dem letzten Jahre ein kostbares Zeugniss seiner unveränderten Milde und Herzlichkeit für mich in einem Briefe zu besitzen und mir vorstellen zu dürfen, dass er, auch wo er mir nicht Recht geben konnte, mich doch vertrauensvoll gewähren liess. Ich glaubte, dass er den Tag noch erleben würde, da ich ihm öffentlich den Dank und die Ehre geben könnte, so wie es längst mein Herz wünschte, und in einer Art, dass auch er vielleicht sich daran hätte freuen können. Heute trauere ich nun an seinem Grabe und muss, meiner üblen Gesundheit nachgebend, auch mein Todtenopfer noch auf eine unbestimmte Zukunft verschieben.
Was mit ihm, abgesehen von allem persönlichen Verluste, überhaupt verloren gegangen ist, ob nicht in ihm der letzte grosse Philologe zu Grabe getragen wurde — das weiss ich nicht mit Sicherheit zu beantworten. Aber ob die Antwort so oder ganz anders ausfalle — dass in seinen Schülern eine nie erhörte Fruchtbarkeit seiner Wissenschaft verbürgt sei — jede Antwort fällt zu seiner Ehre aus: es ist ein gleich grosser Ruhm, der letzte der Grossen oder der Vater einer ganzen grossen Periode zu heissen.
Empfangen Sie die wärmsten Wünsche eines Ihnen immerdar aufrichtig ergebenen und mit Ihnen trauernden Freundes.
Ihr
Friedrich Nietzsche.