1877, Briefe 585–674
660. An Louise Ott in Paris
Rosenlauibad, 29. August <1877>(ach, übermorgen muss ich fort! nach dem alten Basel wieder!)
Liebe liebe Freundin
ich will meine Bergeinsamkeit nicht verlassen, ohne Ihnen wieder einmal brieflich zu sagen, wie gut ich Ihnen bin. Wie unnütz, dies zu sagen, zu schreiben, nicht wahr? Aber meine freundschaftliche Empfindung für Jemanden hängt sich ein wie ein Dorn und ist mitunter lästig wie ein Dorn, man wird sie nicht leicht los. So nehmen Sie denn den kleinen unnützen lästigen Brief nur immer hin!
Man hat mir erzählt, daß Sie — nun, daß Sie erwarten, hoffen, wünschen; mit inniger Theilnahme hörte ich es und wünsche mit Ihnen. Ein neuer guter und schöner Mensch mehr auf der Welt, das ist etwas, das ist viel! Da Sie es durchaus ablehnen, sich in Romanen zu verewigen, so thun Sie es auf jene Weise; wir Alle müssen Ihnen sehr dankbar dafür sein (zumal es, wie man mir sagt, sehr viel mehr Noth macht als selbst das Romaneschreiben) —
Neulich sah ich auf einmal plötzlich im Dunkeln Ihre Augen. — Warum sieht mich kein Mensch mit solchen Augen an, rief ich ganz erbittert aus. O es ist abscheulich! —
Warum habe ich Sie niemals singen gehört? — Wissen Sie, noch niemals hat eine weibliche Stimme auf mich tief gewirkt, obschon ich Berühmtheiten aller Art gehört habe. Aber ich glaube daran, dass es eine Stimme für mich auf der Welt giebt, ich suche nach ihr. Wo ist sie nur? —
Leben Sie wohl, alle guten Geister mögen um Sie sein.
Treulich
Ihr
Friedrich Nietzsche