1877, Briefe 585–674
662. An Malwida von Meysenbug in Faulensee
<Basel, 3. September 1877>Gellertstrasse 22.Montag.
Verehrte liebe Freundin
wie freuen wir uns Sie hier zu sehen, wie bedauern wir, dass M<onod>s nur unserem Basel eine Durchfahrt gönnen! Unter allen Umständen möchten wir am Bahnhofe sein — also wann? Um 5 Uhr vermuthlich? —
— Nun ich bin hier, die ganze letzte Zeit in Rosenlaui war für mich schlecht; mit heftigem Kopfweh verliess ich es früh um 4 Uhr, allein, im Finstern. —
Wohnung, Umgebung und meine gute Schwester — alles finde ich um mich herum reizend, anreizend, festbannend. — Aber in mir kriecht mancher Wurm der Sorge.
Ich schlief 2 Nächte so gut, so gut!
Auch waren schöne Briefe da, von Overbeck, Frau Ott und Dr. Eiser, der es als Arzt verlangt, dass ich bald nach Frankfurt zu einer neuen Berathung komme. — Was sagen Sie von Sorrent! Noch jüngst in Rosenlaui brachte ich eine schlaflose Nacht damit zu, in lieblichen Naturbildern zu schwelgen und mich zu besinnen, ob ich nicht auf irgend eine Weise oben auf Anacapri wohnen könnte. Ich seufzte aber immer bei der Einsicht, dass Italien mich entmuthigt, mich kraftlos macht (wie haben Sie mich in diesem Mai kennen gelernt! Ich schäme mich; so war ich nie!)
In der Schweiz bin ich mehr ich, und da ich die Ethik auf möglichste Ausprägung des „Ich“ und nicht auf Verdunstung baue, so — — — — — — — —
In den Alpen bin ich unbesiegbar, namentlich wenn ich allein bin und ich keinen andern Feind als mich selber habe.
Ich habe meine Studien über griech<ische> Literatur vorgenommen — wer weiss ob was daraus wird? —
Leben Sie wohl. Haben Sie das Feenweibchen gefunden, welches mich von der Säule, an welche ich angeschmiedet bin, losmacht?
Herzlichstes und Gutes
voraus sendend, Ihnen entgegen
F.