1877, Briefe 585–674
669. An Cosima Wagner in Bayreuth
Basel, 10. October 1877.
Hochverehrte Frau!
Ein werthgeschätzter Freund las mir jüngst eine Abhandlung über den „Ring des Nibelungen“ vor, welche mir so sympathisch und verständnißreich erschien, daß ich es wage, sie Ihnen und dem Meister zu einem Lese-Abend zu empfehlen. Dieser Freund ist ganz unlitterarischer Art und seine Schrift dem allerengsten Publicum angepaßt; ich glaube nicht, daß dieselbe von Jemanden gelesen ist, die Gattin und zwei, drei Personen ausgenommen. Vielleicht setzen Sie zu einigen Hypothesen ein entscheidendes Ja oder Nein an den Rand, namentlich erwünsche ich diess bei der Frage, wie Wotan sein Auge verlor und weshalb er die Wala aus ihrem Schlafe weckt.
Über Alles, was in Bayreuth vorgeht, kam hie und da doch auch zu mir, dem Abgeschlossenen, eine Kunde; und Einiges, wie den ächt Wagnerischen Gedanken der Bayreuther Schule, glaube ich so gut zu verstehen, daß mir jedes geschriebene Wort indiscret vorkommt. Die herrliche Verheißung des Parcival mag uns in allen Dingen trösten, wo wir Trost bedürfen.
Fast alle meine Bekannten, an welche ich augenblicklich denke, haben ihren Wurm, der an ihnen tüchtig herumbeißt: so will ich denn ungescheut von meinem Wurme reden. Nachdem ich ein Jahr lang auf alle Weise gesucht habe, meine Gesundheit wiederzufinden, unterwarf ich mich in den letzten Wochen einer sorgfältigen und andauernden Untersuchung durch drei ausgezeichnete Ärzte. Das Resultat ist so traurig als möglich: die Augen sind fast zweifellos als Quelle meiner Leiden, namentlich der schrecklichen Kopfschmerzen, erkannt, zwei entzündliche Processe in denselben constatiert und die Blindheit als unvermeidlich in Aussicht gestellt, — falls ich mich nicht der harten Forderung aller Ärzte unterwerfe: auf mehrere Jahre hinaus absolut weder zu lesen, noch zu schreiben. In diesem Falle kann vielleicht der schwache Schimmer von Augenlicht noch erhalten werden, den ich jetzt noch habe. So kommt eine trübe Zeit voll peinlicher Entscheidungen für mich heran. Es fehlt mir bis jetzt nicht an Muth; ich denke, darin habe ich Etwas von Wagner abgelernt. Ihm und Ihnen von ganzem Herzen zugethan, in guten wie in bösen Tagen,
F. N.