1881, Briefe 74–184
74. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Genua, 8. Januar 1881>
Lieber lieber Freund, ich habe nichts zu schreiben, aber ich dachte eben an Sie recht lange, ich lag wieder still am Meere, wie eine Eidechse in der Sonne, an den fernen Bergesspitzen glänzte zum ersten Male der Schnee (näher ist er noch nicht gekommen). Ihr Brief, gut wie alles, was ich von Ihnen erfahren, zeigt mir wieder, daß ich Ihnen Noth mache, mehr als ich möchte. Ertragen wir es in Stille mit einander! Im späteren Leben, wenn wir immer mehr zusammengewachsen sind wie treue alte Bäume, lachen wir wohl noch einmal über die Jugend unsres Verkehrens! Bewahren Sie Sich mir auch im neuen Jahrzehnt — ich fürchte, am Ende desselben noch einsamer zu sein als ich jetzt bin (ich fürchte es und bin beinahe vorläufig schon stolz darauf!) Aber Sie müssen mir bleiben, und ich will Ihnen bleiben!
Treugesinnt Ihr Freund F.N.
75. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Genua, 8. Januar 1881>
Meine Lieben, Eure Briefe machten den Schluß des Jahres schön, es gab auch sonst blaues warmes Wetter zum Abschied. Inzwischen ist das neue Jahr etwas strenger aufgetreten, doch kann ich nicht sagen, daß ich bisher den Ofen wirklich vermißt hätte, bei meiner Art zu leben und zu wandern. An den ferneren Bergen der Küste ist der Schnee auf den Spitzen. Wir hatten drei bis vier Tage Regenwetter (Novemberwetter) Wenn die Sonne scheint, gehe ich immer auf einen einsamen Felsen am Meer und liege dort im Freien unter meinem Sonnenschirm still, wie eine Eidechse; das hat mehrere Male meinem Kopfe wieder aufgeholfen. Meer und reiner Himmel! Was habe ich mich früher gequält! Täglich wasche ich den ganzen Körper und namentlich den ganzen Kopf, nebst starkem Frottiren. — Meinen schönsten Dank und herzlichstes Bedauern über Geschenk und Mißgeschick desselben! Möge Freude und Zufriedenheit um Euch sein!
In herzlicher Liebe
Euer F.
76. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Genua, 8. Januar 1881.>
Magst Du, theurer Freund, zusammen mit Deiner lieben verehrten Frau, in Deiner zuversichtlichen guten Art auch in’s neue Jahrzehnt übergetreten sein! Ich denke so oft an Dich und namentlich, wenn ich nach Mittag, fast Tag für Tag, auf meinem abgeschiedenen Felsen am Meere sitze oder liege, wie die Eidechse in der Sonne ruhe und mit den Gedanken auf Abenteuer des Geistes ausgehe. Meine Diät und Vertheilung des Tages sollte mir doch auf die Dauer gut thun! Meerluft und viel reiner Himmel — das sehe ich nun ein ist mir unentbehrlich! Die Wärme ist im neuen Jahre geringer als im alten, ich habe keinen Ofen — aber wer hat hier einen Ofen! — Ich habe noch nicht erfahren, ob das Büchlein und mein zugleich abgesandter Brief glücklich in Deine Hände gelangt ist? Treulich der Deine und der Eure.
F.N.
77. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Genua, 25. Januar 1881>
Lieber Freund, so lasse ich denn mein Genueser Schiff an Sie ablaufen! Der Winter ist hart geworden, seitdem hat sich meine Gesundheit zum Schlimmen gewendet — ich bin glücklich, nichts mehr mit dem Manuscript zu thun zu haben. — Nun heißt es wieder: „Freund, in Ihre Hände befehle ich meinen Geist!“ und noch mehr: „in Ihren Geist befehle ich meine Hände!“ Ich schreibe zu schlecht und sehe alles krumm. Wenn Sie nicht errathen, was ich denke, so ist das Manuscript unentzifferbar. (Mit großem Ergötzen sehe ich aber aus Ihren beiden letzten Briefen, in welcher Nachbarschaft unsere Gedanken laufen — leider kann ich nicht antworten wie ich möchte, verzeihen Sie es mir!) — Nun will ich sehen, ob sich das „Leben“ wieder erhalten läßt; ich habe doch meine Aufgabe gelöst und denke mit gutem Gewissen an das Kommende — wie es nun auch kommt! Daß so viel Schmerz mir bescheert wird! Alberne Oekonomie meines Leibes! Mag es Ihnen nur im Leibe und im Herzen gut gehen, mein guter lieber Köselitz!
Treulich F.N.
Bitte um Antwort: poste restante!
78. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Genua, 29. Januar 1881>
Meine liebe gute Mutter,
so möge Dir das neue Jahr ein heiteres Gesicht machen! Und wenn es dabei ein Gesicht zeigt, das von dem des alten Jahres nicht gar zu verschieden ist, so wollen wir Alle damit zufrieden sein! Denn im Grunde hast Du, meine liebe Mutter, Dein erträgliches und rechtschaffenes Maaß von irdischem Wohlbefinden, davon überzeuge ich mich bei jedem Besuche mit großem Vergnügen. Daß das „Glück“ eines Tages mit Trommeln und Trompeten erst noch käme, daran glauben wir ja Alle nicht mehr; Jeder hat seine Aufgabe und muß täglich zusehen und sich tummeln, daß sie geräth — und geräth sie, so ist man guter Dinge; schlimmsten Falls macht man eine gute Miene, wie ich jetzt zum bösen Spiele des Winters.
Ja, das ist ein Spazierenlaufen! Denn im Zimmer ist es nicht lange Zeit auszuhalten, und ich habe bis jetzt noch keinen geheizten Raum betreten. Trotzdem bin ich nicht verstimmt, obschon meine Gesundheit entschieden seit dem Eintritt des harten Winters zum Schlechten sich wendet. Hoffentlich dauert es nicht mehr zu lange. Es bedarf einer so sorgfältigen und peinlichen Überlegung, jeden Tag mit einer solchen Gesundheit durch alle Klippen hindurchzuschiffen, daß ich froh bin, es allein abzumachen, denn es sieht so kleinlich aus, selbst unmännlich. Aber ich habe meine Tapferkeit und Männlichkeit in anderen Dingen und muß mich eben durchschlagen, um etwas Ordentliches in meiner Art doch noch, trotz aller bösen Krankheit, zu Stande zu bringen. Ich esse diesen Winter, der Erwärmung und leichteren Verdauung wegen, mehr Fleisch. Dagegen wagte ich noch nicht wieder mit den Eiern zu beginnen: ich habe immer noch den Naumburger gestoßenen Zucker. Zum Frühstück esse ich altbacknes Weißbrod, zu Thee oder Kaffe. Ich bin regelmäßig wie eine Uhr. Sechs bis acht Stunden gehe ich herum. Eigentlich habe ich das Leben, wie ich es früher ersehnte, als ich von Rothenburg an der Tauber träumte — erinnere doch unsre Lisbeth daran! — ja ich habe es gründlicher und tüchtiger als ich es damals mir ausdachte (ich war noch nicht unabhängig genug im Geiste und noch nicht so durch Erfahrung und Leiden durchgearbeitet, wie ich jetzt es bin — denn, meine liebe Mutter, ob man mir es ansieht oder nicht, ich habe in den letzten 10 Jahren unbändig viel erlebt.)
Und nun nochmals! Frieden und Freuden um Dich! In Treue und Liebe
Dein Sohn F.
79. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Genua, 3. Februar 1881>
Oh mein lieber Freund, wie schön verstehen Sie es, mein Gewissen zu erleichtern — denn es wurde mir recht schwer, an Sie, auf dem so große Aufgaben ruhen, mein Ansinnen zu stellen. — Wir haben einen Winter von 30 Tagen gehabt, vorausgesetzt daß er vorbei ist. Ich liege seit dem 31. Januar wieder täglich in der Sonne und gestern war es mir zu heiß. Venedig hat den Fehler, keine Stadt für einen Spaziergänger zu sein — ich brauche meine 6—8 Stunden Wegs in freier Natur. Haben Sie nicht vielleicht an Bologna für den Sommer gedacht? Oder Albano und Ariccia bei Rom? Es verlangt mich so nach Ihnen. Hören Sie etwas vom Befinden der Frau v. Wöhrmann? — Ihre Duell-Geschichte zeigt, daß Sie mir sehr überlegen sind — ich bewundere und lache dabei. In herzlicher Freundschaft Ihr F.N.
80. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Genua, 9. Februar 1881>
Ach, welche Überraschung war das! Die Schönheit und männliche Anmuth dieses Ihres Manuskriptes zu sehen — das ist wie nach einem römisch-türkischen Bade sich fühlen, reingewaschen nicht nur, sondern verjüngt und verbessert. Ich las und gieng einige Stunden spazieren, voller inniger Gedanken gegen Sie und die Natur. Es scheint mir ein gehaltvolles Buch: aber es ist schwer. In den Morgenstunden dieses herrlichen Februar habe ich noch einen Nachtrag gemacht, damit alles recht unzweideutig herauskomme. — Sie werden, meine ich, damit zufrieden sein. Darf ich diesen Nachtrag senden? — Auch will ich den Titel ändern; Sie haben mich dadurch, daß Sie den zufällig hingeschriebenen Vers aus dem Hymnus an Varuna als Motto nahmen, auf den Gedanken gebracht: sollte das Buch nicht heißen: „Eine Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile u.s.w.“. Es sind so viel bunte und namentlich rothe Farben darin! Erwägen Sie es! (Das Titelblatt, mit einfachen, stark wirkenden Ornamenten, sei auch Ihrem Geschmack und Nachdenken empfohlen!)
Der dankbarste Glückliche.
81. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Genua, 12. Februar 1881>
Lieber armer Freund, vergeben Sie mir! Das Manuscript des Nachtrags ist stärker geworden als es billig ist in Hinsicht auf Sie! Ich bitte Sie inständig, helfen Sie mir diesmal noch und tragen Sie es mir nicht nach, daß ich etwas thue, was wie eine Unverschämtheit aussieht! Machen Sie meine Sache einmal zur Ihrigen — es mußte Mehreres in das Buch hinein, der Horizont desselben wollte rund werden, und ich war in der rechten Verfassung, bei diesem herrlichen Vor-Frühling! So ist es geschehn, was im Hinblick auf Ihre Freundschaft vielleicht hätte unterlassen werden sollen! Aber, wie gesagt, nehmen Sie es einmal als Ihre Sache; wer weiß, ob Sie nicht irgendwann einmal als mitschuldig an dem Zustandekommen dieses Buchs zu leiden haben — sehen wir zu, daß wir Beide uns jetzt an ihm zusammen noch freuen können. Aber dazu ist ein Wort des Verzeihens nöthig! Nur Ein Wort auf einer Karte, und, ich bitte dringend, nicht mehr als höchstens drei Worte!!!!! Nur ein Wort! Aber gleich, theurer armer Freund!
82. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Genua, 13. Februar 1881>
Von Euch Beiden, meine Lieben, habe ich so schöne ausführliche Nachrichten — und ich selber lasse so lange auf Nachricht warten! Vor Allem: wir haben den Winter hinter uns! Er hat gerade 30 Tage gedauert. Vom 31 Januar an ist es sehr angenehm, ich liege fast täglich ein paar Stunden am Meere. Von Hrn. Köselitz ließ ich mir Nachricht über Frau v. W<öhrmann> geben: sie will nicht nach Corfu. Die Einen sagen, sie leide an der Lunge, Andre nennen ein andres Leiden. Ein mir bekannter Maler malt ihr Töchterchen. — Wie lange bleibt sie in Venedig? Schreibt es mir doch. Jetzt ist Fürst Liechtenstein dort, er hat auch Hrn. Köselitz seinen Besuch gemacht, Gersdorff ist auch noch dort. — Liebe Lisbeth, zum Lesen in Gesellschaft empfehle ich Voltaire’s Mahomet, von Goethe übersetzt (in allen Goethe-Ausgaben) Daß Frau von Sévigné eingeschlagen hat, hörte ich mit großem Vergnügen, ja, ich wartete darauf, es zu hören. Nehmt, meine Inniggeliebten, die herzlichen und dankbaren Grüße
Genaue Adresse, nicht wie das letzte Mal!
Eures F.
83. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Genua, 22. Februar 1881>
Ist es wahr, lieber Freund, daß Sie einen guten Glauben an das Ganze haben? Oder haben Sie mich nur etwas ermuthigen wollen? Ich bin so durch fortwährende Schmerzen zerbrochen, daß ich nichts mehr beurtheilen kann, ich sinne darüber nach, ob es mir nun nicht endlich erlaubt sei, die ganze Bürde abzuwerfen; mein Vater als er so alt war wie ich es bin, starb. — Auf Ihre vorletzte Karte hätte ich gleich antworten sollen und mögen — aber ich konnte nicht! sie war von einem feinen und freundlichen Geiste eingegeben, Madame de Sévigné würde Ihnen ein Compliment dafür gemacht haben. — Titel! Der zweite „E<ine> Morgenr<öthe>“ ist um einen Grad zu schwärmerisch, orientalisch und weniger guten Geschmacks: aber das wird durch den Vortheil aufgewogen, daß man eine freudigere Stimmung im Buche voraussetzt als beim andern Titel, man liest in anderem Zustande; es kommt dem Buche zu statten, welches, ohne das Bischen Aussicht auf den Morgen, doch gar zu düster wäre! — Anmaaßend klingt der andre Titel auch, ach, was liegt noch daran! Ein wenig Anmaaßung mehr oder weniger bei solch einem Buche! — Die Orthographie und die grammatische Correktheit, lieber Freund, sind wieder Ihre Sache, ich habe keine andre Orthographie als die Köselitzische. Mitunter mache ich Sprachfehler z. B. in der bildung der Conjunctive: verbessern Sie mich in allen Stücken, ohne irgend ein weiteres Wort!
Hinter diesem ganzen Buche klingt mir meine Musik zu Manfred — denken Sie sich! — Was macht Freund Widemann? Von Dr. Rée höre ich das Betrübteste, sein Vater ist in der Nachwirkung einer Operation gestorben, seine Mutter schwer krank. Sind Sie wirklich diesen Sommer noch in Venedig? Frau v. Wöhrmann bleibt, wie ich höre. — Und Herr Racowitz? — Meinem alten Kameraden Gersdorff danken Sie des Herzlichsten für seinen Gruß, es steht zwischen uns beim Alten. (Wenn er sich nur frei machen wollte! Aber er ist so eigensinnig und zwar in Hinsicht auf Andre z.B. seine Verwandten! Denken Sie, was ich zuverlässig erfahre und was man nicht wissen darf, daß G<ersdorff>’s Vater sich erschossen hat.)
Nun, mein lieber einziger Leser und Schreiber, wir müssen das einmal Unternommene gut zu Ende führen, auch Herr Schmeitzner und Oschatz müssen angetrieben werden. Inzwischen giebt es Niemanden, an den ich mit so herzlicher und dankbarer Gesinnung dächte als an Sie!
In Treue der Ihrige
F.N.
Kennen Sie Jemanden in Bologna? Aber vielleicht komme ich noch nach Venedig, etwa Mitte April, ich muß mich von mir selber abziehn, meine Gedanken fressen mich auf. Ich will rudern — wer hat ein Boot? Aber allein. — Und meine Wohnung? —
84. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Genua, 22. Februar 1881>
Ja, theurer Freund, ich bin noch in Genua und habe den härtesten Theil des Winters hoffentlich hinter mir. Zum ersten Male im Winter ohne Ofen, mit erstarrten Gliedmaaßen oft genug. Ich bin wieder leidender als vor Weihnachten, und werde die Kopfschmerzen kaum mehr los, mitunter werde ich aller Dinge sehr müde. Bitte, sende den nächsten Gehalt wieder an Herrn Schmeitzner, ebenfalls die 50 frcs, von denen Du schriebst. Beunruhige Dich nicht, gegen den vorigen Winter gerechnet, bin ich doch gut gefahren, und viell. thut mir der Frühling wieder gut. — Die Augen stehn mir so selten noch zu Gebote! Verzeih meinen Anschein von Undankbarkeit, lieber guter Freund. Von Herzen Dich und Deine liebe Frau grüßend
F.N.
84a. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Disposition)
Genua, um den 22. Februar 1881
Lisbeth
Hut
Notizbuch Bleistift
Stiefel
84b. An Paul Rée in Naumburg (Disposition)
Genua, um den 22. Februar 1881
Rée
Faust 4 xx
Süden?
Besuch v Jahr
85. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz
<Genua, 23. Februar 1881>
Werthester Herr Verleger
für alle Ihre Dispositionen meinen ergebensten Dank, ich glaube an Ihr aufrichtiges Wohlwollen für mich und deshalb glaube ich auch an Alles, was Sie in Dingen für mich thun, worin ich, wie Sie wissen, unerfahren bin. Was Geld betrifft, so verstehe ich nur Eins: wenig zu brauchen und zu sparen. Wer lebt denn wohl so philosophisch und gut (und doch keineswegs asketisch) als ich hier in Genua? Und doch brauche ich für jeden Monat nicht mehr als 60 Mark, Alles, auch das Zufälligste eingerechnet.
Dafür habe ich, schon meiner fast erloschenen Augen wegen, keine Aussicht auf irgend ein ernährendes Amt in meinem späteren Leben. Also wollen wir fortfahren zu sparen und zu sammeln! Dies ist heute aber nur die Nebensache. —
Ich frage nämlich an, ob Sie den Verlag eines neuen Buches übernehmen wollen, welches in der Abschrift des Herrn Köselitz vor mir liegt. Meine Bedingungen in Betreff der Ausstattung und des Honorars sind die alten. Dafür verlange ich aber, daß diesmal Herr Oschatz an Güte und Pünktlichkeit sich selber übertreffe — es muß ein Musterbuch werden.
Der Titel ist:
Eine Morgenröthe.
Gedanken über die moralischen Vorurtheile.
Von
Friedrich Nietzsche.
„Es giebt so viele Morgenröthen, die noch nicht geleuchtet haben.“ Rigveda.
Dies Buch ist das, was man „einen entscheidenden Schritt“ nennt — ein Schicksal mehr als ein Buch.
Geben Sie mir eine Antwort auf meine Anfrage, hierher, nach Genova (Italia) poste restante.
Sie wissen, daß ich immer mit den aufrichtigsten Wünschen für Sie bin und bleibe
Ihr Dr F. Nietzsche
86. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Genua, 24. Februar 1881>
Heute, in Folge eines starken Abführmittels, ein guter Tag, und helle Sonne! Ich habe sofort die Anordnung des Ganzen (im Groben) vorgenommen — es legte sich leicht und natürlich in 4 Massen auseinander, jede mit ihrer Grundfarbe, und von ähnlichem Umfange. Das Gelingen hat mich erheitert. Als ich das Ganze so wieder zusammen gesehen hatte, mußte ich lachen — es wird kein dickes Buch, aber es giebt nicht viele Bücher mit so viel Inhalt (rede ich jetzt als Vater des Buchs? ich glaube nicht) Meine drei Genueser Schutzpatrone Columbus, Mazzini und Paganini haben, wie mir scheint, etwas die Hand im Spiele gehabt. — Im Herbst verzweifelte ich, daß ich je die Stimmung und Kraft und Lust für das Ganze wieder finden würde — es war mir in Marienbad durch den Kopf geflogen. Und heute! — Dank Ihrer großen großen Güte!
F.N.
87. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Genua, 26. Februar 1881>
Lieber Freund, mit der Einen Hand warf ich einen Brief an Dr. Rée in den Kasten, mit der andern empfieng ich den Ihrigen und finde darin die mich entzückende Idee, dem Armen im Norden eine solche unsäglich feine, angemessene, gedankenvolle, hintergedankenvolle Dedikation zu machen. Ja, ihm etwas Sonne schaffen! Und Sie, wahrer Freund meiner Freunde, wie reich Sie immer zur rechten Zeit sind! So gegen Gersdorff! Ich schwärme und bin ganz glücklich! Wie viel des Guten kommt durch Sie zu mir!
F.N.
88. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Genua, 13. März 1881>
Das ist nicht recht, lieber Freund! Sie machen mich zum Vertrauten Ihrer Noth — und einer solchen Noth! — nachdem sie vorüber ist! Und es geht mir diesmal wie in Marienbad — es ist mir als ob Sie vor mir zurückflöhen und mich irgend wofür bestrafen wollten. Ich schäme mich immer, an diese Geschichten zu denken. Ach, ein Kärtchen und ein Wörtchen darauf und hundert frs. oder mehr fliegen zu Ihnen. — Nun, nichts für ungut! Aber Sie sind mir zu fein.
Ihre Nachrichten über Ihr Werk sind sehr gut. Fürst L<iechtenstein> ist mir immer, von sehr glaubwürdiger und urteilsfähiger Seite aus (Frau C<osima> Wagner) als ein ausgezeichneter Mensch gerühmt worden, ich freue mich, daß er auch gegen Sie Witterung verräth. Denn, lieber Freund, Sie sind zu entdecken.
Heute soll das M<anu>s<cript> an Herrn Schmeitzner abgehen. Was habe ich inzwischen alles um dieses Buches willen in mir durchgemacht! Nach einer kurzen kurzen Freude! Genug, ich fühle mich jetzt wieder auf offnem Meere, und die alte mir so wohlbekannte bittre Entschlossenheit hat mich wieder. —
Fragen Sie meinen alten Kameraden Gersdorff, ob er Lust habe, mit mir auf ein bis zwei Jahre nach Tunis zu gehen. Klima ausgezeichnet, nicht zu heiß — Überfahrt von Livorno über Cagliari sehr kurz, das Leben dort billig. Ich will unter Muselmännern eine gute Zeit leben, und zwar dort, wo ihr Glaube jetzt am strengsten ist: so wird sich wohl mein Urtheil und mein Auge für alles Europäische schärfen. Ich denke, eine solche Berechnung liegt nicht außerhalb meiner Lebensaufgabe. — Ein deutsch-schweizerisches Handelshaus in Tunis wird uns Logis besorgen. Aber erst muß das Buch fertig gemacht werden: ich will, daß bis Ende April ein Exemplar in Ihren Händen ist.
Von meinem Reiseplan bitte ich Sie und Herrn G<ersdorff> gegen andre Personen vorläufig zu schweigen. — Ein Maler des Genre’s findet in Tunis sein gelobtes Land: nur darauf hin mache ich dem Freunde diesen Vorschlag.
Lieber lieber Freund, warum kann ich Ihre Musik nicht hören! Ich bedarf aller Arten Gesundheit — es ist mir etwas zu tief in’s Herz gegangen, dieser „herzbrecherische Nihilismus“!
Nun, bleiben wir tapfer!
Treugesinnt F. N.
89. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz
Genova den 13ten März 1881.
Werthester Herr,
hier ist das Manuscript — es kostet mich einen bitteren Entschluß, es aus den Händen zu geben. —
Es werden gegen 16—18 Druckbogen sein.
Nach dem Titelblatt folgt ein Blatt mit der Aufschrift: Erstes Buch. — Es sind 5 Bücher. —
Als Norm für die Raum-Eintheilung betrachte ich „Menschliches Allzumenschliches“. Ja nicht eng zusammen drucken! Der Fehler des Buches ist so schon, daß die wesentlichsten Gedanken zu dicht sich folgen.
Nun aber Eile! Eile! Eile! Ich will von Genua fort, sobald ich das Buch fertig habe und sitze bis dahin auf Kohlen. Helfen Sie! treiben Sie Herrn Oschatz! Kann er mir nicht ein schriftliches Versprechen machen, daß bis spätestens Ende April das Buch hier in meinen Händen ist — fertig und vollkommen? —
Zu gleicher Zeit geht ein Bogen an Herrn Köselitz nach Venedig und ein Bogen an mich nach Genova (poste restante) ab.
Die Blätter und Blättchen des Ms. sind roth numerirt. Vier- oder fünfmal ist auch die Rückseite beschrieben.
Lieber Herr Schmeitzner, wir wollen Alle diesmal unsre Sache so gut als möglich machen. Der Inhalt meines Buches ist so wichtig! Es ist unsre Ehrensache, in nichts es fehlen zu lassen, daß es würdig und makellos zur Welt kommt. —
Ich beschwöre Sie, um meines Namens willen, jegliche Reklame zu unterlassen. Und manches Andere versteht sich von selber, sobald Sie selber erst das Buch gelesen haben.
Mit dem wärmsten Wünschen (aber einigem Herzklopfen)
Ihr ergebenster
Dr. F. N.
90. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Genua, 14. März 1881>
Hier, lieber Freund, kommt doch noch das M<anu>s<cript>. Ein Anfall meines Kopfleidens wird mich einige Tage „dienstunfähig“ machen — und so hilft vielleicht Gersdorff, die Zettel zusammenzukleben. Bitten Sie ihn darum in meinem Namen! (Machen Sie ihn darauf aufmerksam, daß 5 oder 6 auch auf der Rückseite beschrieben sind) Es sind 5 Bücher. Nach dem Titelblatt folgt ein Blatt mit der Aufschrift: Erstes Buch. (u.s.w.) Für das Titelblatt liebe ich die symbolischen Bezüge nicht. Einfache starke und muthige Linien und höchste Lesbarkeit der Worte! —
Treulich Ihr Freund
Nietzsche.
91. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Genua, 14. März 1881>
Meine Lieben, schönsten Dank für die Briefe. Es gieng und geht mir immer noch nicht gut. Ungünstiges Wetter. — Verzeihung, daß ich von B<aden->Baden gesprochen habe — an mich habe ich dabei gar nicht gedacht! Sondern nur, daß unser Mütterchen einmal einen angenehmen milden unterhaltenden und idyllischen Ort für ihr Alter habe, damit sie nicht in der dummen Beamtenstadt N<aumburg> allein übrig bleibe (dies N<aumburg> ist im Winter und im Sommer abscheulich — ich habe nie ein heimatliches Gefühl dafür gehabt, ob ich schon mich redlich bemüht habe, es mir dort gefallen zu lassen.) Über das Befinden der Frau von W<öhrmann> in Venedig habe ich keine guten Nachrichten. — Glaubt nicht, daß ich in ärgerlicher Stimmung schreibe. Ich wünsche von Herzen Euch wohl zu thun und denke viel an das, was Euch erfreuen könnte.
Euer F.
92. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Genua, 18. März 1881>
Lieber, lieber Freund, heute nur Ein Wort! Es giebt etwas, wovon Du zu allererst erfahren mußt — in Chemnitz ist ein neues Manuscript von mir in Arbeit. Dies ist das Buch, welches wahrscheinlich an meinem Namen hängen bleiben wird. — Welche Last habe ich auf den Schultern gehabt! Und welche habe ich nun erst mir aufgelegt! Nun, vorwärts und das Auge weder rückwärts noch zur Seite gewendet! Ich bin sehr bewegt und möchte Deine treue Hand fassen können. Meine paar wirklichen Freunde werden mich von nun an noch mehr durchs Leben zu tragen haben, ich werde ihnen und Dir Noth machen, aber es hilft nichts!
Von Herzen Dein Freund.
93. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz (Postkarte)
<Genua, 19. März 1881>
[ + + + ] <da>s erste Buch schon [ + + + ] Glück zu! — [ + + + ], werthester Herr! [ + + + ] Bücher, nämlich:
Lecky Geschichte des Ursprungs der Aufklärung.
Deutsch.
Lecky Sittengeschichte Europas. Deutsch.
(Beides bei C. F. Winter, Leipzig)
Grabbe’s ges. Werke Herausgegeben von O. Blumenthal.
(Ja nicht die andre neuere Ausgabe Gottschalls!)
Immer Genova, poste restante.
Der Correkturbogen wegen sehen Sie doch die Bestimmungen des Weltpostvertrags noch einmal ein! Ihr ergebener
F. N.
94. An Heinrich Köselitz in Venedig
Genova 20 März. 81.
Aber, lieber Freund, Ihre gestrenge Freundschaft wird mir wenigstens nicht verwehren können, eine Schuld abzutragen: ich denke an die zahllosen Brief- Correktur- Paket-Porti und Papier-Unkosten et hoc genus omne und versuche heute, etwas davon Ihnen zu ersetzen. Der Augenblick scheint mir gut gewählt, denn diese Sendung giebt mir die Befriedigung einer kleinen Bosheit, in Anbetracht, daß ich gerade so auf Ihren letzten Brief antworte. Sodann macht es mir Vergnügen zu denken, daß Sie nun ein paar Wochen länger in Venedig bleiben werden.
Ich bin heute guter Dinge, denn der Kopfschmerz, der von Sonntag Nachmittag bis zur letzten Nacht dauerte, ist wieder fort.
Danken Sie Gersdorff für die Aussicht, die er mir giebt. Ich liebe feste Termine: ist es möglich, den 15 September als solchen in’s Auge zu fassen? —
Die Titelblatt-Affaire wollen wir aufgeben! Es ist auch daran etwas zum Lachen! Nämlich: ich wünschte dabei nur Sie zufriedenzustellen, da Sie das letzte Mal sich so ärgerlich über Herrn Schmeitzners und Oschatzens Ungeschmack äußerten — ich selber aber war gar nicht so unzufrieden und dachte im Stillen: „dies versteht eben Freund Köselitz besser“ Nun, denke ich, beschränken wir uns darauf, Hrn. Oschatz einige Versuchstitel mehr fabriziren zu lassen — und Sie wählen den relativ erträglichsten aus! — Überdieß: wir wollen Hrn. Schmeitzner ja keine Kosten mehr aufbürden — zuletzt ruinirt er sich noch mit meinen unverkäuflichen Büchern. Wie eigentlich so ein Buch empfunden wird, möchte ich gern wissen; ich habe den schlimmsten Argwohn, wenn ich z. B. nach dem Briefe Rohde’s weiter rathe und mir den ungeneigten Leser denke — was im Grunde, für den Fall des neuen Buches, Jedermann sein wird!
Dagegen freilich hat der Verfasser der Aera Bismarcks mich „den deutschen Montaigne Pascal und Diderot“ genannt. Alles auf Ein Mal! Wie wenig Feinheit ist in solchem Lobe, also: wie wenig Lob! —
Schädlich wenigstens wird das Buch nicht wirken — nur daß ich selber es zu büßen haben werde! Ich gebe ja nicht nur den hochmoralischen, sondern allen anständigen und braven Menschen einen Anlaß, sich ihrer Moralität und Bravheit auf meine Unkosten zu freuen. Ich will zusehen, wie ich davon komme; weiß ich doch besser als Alle es wissen können, daß Alles noch zu thun ist, und daß ich selber nur auf Tage und Stunden den Charakter habe, der nöthig ist, um hier überhaupt noch an ein „Thun“ zu denken.
Ach, Freund, ich werde unklar, weil ich in diesen Nothdingen meines Selbst zu sehr umgetrieben bin und zuviel mit Einem Worte empfinde.
Sagen Sie mir, daß Sie mir gut sind, auch trotz der heutigen Boshaftigkeit — aber schreiben Sie es nicht auf Briefpapier, sondern auf ein Kärtchen, damit es Ihnen so wenig als möglich Zeit nimmt.
Von Herzen der Ihre:
treugesinnt F. N.
Jeder Titel muß vor Allem citirbar sein: also müssen wir ändern! Nicht „Eine Morgenröthe“, sondern nur: Morgenröthe. So klingt es auch nicht so prätentiös.
95. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Genua, 21. März 1881>
Ich bin so glücklich, lieber Freund, hier ein paar Büchlein Ihnen schicken zu können, die wie für Sie gerade geschrieben scheinen; wenigstens weiß ich Niemanden, der mehr Nutzen aus ihnen ziehn könnte. Es ist der Theil der musikalischen Aesthetik, der uns jetzt in Deutschland vorenthalten wird. — Und dann: wo findet sich ein zweiter Ohrenzeuge wieder, der zugleich auch so sehr Augenzeuge und mehr noch ist! — Er kennt den alten Haydn persönlich — und was weiß er zu erzählen! Einen herzlichen Gruß und Dank an Gersdorff! Denkt er wirklich daran, mich zu begleiten? — Herr Oschatz soll einige Versuchs-Titel mehr fabriziren, und Sie werden den erträglichsten auswählen — mehr wünsche ich nicht. Sie waren das letzte Mal (beim „Wanderer“) so ärgerlich über den Ungeschmack: ich hatte bei der Anregung dieses Thema’s nur den Wunsch, Ihnen diesen Ärger diesmal zu ersparen (ich selber nämlich war gar nicht unzufrieden: es ist zum Lachen!)
Mein Kopfschmerz hat 6 Tage diesmal gedauert! —
Treulich Ihr Freund.
96. An Erwin Rohde in Tübingen
<Genua, 24. März 1881>
So läuft nun das Leben dahin und davon, und die besten Freunde hören und sehen nichts von einander! Ja das Kunststück ist nicht gering: zu leben und nicht mißmuthig zu werden! Wie oft bin ich in dem Zustande, wo ich gerne bei meinem alten rüstigen blühenden tapferen Freunde Rohde eine Anleihe machen möchte, wo ich eine „Transfusion“ von Kraft, nicht von Lammblut, sondern von Löwenblut recht von Nöthen hätte — aber da steckt er in Tübingen, in Büchern und im Ehestande, für mich in allen Beziehungen unerreichbar. Ach, Freund, so muß ich denn fort und fort vom „eignen Fette“ leben: oder wie Jeder weiß, der dies einmal recht versucht hat, vom eignen Blute trinken! Da gilt es sowohl den Durst nach sich selber nicht verlieren als auch sich nicht auszutrinken.
Im Ganzen bin ich aber erstaunt, um es Dir zu gestehen — wie viel Quellen der Mensch in sich fließen lassen kann. Selbst einer, wie ich, der nicht zu den reichsten gehört. Ich glaube, wenn ich alle die Eigenschaften besäße, die Du vor mir voraus hast, ich würde übermüthig und unausstehlich. Schon jetzt giebt es Augenblicke, wo ich auf den Höhen über Genua mit Blicken und Empfindungen herumwandele, wie sie von eben hier aus vielleicht einmal der selige Columbus auf das Meer und auf alle Zukunft hinaus gesandt hat.
Nun, mit diesen Augenblicken des Muthes und vielleicht sogar der Narrheit muß ich mein Lebensschiff wieder in’s Gleichgewicht zu bringen suchen. Denn Du glaubst nicht, wie viel Tage, und wie viel Stunden selbst an erträglichen Tagen — überstanden werden müssen, um nicht mehr zu sagen. Soweit man mit „Weisheit“ der Lebenspraxis einen schwierigen Zustand der Gesundheit erleichtern und mildern kann, thue ich wahrscheinlich Alles, was man in meinem Falle thun kann — ich bin darin weder gedanken- noch erfindungslos — aber ich wünsche Niemanden das Loos, an welches ich anfange mich zu gewöhnen, weil ich anfange zu begreifen, daß ich ihm gewachsen bin.
Aber Du, mein theurer lieber Freund, bist nicht in einer solchen Klemme, wo man sich dünn machen muß, um gerade sich durchzuwinden; Overbeck ist es auch nicht, ihr thut eure schöne Arbeit und ohne viel davon zu sprechen, vielleicht ohne viel davon zu denken, habt Ihr alles Gute vom Mittage des Lebens — und ein wenig Schweiß dazu, wie ich vermuthe. Wie gerne hörte ich ein Wort von Deinen Plänen, von großen Plänen — denn mit einem solchen Kopfe und Herzen, wie Du hast, trägt man hinter all der täglichen und vielleicht kleinen Arbeit, irgend etwas Umfängliches und Sehr-Großes mit sich herum — wie sehr würdest Du mich erquicken, wenn Du mich solcher Mittheilungen nicht für unwürdig hieltest! Solche Freunde wie Du müssen mir helfen, den Glauben an mich in mir selber aufrecht zu erhalten; und das thust Du, wenn Du mich für Deine besten Ziele und Hoffnungen zum Vertrauten behältst. — Wenn sich unter diesen Worten die Bitte um einen Brief verbergen sollte, nun ja! liebster Freund, ich hätte gerne etwas recht, recht Persönliches von Dir wieder einmal in Händen — damit ich nicht immer nur den vergangenen Freund Rohde im Herzen empfinde, sondern auch den gegenwärtigen und — was mehr ist — den werdenden und wollenden: ja den Werdenden! den Wollenden!
Von Herzen
der Deine.
Sage Deiner lieben Frau ein Wort zu meinen Gunsten: sie soll nicht böse sein, daß ich sie immer noch nicht kenne: irgend wann einmal mache ich Alles gut.
Genova (Italia)
poste restante
96a. An Julius Wolff in Berlin
Genua, Mo 28. März 1881
28 März 1881.
Adr.: Genova (Italia)
poste restante.
Sehr geehrter Herr,
das sind traurige Nachrichten — ich hatte gehofft, es stünde jetzt besser mit der geistigen Gesundheit des Hrn O<tto> B<usse> eben weil ich ein Jahr lang nichts mehr von ihm gehört habe! Im Frühjahr 1880, als ich in Venedig war, wurde ich, um die ganze Wahrheit zu sagen, durch seine wichtigthuerischen Sendschreiben in einem Grade belästigt, daß ich dem mit Gewalt ein Ende machen mußte — ich sagte ihm, in dem einzigen Briefe, den ich an ihn geschrieben habe, die „Wahrheit“, immerhin, wie sich von selber versteht, so schonend als es ein Mann von so edlen und hochherzigen Sinnen von mir erwarten kann. Ich widerrieth ihm sich mit meinen Gedanken zu beschäftigen, suchte ihm in Hinsicht auf seine frühere praktische Thätigkeit wieder Muth zu machen, erklärte es als eine Selbsttäuschung, wenn er glaube, daß ich in irgendwelchen Stellen meiner Schriften an ihn gedacht hätte oder daß gar meine Schriften durch ihn hervorgerufen seien — so weit ging sein Wahn — / endlich: ich drückte so kräftig als möglich mein Unbehagen über den Ton aus, in dem er von mir zu sprechen sich gewöhnt hatte. Es war ein so abkühlender Brief, als ihn die hitzige Schwärmerei seiner Sendschreiben eben nöthig machte. Später habe ich ihm durch einen eben so besonnenen als vertrauenswürdigen Freund erklären lassen, daß ich weitere Schriftstücke nicht mehr lesen würde — in der That ist das Umfänglichste, beinahe ein Broschürchen, mir bis heute unbekannt. Von einem Werthe, gar einem wissenschaftlichen Werthe kann bei diesen schwülstigen und oft ganz unverständlichen Schriftstücken nicht die Rede sein. — Wahrscheinlich hat jener Freund in diesen Angelegenheiten mit Hrn. O<tto> B<usse> noch einige Briefe gewechselt — ich wollte damals von alledem nichts mehr hören und unterließ absichtlich ihn zu fragen. Vielleicht ist es Ihnen, verehrter Herr, erwünscht, die Adresse dieses Freundes zu haben. Hier ist sie:
Signore H. Köselitz
Venezia
S. Canciano Calle nuova 5256. /
Aus früherer Zeit erinnere ich mich einer Karte, die ich an Hrn. O<tto> B<usse> schrieb, um zu erklären, daß ein brieflicher Verkehr für mich eine Unmöglichkeit sei (denn ich bin fast blind — Verzeihung! Auch dieser Brief ist nur eine Ausnahme. Mein einziger Brief an Hrn O. B. ist von mir Herrn Köselitz in die Feder diktirt worden.)
Von ganzem Herzen wünsche ich, irgendwie zur Genesung eines so ausgezeichnet guten Menschen beitragen zu können. Wäre ich nur in seiner Nähe! — ich wollte ihn schon vom Glauben an seine und meine „Größe“ abbringen! Aber meine Gesundheit gebietet mir, im Süden, in einem Hafenort des mittelländischen Meeres zu leben. Sollte ein Arzt es rathsam finden, Hrn B. für längere Zeit in meine Nähe zu versetzen: so geben Sie mir Nachricht! Man sagt mir nach, daß ich beruhigend auf meine Umgebung wirke; und meine Lebensweise ist so einfach und natürlich, daß Herr O. B. sie nicht ohne Nutzen annehmen würde. Genug: ich wollte Ihnen nur sagen, wie gern ich helfen möchte! Ganz ergeben der Ihre
Dr. F. Nietzsche
97. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Genua, 30. März 1881>
Aber, liebster Freund, das war eine Vergiftung! Wahrscheinlich hat man Ihnen gefälschten Wein zu trinken gegeben; denken Sie ja darüber nach, wo Sie dies Gift in den Leib bekommen haben mögen! — Eben las ich in Ihrem Hefte „Carnevale von Venedig“ und zwar zum ersten Male! Sonderbar! das Vorurtheil, es sei viel von meinen Meinungen darin, hatte mich bisher dagegen eingenommen. Jetzt werde ich auf das Angenehmste überrascht: es ist purus Köselitzius, reiner guter und nicht verfälschter Wein aus Ihrem Weinberge! Es thut mir alles so wohl; und ich glaube, es sind sehr nützliche Tendenzen in diesem Hefte ausgesprochen, die nicht nur mir nützlich und wohlthuend erscheinen werden! Z. B.: alle diese Bemerkungen über A<dalbert> Stifter’s Nachsommer! Das könnte manchem Dichter, manchem Leser und manchem, der beides noch nicht ist, recht zu Statten kommen! Ich wünschte, Sie machten sich einmal inmitten Ihrer Arbeit „Ferien“ und schrieben dieses Heft um, mit allem Behagen und ohne jegliche Rücksicht auf das „mein“ und „dein“ zwischen uns Beiden — welches ja, nach der Ethik der Pythagoreer, unter Freunden nicht existirt! Und so soll es sein! Ganz vertraulich und heimlich gesprochen: für wen schrieb ich denn das letzte Buch auf? Für uns: wir müssen uns einen Schatz an Eigenem sammeln, für das Alter! Denn mit dem Gedächtniß ist es nichts, ich habe z. B. den Inhalt meiner frühern Schriften fast vergessen, und finde dies sehr angenehm, viel besser jedenfalls als wenn man alles früher Gedachte immer vor sich hätte und sich mit ihm auseinandersetzen müßte. Giebt es vielleicht doch eine solche Auseinandersetzung in mir, nun, so geht sie im „Unbewußten“ vor sich, wie die Verdauung bei einem gesunden Menschen! Genug: wenn ich meine eignen Schriften sehe, ist es mir als ob ich alte Reiseabenteuer hörte, die ich vergessen hätte. Sehen wir zu, daß wir unser ganzes Leben derartig für uns monumentalisiren — es ist mir ganz gleichgültig und leerer Schall in den Ohren, wenn ein solches Begehren „Eitelkeit“ heißt. Seien wir doch eitel für uns und so sehr als möglich!
Der Übelstand meiner Augen ist groß, jetzt z. B. nach der Arbeit dieses Winters muß ich viele Tage verstreichen lassen, ohne ein Wort zu lesen und zu schreiben; und kaum begreife ich’s, wie ich mit diesem Manuscript fertig geworden bin. Voller Bedürfnisse, etwas zu lernen und recht gut wissend, wo das steckt, was gerade ich zu lernen habe, muß ich das Leben so hinstreichen lassen — wie es meine elenden Organe, Kopf und Augen, fordern! Und es handelt sich nicht um ein Besserwerden! Es wird immer kümmerlicher, und die Dunkelheit nimmt zu!
Also, lieber guter Freund, machen Sie ein Venediger Gedenkbuch, geben Sie es anonym heraus (oder mit einem neuen Namen) und denken Sie daran, wie uns so ein Buch dieses Inhaltes erquickt haben würde, wenn es zu uns versteckten Jünglingen in unsere deutschen Winkel gelangt wäre, damals als wir 20 Jahr alt waren!
Nun noch ein Wort von unsern Bekümmernissen! Herr Otto Busse macht seinen Verwandten und Freunden die größte Sorge (— voller Größenwahn, (in Bezug auf sich und mich!)) und diese wenden sich nun an mich! — meinend, ich hätte ihm etwas in den Kopf gesetzt! Das soll ich nun wieder hinausschaffen! Er hält sich für den Reformator der Deutschen und mich für die „Autorität der Autoritäten“ — kurz: Muhammed und Allah! Er behauptet, daß „wissenschaftliche Werke“ von ihm in meinen Händen seien! für die die Deutschen noch nicht reif seien! u.s.w. Alles unter sieben Siegeln Ihnen anvertraut!
Dann: Herr Schmeitzner behandelt mich nicht artig. Vor 5 Wochen hat er mir ein Kärtchen geschrieben, (mit der allzu sächsischen Wendung „Ei natürlich verlege ich Ihr Buch!“) Seitdem tiefes Schweigen, trotzdem daß ich 2 Briefe und 2 Karten abgesandt habe! Daß ihm eine Ehre widerfährt, wenn er dieses Buch herausgeben darf, davon hat er keine Vorstellung.
Nun möchte ich gern etwas verreisen, um meinen Kopf etwas zu zerstreuen und viel Spazieren zu gehn — es ist dies sehr nöthig, damit ich nicht von meinen Skrupeln aufgefressen werde! (Verfluchte Melancholei!) Aber Correkturbogen! Fast hätte ich Lust, diese ganze Druckgeschichte Herrn Schmeitzner aus den Händen zu nehmen: ich warte nur, daß er mir einen Anlaß giebt. Vielleicht erweise ich ihm eben damit einen großen Dienst: denn wer mag ein solches Buch gerne als Verleger vertreten!
Frau von Wöhrmann hat ihre Söhne kommen lassen — es steht also wohl schlimm! — —
Charron — vorzüglicher Gedanke! Es ist das Erziehungsbuch des alten französischen Adels! — Es lebe unser Stendhal! Ja, die Rangordnung der Geister ist noch nicht gemacht! — P<rosper> Mérimée ist jetzt der best beschimpfte Franzose unter Franzosen aller Parteien! ihr erster großer Erzähler aus diesem Jahrhundert!
Gehen wir unsere Wege nur weiter! Man trifft doch auf mancherlei Gutes dabei! —
Von Herzen Ihr F. N.
98. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Genua, 6. April 1881>
Sie thun mir so wohl, lieber Freund, mit Vielem und mit Ihren Briefen namentlich — und ich habe das Wohlthuende jetzt recht nöthig! Es geht mir gar nicht gut. Wie gerne käme ich zu Ihnen, namentlich wenn ich jetzt denken darf, daß es nicht ganz wider Ihren Wunsch ist! Aber Venedig ist noch zu voll, ich kann nicht die Geselligkeit wieder aufnehmen, wie ich sie ehemals liebte, jede Unterhaltung ist jetzt, nach einem halbjährigen Nicht-reden, für mich eine ernste Sache. — Wann reist G<ersdorff> ab? — Aber da ist die arme Frau von W<öhrmann>, unsrer Familie so nahestehend und mir selber (sie hat mir wieder und wieder versprochen, „wie eine Schwester“ für mich sorgen zu wollen) Auch ihre beiden Söhne sind in V<enedig>. Dieses Ihr Venedig liegt an der Heerstraße für alle guten Menschen. Schlimm für mich! Ich käme gar zu gern.
Treugesinnt Ihr F. N.
Schmeitzner’s Schweigen auf alle Briefe und Karten ist wider die „gute Sitte“ —
99. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Genua, 6. April 1881>
Meine Lieben, Verzeihung, daß ich so spät antworte! Ich wartete lange auf einen guten Tag. Diese Uebergangsmonate in Genua sind mir nicht dienlich, ich bin fast immer krank, die Unruhe des Wetters ist gar zu groß. Die vielen Wolken und Südwinde drücken Stimmung und Kopf, seit 6 Wochen habe ich gar nichts mehr gethan. Nun, das muß man erfahren und sich anderemale darnach richten (Mit den Wintermonaten bin ich hier einverstanden) Auch wird die Sonne mir jetzt zu hell, wenn sie scheint — und meine Spaziergängerei ist nicht mehr durchzuführen, die doch von allen meinen Gesundheits-Maßregeln die wichtigste ist. — Die Genueser Küche ist für mich gemacht. Werdet Ihr’s mir glauben, daß ich jetzt 5 Monate fast alle Tage Kaldaunen gegessen habe? Es ist von allem Fleische das Verdaulichste und Leichteste, und billiger; auch die Fischchen aller Art, aus den Volksküchen, thun mir gut. Aber gar kein Risotto, keine Makkaroni bis jetzt! So veränderlich ist es mit der Diät nach Ort und Klima! — In herzlicher und dankbarer Liebe
Euer F.
100. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Genua, 6. April 1881>
Sonderbar! Den Tag vor Deinem Brief, mein lieber Freund, habe ich endlich einen Brief an Rohde abgesandt; es that mir sehr wohl zu hören, daß er bei Euch sei — das ist wie eine Badereise für ihn. Hätte ich Dich nur auch so nahe! Ich hätte einigen Zuspruch und die gute beschwichtigende Nähe des Vertrauens auch recht nöthig. Die letzten Monate waren mir hier ungünstig, für andre Jahre will ich mir’s merken (die Unruhe des Wetters ist gar zu groß — aber mit den Wintermonaten in G<enua> bin ich einverstanden). — Was ich schrieb, daß mein Ms. in Arbeit in Ch<emnitz> sei, muß ich seltsamer Weise widerrufen. Hr. Schm<eitzner> hat seit 6 Wochen sich in tiefes Schweigen gegen mich gehüllt und antwortet auf nichts mehr: selbst daß mein Ms. überhaupt in seinen Händen ist, kann ich auf keine Weise erfahren. Völlig unverständlich! — Dir und Deiner lieben Frau den herzlichsten und dankbarsten Gruß.
101. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Genua, 10. April 1881> Sonntag früh.
Als ich gestern Ihren Brief las, „gieng mein Herze in Sprüngen“, wie das Kirchenlied sagt, — es war gar nicht möglich, mir jetzt zwei angenehmere Dinge mitzutheilen! (Das Buch, zu dem allmählich in mir ein nicht geringer Hunger entstanden ist, wird wohl heute in meine Hände kommen) Also: so soll es sein! Wir Beiden kommen noch ein Mal zusammen, auf dieser aussichtsreichen Kante des Lebens und schauen mit einander vorwärts und rückwärts und geben uns die Hand dabei, zum Zeichen, daß uns viele viele guten Dinge gemeinsam sind, mehr als wir in Worten sagen können. Sie können es kaum wissen, wie erquickend mir der Gedanke dieser Gemeinsamkeit ist — denn Einer mit seinen Gedanken allein gilt als Narr, und oft genug auch sich selber: mit Zweien aber beginnt die „Weisheit“ und die Zuversicht und die Tapferkeit und die geistige Gesundheit. — — — — — —
Also Recoaro! Ich habe nur noch bis Ende dieses Monates mein Zimmer in Miethe und gedachte jedenfalls den ersten Mai abzureisen: nun, wenn es Ihnen gelegen kommt, so reise ich an diesem Tage nach Vicenza (von da sind es 4 Stunden Fahrt — das ist für den nächsten Tag) Sehen Sie doch zu, noch Einzelheiten über Preise der Zimmer u.s.w. zu bekommen; ich habe gelernt, daß das Wissen um Preise die Hälfte der Sparsamkeit selber ist. (Hier habe ich monatlich, alles in allem, 80 lire gebraucht — so billig kann man nur in großen Seestädten leben!)
Beim Weiterlesen im Venediger Hefte ist mir der Wunsch, den ich Ihnen ausdrückte, immer lebhafter gekommen. Wirklich, es steht der Inhalt dieses Heftes nicht in meinem neuen Buche — aber es ist wie die gute Nachbarschaft dazu. Zweierlei fiel mir auf: einmal, Sie haben so viel erlebt und sodann, Sie haben mehr als irgend Jemand, den ich kenne, sich geübt, seit vielen Jahren, sich hell gut und eigentlich auszudrücken: die Worte strömen Ihnen jetzt zu, die rechten Worte. Sie dürfen mir ein wenig hierin vertrauen — ich habe in solchen Dingen Witterung und selbst einiges Wissen. Und damit Sie nicht glauben, ich wolle Sie jetzt loben, füge ich gleich hinzu: Sie verstehen sich als Schriftsteller nicht auf das Schimpfen und nicht auf die Bosheit — und das zu wissen ist ganz gut. Es giebt Menschen, deren Charakter immer gerade zu derselben Zeit seine hohe Fluth hat, wo ihr Intellekt die seine hat: es scheint mir, daß Sie zu diesen gehören. Es hat dies auch einige kleinere Beschränktheiten in sich, welche man, wie gesagt, wissen muß, um von sich nichts Falsches zu fordern.
Gestern habe ich, unter Anleitung meiner Wirthin, ein Genueser Gericht gekocht, dessen Hauptbestandtheile Artischocken und Eier waren.
Ich bin jetzt so weit hier heimisch, daß alle, denen ich meiner Lebensbedürfnisse halber mich nähere, ein freundliches Gesicht und Wort für mich haben. Ja, ich habe Beispiele von einem mehr als artigen, „uneigennützigen“ Betragen gegen mich.
Dagegen schweigt Herr Schm<eitzner> fortgesetzt, was weder freundlich, noch artig ist: vor 7 Wochen kündigte er einen Brief, durch jenes Kärtchen, an — aber der Brief kam nicht. Ich bat ihn vor 4 Wochen, mir ein paar Bücher zu schicken — aber die Bücher kamen nicht. Er nöthigt mich, nun auch zu schweigen.
Das Titelblatt sah greulich aus! — Eine wesentliche Änderung habe ich gemacht — Morgenröthe und nicht „Eine M.“ Ein Titel muß vor allem citirbar sein, — das war er bisher nicht. Zudem: in dem „Eine“ lag etwas Pretiöses.
Leben Sie wohl! Den allerschönsten Dank!
Ihr Freund F. N.
Sagen Sie Gersdorffen, daß der ausbrechende Krieg in Tunis alle Reisepläne in’s Weite schiebt, und daß es unrathsam ist, für diesen Herbst und Winter als Fremder dort anzulanden — man hat die mißtrauische Gesinnung und Schlimmeres gegen sich. — Ärgerliche Kreuzung!
102. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Genua, 10. April 1881>
Meine liebe liebe Lisbeth, einem so guten Briefe muß ich mit etwas Gutem antworten. Also: ein neues größeres Buch von mir! Mit dem Manuscript habe ich seit 2 Monaten nichts mehr zu thun, der Druck wird einen guten Theil des Sommers wegnehmen und ein Zusammensein mit Hrn. Köselitz nöthig machen <doch nicht in Venedig!> Dies ist ein entscheidendes Buch, ich kann nicht ohne große Bewegung daran denken. — Und noch etwas Heiteres: gestern habe ich auf meiner Maschine ein Genueser Gericht unter Anleitung meiner Wirthin gekocht, und siehe, es war vortrefflich! Hauptbestandtheile Artischocken und Eier (Die Artischocke kostet 7—8 Pfennige)
Lebt wohl und behaltet mich lieb! Wetter und Gesundheit molto variabile.
F.N.
103. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Genua, 16. April 1881>
In solchen herrlichen schlichten und fröhlichen Büchern wie dem Mayer’s giebt es eine Harmonie der Sphären zu hören: eine Musik, die nur für den wissenschaftlichen Menschen bereitet ist. — Was ist der Ruhm! Charron der Verfasser von „sur la sagesse“ war vielleicht der gelesenste Autor zweier Jahrhunderte, nächst Montaigne. Und jetzt! — Er war Geistlicher und berühmt durch seine Predigten gegen Reformation; lebte in der Nähe und im Umgang mit dem alten M<ontaigne> — mehr hat mein Gedächtniß nicht über ihn. Es muß eine schöne neue Ausgabe etwa aus den fünfziger Jahren geben. Kräftiges schönes Altfranzösisch! — Vergessen Sie nicht, Badehosen nach Recoaro mitzunehmen!
Verzeihung für dies unanständige Durcheinander!
Mit herlichem Gruße Ihr Freund
F.N.
(„Über Auslösung“ ist für mich das Wesentlichste und Nützlichste im Buche)
104. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz (Postkarte)
<Genua, 16. April 1881>
Aber, werther Herr Verleger, unter solchen <Umständen> hätten Sie anders gegen mich handeln s<ollen! Ich bin> sehr unzufrieden: meine wesentliche Bed<ingung war> die Schnelligkeit der Herstellung und ein sch<nelles Arbeiten> mit dem Drucker (bis zum 1 Mai fertig zu s<ein). Soll ich> dieser verteufelten Correkturbogen wegen <noch den ganzen> Sommer verlieren? Mein Geist sollte gerade <für diese> Zeit Ruhe und Freiheit von den Problemen haben, von denen diese Blätter handeln. — Freiheit für etwas Anderes! Und nun kommen diese Bogen, wie Tropfen um Tropfen, mit einer schändlichen Hartnäckigkeit — alle Wochen einer! Warum schrieben Sie mir 7 Wochen nicht, nachdem Sie einen Brief mir angekündigt hatten! — Heute, am 16 April sind 2 Bogen erledigt!!! F.N.
105. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz (Postkarte)
<Genua, 19. April 1881>
Geehrtester Herr Verleger,
der eben ankommende Brief des Herrn B. G. Teubner, in dem er mir wöchentlich 4 Bogen zusagt, besänftigt mich einigermaaßen — ich schreibe es Ihnen gleich, damit Sie nicht glauben, ich sei gallsüchtig.
Ich ersuchte Sie, vor 4 Wochen, um die Zusendung von 3 Büchern: sollte die Karte nicht in Ihre Hände gekommen sein? Ich gl<aube> [+ +] in den 7 Woch<en Ihres Schwei>gens gehörte die <Erfüllung> meiner Bitte nic<ht zu den „Un>begreiflichkeiten“. [+ + +]
106. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Genua, 26. April 1881>
Also, lieber Freund, nächsten Sonntag reise ich Ihnen entgegen und denke halb sechs Nachmittag in Vicenza Sie zu finden; für den Fall, daß irgendwie wir uns dort nicht finden, würde ich gerne noch von Ihnen den Namen des Gasthauses erfahren, in dem wir die Nacht zubringen und nach welchem ich mich sofort vom Bahnhofe begeben würde.
Teubner ist von unserm Ortswechsel benachrichtigt.
Sie bringen doch Ihre Musik mit? Und vielleicht auch Chopin?
Ich kann Ihnen nicht sagen, wie ich mich freue, daß wir nun doch noch zusammenkommen! Wer weiß, wohin unsre Winde und Stürme uns nachher treiben! Es giebt leider zu viele Himmelsrichtungen (und nicht nur Himmels-!)
Von ganzem Herzen Ihr treuer Freund
F.N.
107. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Genua, 28. April 1881>
Meine Lieben, ich bin in vollem Einpacken, denn Sonntag verlasse ich auf einige Monate Genua, um mit Herrn Köselitz zusammen mein Buch zu corrigiren und Wald Berg und Freundschaft zu genießen. Es ist eine italiänische Sommerfrische „Recoaro (presso di Vicenza) Italia“ ist die Adresse fürderhin und poste restante. Meine Koffer lasse ich hier, gepackt, und ebenso habe ich schon für meine Rückkehr eine Wohnung in Genua. Es ist nicht dieselbe wie bisher, weil meine Wirthin nach Spezia übersiedelt. — Mein Befinden war gar nicht gut, die ganze letzte Zeit: auch 2 ganz harte Anfälle der alten Art (mit Erbrechen usw.) gab es. Doch weiß ich ungefähr die Gründe. — Schönsten Dank für den Brief mit Thüringer Luft und anderem Guten. Dies Jahr komme ich nicht nach Deutschland, aus Sparsamkeit usw. Es denkt Eurer in Liebe
Euer F.
Das Paket welches ich sende, ist erst am 10 Juli aufzumachen! Pardon!!
107a. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Disposition)
Genua, um den 28. April 1881
Naumburg wegen Daniel Stern
108. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Genua, 28. April 1881>
Lieber theurer Freund, Sonntag verlasse ich Genua auf einige Monate und gehe nach Recoaro (presso di Vicenza) einer ital<ienischen> Sommerfrische, wohin auch Hr. Köselitz kommt. Willst Du mir dorthin den neuen „grünen Heinrich“ senden? Alle Jahre Ein gutes Buch zu lesen, ist gewiß keine Ausschweifung (voriges Jahr lasen wir den „Nachsommer“). — Fr<eund> Rohde hat einen langen Brief über sich geschrieben, an dem mir aber zweierlei fast wehe that 1) die Art Gedankenlosigkeit in Betreff der Richtung des Lebens bei einem solchen Menschen! und 2.) die Masse schlechten Geschmacks in Wort und Wendung (vielleicht nennt man’s auf deutsch<en> Universitäten „Witz“ — der Himmel behüte uns davor!) Dir und Deiner lieben verehrten Frau einen guten Sommer und heiteren Himmel! (am Himmel hängt bei mir fast Alles, es gieng mir also nicht gut!)
109. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Recoaro, 18. Mai 1881>
Meine Lieben, es will mir scheinen als hätte ich recht lange nichts von Euch gehört. — Mir ist es seit meiner Abreise so gegangen wie voriges Jahr nach der Abreise von Venedig: schlecht, sehr schlecht — deshalb schrieb ich nicht. Die erwähnte Sendung von Genua mußte ich unterlassen, es gab Schwierigkeiten, die ich mit meiner Unkenntniß der Sprache nicht überwältigen konnte: Verzeihung! — Zu meinen schönsten und überraschendsten Erlebnissen gehört die Entdeckung, die ich hier mache, wo ich Freund Köselitzens komische Oper kennen lerne: er ist ein Musiker ersten Ranges und was er kann, kann ihm unter den Lebenden keiner nachmachen. Dabei genieße ich noch etwas Persönliches: es ist gerade die Musik, die zu meiner Philosophie gehört. — Leider gebietet meine Gesundheit mir die größte Enthaltsamkeit in diesem Genusse. Meine Adresse habt ihr: Recoaro, presso di Vicenza, Italia, poste restante.
In herzlicher Liebe Eurer gedenkend
F N.
110. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Recoaro, 18. Mai 1881>
Nur ein Wort des Dankes, mein lieber Freund, für die Besorgung des „grünen Heinrich“, er soll mir eine rechte Sommerfreude werden. Wenn Du mein nächstes Gehalts-Quartal an Schmeitzner sendest, bringe dies Buch, bitte, in Verrechnung. — Mein Befinden ist schlecht. Der Druck wird sich viel<leicht> noch über 2 Monate hinschleppen. — Nun aber noch eine frohe, sehr frohe Botschaft: unser Freund K<öselitz> ist ein Musiker ersten Ranges, sein Werk von einem neuen und eigenen Zauber der Schönheit, in dem Keiner der Lebenden ihm gleichkommt. Heiterkeit, Anmuth, Innigkeit, ein großer Bogen der Empfindung, von der harmlosen Lustigkeit hinauf bis zur unschuldigen Erhabenheit: dabei eine technische Vollkommenheit und Feinheit der Ansprüche an sich selbst, die mir, in diesem groben Jahrhundert, unsäglich erquickend vorkommt. Zu alledem: es giebt eine Verwandtschaft zwischen dieser Musik und meiner Philosophie: letztere hat die wohltönendste Fürsprecherin gefunden! —
111. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Recoaro, 31. Mai 1881>
Lieber Freund, soeben rüstet sich Hr. K<öselitz> zu seiner Ab- und Rückreise. Es ist so nöthig — für uns Beide. Meine Gesundheit verträgt, trotz aller Vorsicht, ein solches Zusammensein nicht mehr, es gab Anfälle von der übelsten Basler Manier. — Ich bleibe der Druckbogen wegen noch hier (die helle Sommersonne und die anscheinende Unmöglichkeit, einen Ort zu finden, der für meine armen Augen und die ebenen langen guten Spaziergänge, die mein Kopf braucht, gleichmäßig sorgt, bringt mich mitunter fast zur Verzweiflung; voriges Jahr habe ich nach sorgfältigstem Aussuchen von scheinbar möglichen Orten acht mal eine Enttäuschung erlebt, und in diesem Sommer geht es ebenso los!) Sicher bleibe ich bis Mitte Juni. Die Fortsetzung des „grünen Heinrich“ bitte ich mir später (etwa August) aus.
Dir und Deiner lieben Frau von Herzen ergeben
F.N.
112. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Recoaro, 5. Juni 1881>
Lieber Freund, es geht gar nicht gut, — aber ein Gefühl der Herzstärkung ist mir von unserm Zusammensein übrig geblieben, das ich nicht missen möchte! Ich bin Ihnen sehr dankbar für die Überwindung, nach Recoaro zu gehen und hier so lange auszuhalten. Noch nie gab es für mich einen Mai, der es so sehr gewesen wäre, wie dieser! Es ist so vieles offenbar geworden, und was noch alles von dem alten lieben Köselitzius absconditus an’s Licht hinaus will, das ist gar nicht mehr abzusehen! — Ich träume davon unterwegs. Jeden Nachmittag war ich auf drei Viertel Höhe des Spitz. Veränderte Diät: alle Minestren, Risotti, Macaroni, Polenten abgeschafft! Tagesreglement, nach der Minute abgelebt! Aber elende Kopfschmerzen trotzalledem, Tag für Tag Gewitter oder Gewitter-Umwölkung! Können Sie vielleicht aus einem Reisebuch (Amthor’s Tirol oder „Die deutschen Alpen I“) oder sonsther etwas über Brentonico erfahren? Ist es hoch?
In herzlicher Liebe und Freundschaft Ihr
F.N.
113. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Recoaro, 5. Juni 1881>
Meine Lieben, ich möchte Euch zum Danke für alles Gute, das Ihr mir schreibt und wünscht, Besseres zu melden haben — aber mein Befinden ist immer kläglich. Freund K<öselitz> hat mich schon seit einigen Tagen verlassen, es gieng nicht mehr, allein sein ist mir zuträglicher (und wie wenig waren wir eigentlich zusammen! Er hatte von früh bis in die Nacht zu arbeiten) Nun, ich muß Geduld und Vernunft brauchen! Die Anfälle hatten Baslerischen und Naumburger Charakter, und einen Grad von Kopfschmerz werde ich gar nicht los. Vielleicht gehe ich an’s Meer schon bald wieder zurück. Doch bleibe ich gewiß hier bis zum 15 Juni.
In Liebe Euer F.
114. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Recoaro, 11. Juni 1881>
Meine Lieben, in ein Paar Wochen kommt mein Buch zu Euch. Seht es freundlich von außen an: so sieht das Wesen aus, das unsern nicht zu schönen Namen unsterblich machen wird! Aber ich bitte Euch von ganzem Herzen, es nicht zu lesen und es Niemandem zu leihen. Es bleibt dabei? — Herr Maler Rascowich ist in der größten Noth! Freund Köselitz (der selbst so wenig hat, und im letzten Jahre ein paar hundert frs. daran gewendet hat, Hrn. R<ascowich> vom Verhungern zu retten) schreibt mir heute, daß Frau v. Wöhrmann noch mit fünf Monaten Honorar für den Zeichenunterricht, den das Töchterchen bei Herrn R<ascowich> erhält, im Rückstande ist. Nun gehört unser Maler zu den delikaten Naturen, welche eher zu Grunde gehen als eine Rechnung einreichen. Erfindet doch ein feines Mittel, und schnellstens, um der lieben Frau v. W<öhrmann> das Gedächtniß in diesem Punkte zu schärfen. — Mein Befinden fort und fort miserabel, aber die Correctur hält mich fest. In Liebe
F.
115. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Recoaro, 17. Juni 1881>
Meinen Glückwunsch zu Ihrem Finalissimo! Und ebenso zur Beendigung unsrer unausstehlichen Correctur! (Das M<anu>script des letzten Bogens ist an mich geschickt worden.) Das Umschlag-Titelblatt aber ist Ihre Sache — wie ich Teubner geschrieben habe; ich will es gar nicht sehen. Das Exemplar für Frau v. W<öhrmann> geht an Ihre Adresse; Schm<eitzner> ist benachrichtigt. — Inzwischen war ich des Lebens müde; das schöne Recoaro ist eine Hölle für mich gewesen, ich bin immer krank, und kenne keinen Ort der so ungünstig mit seinem beständigen Wetter-Umschlagen auf mich wirkte. Brentonico bei Mori (wir sind ja durchgefahren) ist viel zu tief, und der M<onte> Baldo ist noch dazu ein Wetterberg, wie der Pilatus: immer Gewölk! Ich zerbreche mir den Kopf und finde nichts als den Versuch mit dem Engadin zu wiederholen: was in 4 Tagen ungefähr geschehen soll. Ich bin ein gemartertes Thier und lechze nach einiger Schmerzfreiheit. In herzlicher Freundschaft
FN.
Pseudonymität und Verborgenheit unmöglich für Sie! Veränderung des Namens genügt z. B. Coselli.
116. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Recoaro, 19. Juni 1881>
Ach, meine gute liebe Schwester, Du meinst, es handele sich um ein Buch? Hältst auch Du mich immer noch für einen Schriftsteller! Meine Stunde ist da. — Ich möchte Dir so viel ersparen, Du kannst ja meine Bürde nicht tragen (es ist schon Verhängniß genug, so nah mit mir verwandt zu sein) Ich möchte, daß Du Jedem mit reinem Gewissen sagen könntest „ich kenne die neueren Ansichten meines Bruders nicht“. (Man wird es Dir schon zu verstehen geben, daß diese „unmoralisch“ und „schamlos“ sind.) — Inzwischen: guten Muth und Tapferkeit, jeder für seinen Theil, und gute alte Liebe! —
Meine Adresse: St. Moritz in Graubünden (Schweiz) poste restante. Es ist dies wieder einmal ein letzter Versuch. Seit Februar habe ich außerordentlich zu leiden gehabt, und nur sehr wenig Orte sind mir günstig. — Schönsten Dank für den Dienst in Betreff des Herrn Malers R<ascovich>.
117. An Ernst Schmeitzner in Chemnitz (Postkarte)
<Recoaro, 19. Juni 1881>
<Werthester> Herr Verleger,
<hier i>st meine Adresse <St. Moritz (>Graubünden) <Schweiz>, poste restante. — Die Correktur ist beendet; oder was etwa noch zu thun ist, geht einzig Herrn Köselitz an. —
Ich vermuthe, Sie haben Sich insgeheim geschworen, dies solle die letzte Schrift sein, die Sie von mir verlegen. In der That, ich passe nicht mehr in Ihre Wagner-Schopenhauer-Dühring- und sonstige Partei-Litteratur hinein. — Aber deshalb brauchen wir uns nicht böse zu sein! Ich bleibe mit herzlichen Wünschen immer der Ihrige
F.N.
118. An Ernst Schmeitzner in Bautzen
<Recoaro, 21. Juni 1881>
Roux, der Kampf der Theile im Organismus
(W. Engelmann, Leipzig)
Schüssler, eine abgekürzte Therapie 7 Aufl.
(Schulze, Oldenburg)
Kaltbrunner, der Beobachter (die erschienenen Lieferungen)
(Wurster, Zürich)
Kunze, Compendium der praktischen Medicin
(F. Emke, Stuttgart)
Johnston, Chemie des täglichen Lebens (die erschienenen Lieferungen)
(Krabbe, Stuttgart)
Foster, Lehrbuch der Physiologie
(C. Winter, Heidelberg oder Leipzig)
Horneman, Hygienische Abhandlungen
(Vieweg, Braunschweig)
Katscher, Bilder aus dem chinesischen Leben
(C. F. Winter, Leipzig)
Caspari, Zusammenhang der Dinge
(Trewendt, Breslau)
Post, Bausteine für eine allg. Rechtswissenschaft
(Schulze, Oldenburg)
Buckle, Essays
(C. F. Winter, Leipzig)
Wollen Sie, werthester Herr Verleger, die Güte haben und mir diese Bücher umgehend bestellen? Und in einem Holzkistchen alle zusammen nach St. Moritz (Graubünden) senden? Sehr verbunden
Prof. Dr. Nietzsche.
119. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Recoaro, 23. Juni 1881>
Mein lieber Freund, hier sind Nachrichten — gute Nachrichten von Dr. Rée.
In Betreff des Herrn Rascovicz schrieb mir meine Schwester vorgestern, auf welche sinnreiche und delikate Manier sie Frau v. W<öhrmann> das Gedächtniß in diesem Punkte geschärft habe. Weder ich, noch sie haben eine Minute Zeit in dieser Angelegenheit versäumt — und doch scheint es zu spät gewesen zu sein.
Wenn das Exemplar der Morgenröthe in Ihre Hände kommt, so erweisen Sie mir noch eine Ehre: gehen Sie mit demselben auf einen Tag nach dem Lido, lesen Sie es als Ganzes und versuchen Sie ein Ganzes für sich daraus zu machen — nämlich einen leidenschaftlichen Zustand. Wenn Sie das nicht thun, so thut es Niemand. —
Jene hundert frs., mein lieber alter Vergeßlicher, haben Sie mir längst abgetragen, in Gestalt von zahllosen Porti, Papierauslagen und was sonst zum Zustandekommen meiner Schriften nöthig war. Verzeihung, daß ich daran erinnere! —
Es bleibt doch bei dem Engadin — denn von meinen vielen Versuchen in der Schweiz (vielleicht 20—30) ist der Engadiner der einzige leidlich gelungene. Es ist schwer für meine Natur das Rechte in der Höhe und Tiefe zu finden, im Grunde ist es ein Tasten, es sind Faktoren dabei, die sich nicht streng fassen lassen (z. B. die Elektricität der ziehenden Wolken und die Wirkungen der Winde: ich bin überzeugt, daß achtzigmal von 100 ich diesen Einflüssen meine Qualen zu danken habe.) Wo ist das Land mit viel Schatten, ewig reinem Himmel, gleichem kräftigen Meerwinde von Morgen bis Abend, ohne Wetter-Umschläge? Dahin, dahin — will ich — ziehn! Sei es auch außer Europa!
Recoaro ist, als Landschaft, eine meiner schönsten Erfahrungen, ich bin seiner Schönheit recht nachgelaufen und habe viel Mühe und Eifer verwendet. Die Schönheit der Natur ist, wie jede andere, sehr eifersüchtig und will, daß man ihr allein diene.
Doch kam ab und zu Ihre Musik dazwischen, wie der beste Traum, den ich seit langem geträumt habe.
Treulich Ihr Freund N.
Adresse: St. Moritz in Graubünden (Schweiz) poste restante.
120. An Erwin Rohde in Tübingen (Postkarte)
<Sils-Maria> d. 4. Juli 1881.
Nun, alter lieber Getreuer, hier kommt alter ego, und Du kannst Dich nach Herzenslust mit mir unterhalten, mit mir zanken, grollen, glücklich sein und über alle Wolken hinausblicken. Es wäre schlimm, wenn es nicht gerade ein Buch für Dich wäre — ich wüßte sonst gar nicht mehr, wie ich es auf Erden noch dazu bringe, Jemandem eine Freude zu machen. Du hast darin alle meine Ingredienzien; laß bei Seite, was Dir wehe thut und nimm alles zusammen, was Dir, gerade Dir Muth macht. Anders weiß ich auch nicht für Deinen reichen und edelherzigen Brief dankbar zu sein — ich muß alle Viertelstunden, welche mir Kopf und Augen frei geben, im Dienste einer großen Aufgabe verwenden, und ich träume in meiner Seele immer davon, eben so auch am besten meinen Freunden zu dienen. Behalte mich lieb!
Dein F. N.
Sils-Maria (Engadin) Schweiz poste restante.
121. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Sils-Maria, 7. Juli 1881>
So habe ich mich denn wieder nach dem Engadin hindurchgerettet, und mein erster Brief von hier aus soll an Dich sein, meine liebe Schwester und Dir meine Geburtstags-Wünsche und -Herzlichkeiten überbringen. Sehr gerne wäre ich auf Deinem Geschenktischchen vertreten — und dafür bitte ich Dich nun selber zu sorgen, nach Deinem Geschmacke und in meinem Namen. Was ist Dir aber zu wünschen? — ich weiß es nicht recht und finde überhaupt von Jahr zu Jahr mehr, daß man, was man hat, nützen und ausnützen soll (selbst sein Schlimmes, wie eine schlechte Gesundheit) und sich des Wünschens lieber enthalten sollte: die Dinge, die man so begehrt, halten zuletzt, wenn man sie bekommt, nicht, was sie versprochen haben. Dies Alles sind freilich Theorien, die zu meinem Leibe und Leben mehr passen als zu dem Deinen; blase sie also ruhig in den Wind, wenn sie Dir nicht gefallen. Ich für meinen Theil wünsche mir nichts mehr: weiß ich doch kaum, wie ich mit dem fertig werden soll, was ich habe. Dies ist dunkel geredet, aber nicht dunkel gedacht. —
Es war eine böse und gefährliche Zeit, ich bin aus Recoaro kaum mit dem Leben davon gekommen. Die Anfälle kamen jeden Tag, alle bösen Complikationen zeigten sich (Erbrechen u.s.w.) — und trotzdem schien Alles so günstig wie möglich eingerichtet (Diät Bewegung Ruhe schöne und erhabne Gebirgsnatur, Alleinsein u. s. w.) Aber mit den Orten ist es jetzt bei mir ein reines Experimentiren, an den meisten gehe ich zu Grunde — es kommen Bedingungen in Betracht, die eben nur bei meiner Art von Natur so entscheidend sind (die der atmosphärischen Elektricität); darauf hin muß ich die Orte ausprobiren. Basel Naumburg Genf Baden-Baden, fast alle Gebirgsorte, die ich kenne, Marienbad, die italiänischen Seen u. s. w. sind Orte zum Zugrundegehen. Der Winter am Meere ist erträglich, das Frühjahr (Sorrent und Genua) fortwährendes Leiden (wegen der unstäten Bewölkung) So oft mir nur einfällt, wie fürchterlich und hart ich die letzten 2 Jahre wieder zugebracht habe, selbst wenn es in aller Geduld geschah, so kann ich hier die Thränen nicht zurückhalten. Hier im Engadin ist mir bei weitem am wohlsten auf Erden: zwar die Anfälle kommen hierher wie überall hin, aber viel milder und menschlicher. Ich habe eine fortwährende Beruhigung und keinen Druck, wie sonst überall; die Aufregung hört hier für mich auf. Ich möchte alle Menschen bitten „erhaltet mir nur die 3, 4 Monate Engadiner Sommer, sonst kann ich wirklich das Leben nicht länger ertragen“. Wie unvernünftig, im vorigen Sommer nach Marienbad zu gehen, mir den Magen zu verderben und eine allgemeine Schwächung zu holen (durch die purgirende Wirkung dieser Wasser) Als ob ich Kraft fahren lassen dürfte und auf diesem Wege! Verzeihung!
Ich hatte auf der Reise das Unglück, daß ein Zug seinen Anschluß verfehlte; alle meine Pläne geriethen in Verwirrung, meine Gesundheit auch, die Reise dauerte schließlich noch einmal so lang und kostete auch noch einmal so viel. St. Moritz stieß mich heftig zurück, ich hielt es kaum 3 Stunden dort aus, dann nahm ich die Post. All das Elend, das ich dort durchgemacht habe, trat vor mich, es war alles wie mit meinen Schmerzen bewölkt. Trotzdem: es ist der Ort, dem ich es verdanke, daß ich noch lebe. Die Preise waren nicht geringer geworden, für ein einfaches Zimmer wollte man überall 90—180 frs. monatlich.
Am Abend des ersten Tages fürchtete ich das Engadin verlassen zu müssen. Am andern Tag kam Hülfe; ein junger Engadiner, mit dem ich eine Nacht gereist war, bemühte sich in uneigennütziger Weise um mich und hat mir ein stilles Plätzchen ausgemittelt, an dem ich gerne bis ans Ende sitzen bleiben möchte: aber der Engadiner Sommer ist so kurz, und Ende September will ich wieder nach Genua zurück. Ich habe es noch nie so ruhig gehabt, und die Wege, Wälder, Seen, Wiesen sind wie für mich gemacht; und die Preise sind nicht außer allem Verhältniß zu meinen Mitteln. Der junge Mann kam aus Neapel, um sein Hôtel im Sommer zu führen, bei ihm esse ich zu Mittag (allein, wie natürlich) Der Ort heißt Sils-Maria; bitte, haltet den Namen vor meinen Freunden und Bekannten geheim, ich wünsche keine Besuche. Briefe erbitte ich mir mit dieser Adresse: „Silvaplana (Engadin) Schweiz poste restante.“
Und unsrer guten Mutter habe ich noch nicht einmal für ihren schönen Reise-Brief gedankt! —
Sende mir, liebe Schwester, 2 Bücher aus dem Schranke, jedes unter Kreuzband. 1) Dühring, Cursus der Philosophie (das ist zum Lachen für mich) und 2) Carey, Volkswirtschaftslehre (uneingebunden, dick)
Und nun tapfer weiter, meine gute Lisbeth — wie es Dein Bruder auch thun wird. Sei unverzagt!
F.N.
122. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Sils-Maria, 8. Juli 1881>
Liebster Freund, das war eine gefährliche Zeit; kaum bin ich von R<ecoaro> fortgekommen! — Auf der Reise verfehlte ein Zug seinen Anschluß: Verdoppelung der Reisezeit und Reisekosten war das Resultat. Ihr Brief war der erste Gruß im Engadin! St. Moritz stieß mich heftig zurück, es erschien mir unter der Krystallisation meiner dortigen Leiden vor 2 Jahren. Nach 3 Stunden verließ ich es, am Abend wollte ich sogar das E<ngadin> verlassen! Zuletzt bin ich, dank einem ernsten und liebenswürdigen Schweizer, mit dem ich die Nacht durch reiste und der aus Neapel in seine Heimat zurückkehrte, in dem lieblichsten Winkel der Erde untergebracht worden: so still habe ich’s nie gehabt, und alle 50 Bedingungen meines armen Lebens scheinen hier erfüllt zu sein. Ich nehme diesen Fund hin als ein ebenso unerwartetes wie unverdientes Geschenk, gleich Ihrer herrlichen Musik, die hier, in dieser ewigen heroischen Idylle, noch schöner in’s Herz geht als da unten. — Ich erhebe mich eben von einem dreitägigen Anfall (Gewitter). Treulich
Ihr Freund FN.
Sils-Maria (Engadin)Schweiz poste restante.
123. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Sils-Maria, 8. Juli 1881>
Mein lieber Freund, ich bin wieder im Engadin. Die ganze letzte Zeit äußerst schmerzhaft und gefährlich, ich dachte nicht lebendig aus R<ecoaro> fortzukommen. Das Engadin hat mich vor 2 Jahren im Leben festgehalten und wird es auch diesmal thun, ich habe es nirgends besser. — Ich hätte gern ein paar Bücher von der Biblioth<ek> oder Lesegesellsch<aft>, nämlich die zwei Bände Hellwald, 1) Culturgeschichte, 2) die Erde und ihre Bewohner. (Er kennt die neueste Litteratur der Historie, Reisen usw.) Sodann den Band Kuno Fischer’s über Spinoza. — Schmeitzner (der mir den Geldempfang gemeldet hat) wird Dir mein Buch geschickt haben; Verzeihung, es war nicht möglich 2 Exemplare, wie ich wünschte, zu senden. Zudem muß ich leider noch hinzufügen, daß es durchaus kein Buch zum Vorlesen ist, sondern im Superlativ ein einsames Buch sein will. — Wie erquickt es mich, von der Förderung Deiner „christl<ichen> Litteratur-Genesis“ zu hören! Wie viele Fragen habe ich dafür bereit! — Der grüne Heinrich ist mir für meinen (im Grunde pathetischen) Zustand ein wenig zu miniaturenhaft und bunt: aber es ist ein Ausbund von Poesie und Schelmerei, vielleicht sogar von Ernst.
Dein treuer Freund
F.N.
124. An Paul Rée in Stibbe (Postkarte)
<Sils-Maria, 8. Juli 1881>
So wollen wir’s nur fort treiben! Am Ende, mein lieber tapferer Freund, sind wir doch ein Paar tüchtige Schwimmer. Alle Welt hält uns schon für ertrunken, aber da tauchen wir immer wieder auf und bringen sogar aus der Tiefe etwas mit herauf, was, wie wir meinen, Werth hat und vielleicht auch einmal für Andre Glanz bekommen wird. Ich habe gerade auch eine gefährliche Zeit hinter mir und bin wieder im Engadin angelangt, meiner alten Rettungsstätte: „des Leibes noch nicht ledig“ und was die Seele betrifft, so lesen Sie das Buch, welches unser Verleger Ihnen zusenden wird. Mir ist mitunter als ob ich als Längst-Gestorbener mir die Dinge und Menschen anschaute — sie bewegen, erschrecken und entzücken mich, ich bin ihnen aber ganz ferne. Der auf ewig Abhandengekommene und doch gerade
Ihnen so Nahe: —
In Treue F.N.
125. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Sils-Maria, um den 9. Juli 1881>
Meine liebe Mutter,
ich betrübe mich sehr über Deinen und unsern Verlust! Es war ein so sanftmüthiger und braver Mensch, unser Theobald, streng gegen sich und doch kein Fanatiker; ich hielt ihn für den besten unter den Oehlers. Wer weiß, ob nicht an seinem Nervenleiden, noch mehr als seine Theologie, die Quacksalberei seines Schwiegervaters den Hauptantheil hat! Er hat den Tod dem Irrenhause vorgezogen und wahrscheinlich klug daran gethan. Wir werden immer seiner mit Rührung gedenken.
Nun noch ein Wort von mir, zur Beruhigung. Ich mache mir Vorwürfe über meine Thorheit, Euch meine kurzen Gesundheits-Kärtchen und nichts weiter zu schicken: — so müßt Ihr einen falschen Eindruck von mir gewinnen. Nie gab es einen Menschen, auf den das Wort „niedergedrückt“ weniger gepaßt hätte. Meine Freunde, die mehr von meiner Lebensaufgabe und deren unaufhaltsamer Förderung errathen, meinen, ich sei wenn nicht der Glücklichste so jedenfalls der Muthigste der Menschen. Ich habe Schwereres auf mir als meine Gesundheit und werde damit fertig, auch dies zu tragen. Mein Aussehen ist übrigens vortrefflich, meine Muskulatur in Folge meines beständigen Marschirens fast die eines Soldaten, Magen und Unterleib in Ordnung. Mein Nervensystem ist, in Anbetracht der ungeheuren Thätigkeit die es zu leisten hat, prachtvoll und der Gegenstand meiner Verwunderung, sehr fein und sehr stark: selbst die langen schweren Leiden, ein unzweckmäßiger Beruf und die fehlerhafteste Behandlung haben ihm nicht wesentlich geschadet, ja im letzten Jahre ist es stärker geworden, und, Dank ihm, habe ich eines der muthigsten und erhabensten und besonnensten Bücher hervorgebracht, welche jemals aus menschlichem Gehirne und Herzen geboren sind. Selbst wenn ich mir in Recoaro das Leben genommen hätte, so wäre einer der ungebeugtesten und überlegtesten Menschen gestorben, nicht ein Verzweifelnder. Mein Gehirnleiden ist sehr schwer zu beurtheilen, in Betreff des wissenschaftlichen Materials, welches hierzu nöthig ist, bin ich jedem Arzte überlegen. Ja es beleidigt meinen wissenschaftlichen Stolz, wenn Ihr mir eurerseits neue Kuren vorschlagt und gar meint, ich „ließe meine Krankheit laufen“. Vertraut mir doch ein wenig mehr auch hierin! Bis jetzt bin ich erst 2 Jahre in meiner Behandlung, und wenn ich Fehler gemacht habe, so lag es immer daran, daß ich dem eifrigen Zureden Anderer endlich nachgegeben habe und Versuche machte. Dahin gehört der Aufenthalt in Naumburg, in Marienbad u.s.w. Jeder verständige Arzt hat mir übrigens eine Genesung erst nach einer längeren Reihe von Jahren in Aussicht gestellt, und vor allem muß ich die schweren Nachwirkungen los zu werden suchen, von allen jenen falschen Methoden her, nach denen ich so lange Zeit behandelt worden bin. Seid mir ja nicht böse, wenn ich Eure Liebe und Theilnahme in diesem Punkte zurückzuweisen scheine. Aber ich will durchaus mein eigner Arzt nunmehr sein, und die Menschen sollen mir noch nachsagen, daß ich ein guter Arzt gewesen sei — und nicht nur für mich allein. — Immerhin gehe ich noch vielen, vielen Leidenszeiten entgegen; werdet nicht darüber ungeduldig, ich bitte Euch von Herzen! Dies macht mich ungeduldiger als meine Leiden selber, weil es mir zeigt, daß meine nächsten Verwandten so wenig Glauben an mich haben.
So viel heute und Ein-für-alle-Mal! Schon viel zu viel für meine Augen!
Wer im Geheimen zusehen könnte, wie ich die Rücksichten auf meine Genesung mit der Förderung meiner großen Aufgaben zu verknüpfen weiß, der würde mir keine geringe Ehre zollen. Ich lebe nicht nur sehr muthig, sondern im höchsten Maaße vernünftig und unterstützt von einem reichen medicinischen Wissen und unablässigen Beobachten und Forschen.
Von ganzem Herzen und mit der Bitte,
mir nichts übel zu deuten
Euer Sohn und Bruder.
Schreibt mir gute Dinge hier hinauf, wo ich über der Zukunft der Menschheit brüte, und lassen wir alles das kleine persönliche Leiden und Sorgen bei Seite. Auch eine äußerst delikate Wurst würde zu den guten Dingen gehören.
126. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Sils-Maria, 13. Juli 1881>
Den herzlichsten Dank, meine liebe gute Mutter, für Deinen Brief! Er that mir recht wohl! Ja so klingt es wahrscheinlicher: der arme Th<eobald> hat im Zustande der Gemüthserregung ein Bad nehmen wollen (um sich zu beruhigen), und dabei traf ihn der Schlag. Das kommt oft, oft vor! — Hoffentlich hat mein Brief Dir wenigstens den Trost verschafft, daß Dein alter Sohn noch ziemlich tapfer durch’s Leben geht. —
Zwei zweitägige Anfälle bisher im Engadin.
Wenn die Wurst Ende nächster Woche eintrifft, so wäre es die beste Zeit! Dann bitte ich um 1) 1 Paar wollne Strümpfe, 2) einen Handschuh (gestrickt) zum Waschen (wie das gute Lama mir sie zu machen pflegt) (ich meine zu meinem Bade morgens) und 3) endlich ein Paar schwarze gestrickte recht lange Handschuh mit einem Daumen. Bitte bitte!
Fr.
127. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Sils-Maria, 13. Juli 1881>
Verzeihung, mein lieber guter Freund! Ja die Barbarei meiner Handschrift, die niemand mehr lesen kann, ich auch nicht! (Weshalb lasse ich meine Gedanken drucken? damit sie für mich lesbar werden. Verzeihung auch dafür!) — Also:
Sils (Engadin) poste restante.
Es giebt nämlich in Graubünden noch ein Sils.
Eben von einem heftigen zweitägigen Anfalle zum Lichte erwachend und wieder an’s Leben glaubend
Treulich Dein und Euer
F.N.
128. An Marie Bautngartner in Lörrach
<Sils-Maria, 15. Juli 1881>
Liebe verehrte Frau Baumgartner, hier kommt wieder einmal ein geschriebenes Wörtchen von mir zu Ihnen, und als Vorläufer oder Mitläufer eines gedruckten Wortes, für das ich um alle Ihre Theilnahme bitten möchte: — Besseres und Persönlicheres habe ich nicht mitzutheilen, und das alte Lied meiner körperlichen Nothzustände möchte ich wahrhaftig nicht mehr vor Ihnen absingen. Jeder hat zu tragen: verlernen wir über dem Tragen und Schwertragen auch das Auffliegen und Weit-Hinausschauen nicht! Es verträgt sich nicht so übel mit einander! Es giebt viele Mittel, um stark zu werden und starke Flugschwingen zu bekommen: Entbehrung und Schmerzen gehören dazu, es sind Mittel im Haushalte der Weisheit. Über allem Jammer immer wieder ein Lied der Freude — nicht wahr, das ist das Leben! Das kann es sein! Treulich
F.N.
Ich denke an Sie und die Ihrigen, namentlich an Ihren Gelehrten, mit dem herzlichsten Danke.
129. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Sils-Maria, 19. Juli 1881>
Meine liebe Mutter und Schwester, allen Euren guten Briefen folgt nun auch die gute Wurst nach, leider zerbrochen und durch die große Hitze etwas ausgedörrt (Ich würde vorschlagen, derlei Langes zwischen 2 glatte Hölzer zu packen) Die andern gewünschten Sachen schickt jetzt noch nicht — später, wenn vielleicht wieder einmal eine schöne Wurst mitzuschicken ist (und ebenso, zum Vorrath, für 5 Sgr. „abführende Pillen“ aus der Tuchenschen (Herrenstr.) Apotheke; die italiänischen thun mir nicht so gut; hier habe ich dergleichen nicht nöthig oder doch nur nach den Anfällen)
Bis jetzt 4 zwei- bis dreitägige Anfälle (mit langem Erbrechen: jedesmal Gewitter im Spiel oder Gewitterwolken) heute bin ich sehr matt, aber froh — der vierte ist eben vorüber.
Es ist für die Engadiner Begriffe unsäglich heiß. Wo bleiben die erbetenen Bücher? Wie sieht denn mein Buch aus? Mein Verleger, gegen mich taktlos und nachlässig — ich bin seiner müde und er vielleicht meiner — beehrt mich nicht mit einem Exemplar. Von Herzen Eurer gedenkend
F.
Adresse nunmehr: Sils (Engadin, Schweiz)
130. An Ferdinand Laban in Pressburg
Sils <Engadin, Schweiz> 19 Juli 1881
Ihr Gesang, werther Herr, geht mir so nahe und thut mit so wohl, daß ich alles Recht verliere, ihn zu loben. Zumal da ich annehme, Sie machen es jenen älteren Musikern gleich, welche ihre heitere lebenfunkelnde Symphonie mit einem ernsten schwermüthigen Satze wie mit einer Morgendämmerung beginnen: — sie waren darin Schelme. Und vielleicht haben Sie eben auch nur ein Vorspiel uns geben wollen, daß uns ein wenig irre leiten soll? Denn zuletzt, lieber Herr, sind wir Beide doch wohl Einer Meinung, über diesen Einen Punkt: daß sich auch jetzt noch der Bogen des Lebens so straff spannen lasse, daß die Sehne der Begierde singt und pfeift? daß wir auch jetzt noch so stolz und darüber-hinsehend leben können, wie jener herrliche römische Kaiser, in dessen Verehrung wir Beide einmüthig sind (lesen Sie doch zum Beweise dafür meine jüngst erschienene „Morgenröthe“ — ich kann sie Ihnen leider nicht schicken) Dankbar der Ihrige
F.N.
131. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Sils-Maria, Mitte Juli 1881>
Meine liebe Schwester
Du hast in so vielen Stücken über mich Recht, daß ich von Herzen wünsche, Du mögest auch über Dich selber immer Recht haben und das Dir Zuträglichste beschließen. Ich denke, Du wirst über den Irrthum vieler Mädchen hinaus sein, welche ihren Zug zur Zurückgezogenheit und Unabhängigkeit auf dem Wege der Ehe zu befriedigen denken; das Ergebniß ist gewöhnlich ganz wider Erwarten das Umgekehrte, von den seltensten Ausnahmen abgesehen. Dein Leben in Pforta gefällt mir sehr. Sieh Dich nur reichlich um, wo Ort, Menschen und Thätigkeit (Klima nicht zu vergessen) gerade für Dich gemacht zu sein scheinen. So denke ich für meinen Theil auch, und müßte ich selber darüber Europa verlassen. Denn alles, was wir leiden, müssen nicht nur wir, sondern das muß die andre Menschenwelt tragen — sehen wir also zu, so wenig wie möglich zu leiden.
Ich werde Dich schwerlich abhalten können, meine „Morgenröthe“ zu lesen; so dachte ich über ein Mittel nach, auch dies für Dich und mich zum Besten zu wenden. Lies das Buch also, wenn ich bitten darf, unter einem Gesichtspunkt, den ich allen andern Lesern gerade widerrathen würde, aus einem ganz persönlichen Sehwinkel (Schwestern haben zuletzt auch Privilegien) Suche alles heraus, was Dir verräth, was im Grunde Dein Bruder am meisten braucht, am meisten nöthig hat, was er will und was er nicht will. Lies dazu namentlich das fünfte Buch, wo vieles zwischen den Zeilen steht. Wohin alles bei mir noch strebt, ist nicht mit Einem Worte zu sagen — und hätte ich das Wort, ich würde es nicht sagen. Es kommt auf günstige aber ganz unberechenbare Umstände an. Meine guten Freunde (und Jedermann) wissen eigentlich nichts über mich und haben auch wohl noch nicht nachgedacht; ich selber war immer sehr schweigsam über alle meine Hauptsachen, ohne daß es doch so erschien.
Versorge mich, mein liebes Lama, doch mit schönen Notizbüchern und lege eine Werkstatt dazu an — ich brauche jährlich mindestens 4; feinstes, sehr starkes Papier (weiß), ungefähr 100 Blätter in jedem Buche. Wenn Du von Menschen hörst, die etwas mir zu Gefallen thun wollen — heiße sie Notizbücher machen. Der Zustand, in dem ich in Bezug hierauf lebe, ist schmachvoll. Anbei das Format. Ja nicht größer!
In herzlicher Liebe und mit den besten Grüßen an unsre Mutter. Die Wurst ist doch sehr schön.
Dein Bruder.
132. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Sils-Maria, 21. Juli 1881>
Mir fiel ein, lieber Freund, daß Ihnen an meinem Buche die beständige innerliche Auseinandersetzung mit dem Christenthume fremd, ja peinlich sein muß; es ist aber doch das beste Stück idealen Lebens, welches ich wirklich kennen gelernt habe, von Kindesbeinen an bin ich ihm nachgegangen, in viele Winkel, und ich glaube, ich bin nie in meinem Herzen gegen dasselbe gemein gewesen. Zuletzt bin ich der Nachkomme ganzer Geschlechter von christlichen Geistlichen — vergeben Sie mir diese Beschränktheit! —
Frau Lucca: ein sehr guter Gedanke! Sie kann sprechen und Possen machen. Auch mich hat sie einmal entzückt, vor nunmehr 18 Jahren. Sollte sie jung genug sein? —
Bei der Art, wie Sie Ihre Partitur machen, bin ich voll stiller Hochachtung für Sie und sehe zu, wie ich einem guten Goldschmiede zusehe. Täuschen Sie sich nicht über meine Empfindung!
Hier, auch hier giebt es für mich zu leiden; bisher 4 schwere zwei- oder dreitägige Anfälle. Der Sommer ist für die Engadiner zu heiß; ich wage gar nicht an Venedigs Sommer dabei zu denken.
Hr. Schmeitzner hat vergessen, mir mein Buch zu senden; ich bin seiner satt. (Aber er hat all meine Ersparnisse!)
In treuem Gedenken der Ihre
F. N. in Sils.
133. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Sils-Maria, 23. Juli 1881>
Es freut mich sehr, mein lieber Freund, daß auch in dieser Angelegenheit unsre Freundschaft Stand hält, ja sich neu besiegelt hat — ich denke mitunter mit Bangniß an alle die Feuer- und Kälteproben, denen die mir liebsten Menschen durch meine „Unumwundenheit“ ausgesetzt werden. Was das Christenthum betrifft, so wirst Du mir wohl das Eine glauben: ich bin in meinem Herzen nie gegen dasselbe gemein gewesen und habe mir von Kindesbeinen an manche innerliche Mühe um seine Ideale gegeben, zuletzt freilich immer mit dem Ergebniß der puren Unmöglichkeit. — Auch hier habe ich viel zu leiden, der Sommer ist diesmal heißer und elektricitätsreicher als gewöhnlich, zu meinem Nachtheil. Trotzdem weiß ich mir nichts meiner Natur Angemesseneres als dies Stück Ober-Erde. — Frau Baumgartner hat mir sehr gut und herzlich geschrieben. — Ich selber bin noch nicht im Besitz meines Buches. — Hellwald mit Dank empfangen; es ist ein Compendium einer Gattung von Meinungen.
Dir und Deiner lieben Frau von Herzen zugethan
F.N.
Ich weiß absolut nicht mehr, mit welchen Ansichten ich noch wohlthue, mit welchen ich wehe thue.
134. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Sils-Maria, 30. Juli 1881>
An diesem unerwarteten Kästchen habe ich großes Vergnügen gehabt, meine liebe Mutter und Schwester! Gerade nach diesen Dingen hatte ich rechtes Verlangen; meine Kost, die sich nach der Decke strecken muß, ist hier sehr gut, aber wesentlich fleischig. Es fehlten mir gut-gewürzte süße Sachen. Der Handschuh ist schon im Gebrauche.
Mein Befinden aber bleibt übel: diese schreckliche Unbeständigkeit des Himmels, diese Wolken selbst im Engadin! Schon 3 schwere Anfälle durchgemacht! Und dazwischen immer etwas elend. Es ist ein Ausnahme-Wetter hier.
Das Schmeitznersche Buch ist nun auch in meinen Händen.
Die Wurst ist so mild und rein von Geschmack. Aber keine Birnen schicken, meine liebe Mutter, ich danke Dir!
Euer Sohn und Bruder.
135. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Sils-Maria, 30. Juli 1881>
Ich bin ganz erstaunt, ganz entzückt! Ich habe einen Vorgänger und was für einen! Ich kannte Spinoza fast nicht: daß mich jetzt nach ihm verlangte, war eine „Instinkthandlung“. Nicht nur, daß seine Gesamttendenz gleich der meinen ist — die Erkenntniß zum mächtigsten Affekt zu machen — in fünf Hauptpunkten seiner Lehre finde ich mich wieder, dieser abnormste und einsamste Denker ist mir gerade in diesen Dingen am nächsten: er leugnet die Willensfreiheit —; die Zwecke —; die sittliche Weltordnung —; das Unegoistische —; das Böse —; wenn freilich auch die Verschiedenheiten ungeheuer sind, so liegen diese mehr in dem Unterschiede der Zeit, der Cultur, der Wissenschaft. In summa: meine Einsamkeit, die mir, wie auf ganz hohen Bergen, oft, oft Athemnoth machte und das Blut hervorströmen ließ, ist wenigstens jetzt eine Zweisamkeit. — Wunderlich! Übrigens ist mein Befinden gar nicht meinen Hoffnungen entsprechend. Ausnahmewetter auch hier! Ewiges Wechseln der atmosphärischen Bedingungen! — das treibt mich noch aus Europa! Ich muß reinen Himmel monatelang haben, sonst komme ich nicht von der Stelle. Schon 6 schwere, zwei- bis dreitägige Anfälle!! — In herzlicher Liebe
Euer Freund.
136. An Heinrich Köselitz in Venedig
Sils-Maria den 14 August 1881.
Nun, mein lieber guter Freund! Die Augustsonne ist über uns, das Jahr läuft davon, es wird stiller und friedlicher auf Bergen und in den Wäldern. An meinem Horizonte sind Gedanken aufgestiegen, dergleichen ich noch nicht gesehn habe — davon will ich nichts verlauten lassen, und mich selber in einer unerschütterlichen Ruhe erhalten. Ich werde wohl einige Jahre noch leben müssen! Ach, Freund, mitunter läuft mir die Ahnung durch den Kopf, daß ich eigentlich ein höchst gefährliches Leben lebe, denn ich gehöre zu den Maschinen, welche zerspringen können! Die Intensitäten meines Gefühls machen mich schaudern und lachen — schon ein Paarmal konnte ich das Zimmer nicht verlassen, aus dem lächerlichen Grunde, daß meine Augen entzündet waren — wodurch? Ich hatte jedesmal den Tag vorher auf meinen Wanderungen zuviel geweint, und zwar nicht sentimentale Thränen, sondern Thränen des Jauchzens; wobei ich sang und Unsinn redete, erfüllt von einem neuen Blick, den ich vor allen Menschen voraus habe.
Zuletzt — wenn ich nicht meine Kraft aus mir selbst nehmen könnte, wenn ich auf Zurufe Ermuthigungen Tröstungen von außen warten müßte, wo wäre ich! was wäre ich! Es gab wahrhaftig Augenblicke und ganze Zeiten meines Lebens (z. B. das Jahr 1878), wo ich einen kräftigenden Zuspruch, einen zustimmenden Händedruck wie das Labsal aller Labsale empfunden hätte — und gerade da ließen mich alle im Stich, auf welche ich glaubte mich verlassen zu können und die mir jene Wohlthat hätten erzeigen können. Jetzt erwarte ich’s nicht mehr und empfinde nur ein gewisses trübes Erstaunen, wenn ich z. B. an die Briefe denke, die ich jetzt bekomme — alles ist so unbedeutend, keiner hat etwas durch mich erlebt, keiner sich einen Gedanken über mich gemacht — es ist achtbar und wohlwollend, was man mir sagt, aber ferne, ferne, ferne. Auch unser lieber Jacob Burckhardt schrieb so ein kleinlautes verzagtes Brieflein.
Dagegen nehme ich es als Belohnung auf, daß dies Jahr mir zweierlei zeigte, das zu mir gehört und mir innig nahe ist — das ist Ihre Musik und diese Landschaft. Das ist keine Schweiz, kein Recoaro, etwas ganz Anderes, jedenfalls etwas viel Südlicheres, — ich müßte schon nach den Hochebenen von Mexiko am stillen Ozeane gehen, um etwas Ähnliches zu finden (z. B. Oaxaca) und da allerdings mit tropischer Vegetation. Nun, dies Sils-Maria will ich mir zu erhalten suchen. Und ebenso empfinde ich für Ihre Musik, aber weiß gar nicht, wie ihrer habhaft werden! Notenlesen und Klavierspielen habe ich aus meinen Beschäftigungen ein- für allemal streichen müssen. Die Anschaffung einer Schreibmaschine geht mir im Kopf herum, ich bin in Verbindung mit ihrem Erfinder, einem Dänen aus Kopenhagen.
Was machen Sie im nächsten Winter? Ich nehme an, daß Sie in Wien sein werden? Aber für den darauf folgenden Winter wollen wir uns eine Zusammenkunft ausdenken, wenn auch nur eine kurze — denn ich weiß jetzt wohl, daß ich nicht zu Ihrem Umgange tauge und daß es Ihnen freier und fruchtbarer zu Muthe ist, wenn ich wieder fortgeflogen bin. Mir liegt andererseits an der immer größeren Befreiung Ihres Gefühls und an dem Erwerbe eines innigen und stolzen Zu-Hause-seins, in summa an Ihrem glücklichen allerglücklichsten Schaffen und Reifwerden so unbeschreiblich viel, daß ich mich in jede Lage leicht finden werde, welche aus den Bedingungen Ihrer Natur erwächst. Ich habe nie gegen Sie irgend welche häßlichen Gefühle, vertrauen Sie darauf, lieber Freund! —
Sagen Sie mir noch beiläufig, wie man jetzt deutsches M<ark> Papiergeld in Italien verkauft (für ital<ienisches> Papier), ich meine, was der Cours ist.
Die Adresse von Fräulein von Meysenbugk habe ich auch nicht im Kopfe; jetzt wird sie wohl mit Monods irgendwo zusammen sitzen, ich meine, Hr. Schm<eitzner> mag das Exemplar nach Paris schicken. — Mit Hrn. Schm<eitzner> ist alles auf’s schonendste ausgeglichen; ich habe mir vorgenommen, ihn nicht dafür leiden zu lassen, daß ich auf voreilige Schlüsse hin manches von ihm erwartete, was nicht zu seiner Natur gehört.
In herzlicher Freundschaft und Dankbarkeit
Ihr F. N.
(Ich bin viel krank gewesen.)
137. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Sils-Maria, 18. August 1881>
Meine gute Mutter, seit der so angenehmen Sendung, für welche ich mich sofort bedankt habe, hörte ich nichts mehr von Dir, auch unser Lama bekam damals einen Brief von mir, aber hat nicht geantwortet. Überhaupt hat seit einem Monat keine Menschenseele an mich geschrieben. Oft krank gewesen, heute gerade erhebe ich mich von einem Anfalle. Sehr unruhiges Wetter. Wie vermisse ich in dieser Schneeluft die warmen Handschuhe! Wurst sende mir ja nicht mehr, ich habe Mittags Fleisch und möchte nicht mehr Fleisch essen. Aber bitte, einen Docht für die Spirit<us> Lampe, ein Kämmchen (mit Bürste) für die Tasche, etwas alte Leinwand für Wunden, dann Zwirn und Nadeln. Und sehr ist alles Süße hier oben von mir geschätzt, z. B. die guten Pfefferkuchen (das einzig Preiswürdige, was ich in Naumburg kenne) Ja! Und ein starkes Schreibheft, in gewöhnlichem Quartformat, gutes Papier, und Linien (in dieser Entfernung
Verzeihung!
In herzlicher Liebe
F.
138. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Sils-Maria, 18. August 1881>
Meine gute Lisbeth, ich bringe es nicht über’s Herz, Herrn Dr Ree abzutelegraphiren: obwohl ich Jedermann, der meinen Engadiner Arbeits-Sommer d. h. die Förderung meiner Aufgabe, meines „Eins ist noth“, unterbricht, als meinen Feind betrachte. Ein Mensch mitten hinein in das von allen Seiten aufschießende Gewebe meiner Gedanken — das ist eine furchtbare Sache; und kann ich meine Einsamkeit nicht fürderhin sicher stellen, so verlasse ich Europa auf viele Jahre, ich schwöre es! Ich habe keine Zeit mehr zu verlieren und habe schon viel zu viel verloren; wenn ich nicht mit meinen guten Viertelstunden geize, so habe ich ein schlechtes Gewissen. Du kannst nicht wissen, was ich noch von mir verlange. Genug, es soll der letzte Fall der Art sein, ich habe eine Verpflichtung gegen Dr R<ée>, die mir verbietet, Nein zu sagen: wie ich eine gegen Herrn Köselitz hatte; ich mußte nach Recoaro, als er mich bat, dorthin zu kommen (es handelte sich nicht um mich, sondern um ihn und seine ganze Lebens-Entscheidung). Von meiner Gesundheit und wie es der zu bekommen pflegt, rede ich nicht einmal. — Ich habe dafür gesorgt, daß in meinem Nachbarhaus, Hôtel Edelweiß, ein Zimmer für meinen Freund bereit ist.
In herzlicher Liebe und Aufrichtigkeit
Dein Bruder.
139. An Franz Overbeck in Zürich
<Sils-Maria, 20./21. August 1881>
Theurer Freund, zwischen uns steht es gut; und was die Wirkung meines Buchs betrifft, so sage ich, im Scherz und Ernst, „es gehört zu den stärksten geistigen Getränken“, wenigstens nach der Wirkung zu urtheilen, die ich selber davon verspüre, wenn ich mich einmal müde und muthlos fühle. Zuletzt: es ist ein Anfang meiner Anfänge — was liegt noch vor mir! auf mir! Irgendwann werde ich genöthigt sein, auf ein Paar Jahre von der Welt förmlich zu verschwinden — um alle meine Vergangenheit und menschlichen Beziehungen, und Gegenwart, Freunde, Verwandte, Alles, Alles mir aus dem Sinn zu schlagen. Da wird es gelten tapfer zu sein, und auch Du, mein geliebter Freund, wirst Deine alte große Treue, Deine Tapferkeit in der Treue zu mir, noch auf einer höchsten Probe bewahren müssen! Ich bin auf die Dauer ein lästiger Kamerad, nicht wahr? Nun, Freund Romundt denkt anders, dem wenigstens habe ich keine Lasten aufgelegt — er schreibt frisch und munter, daß er „die Lehre Kants von Gott — Seele — Freiheit — und Unsterblichkeit wieder aufbaue“. Das hat mich wirklich erheitert! Es scheint doch, daß ich noch keine „schädliche und unmoralische“ Wirkung ausgeübt habe (vielmehr — gar keine Wirkung!) — Seien wir guter Dinge! Sind wir doch die Freien, und nicht die „Kinder der Magd!“ — Nun kommen Bitten über Bitten! Verzeihung! — Das nächste Mal möchte ich das Geld selber empfangen; ich reise den 27 September von hier fort, ist es möglich, es bis dahin zu erhalten? Wann kehrst Du nach Basel zurück? Nach Genua es zu senden hat die Schwierigkeit, daß es mir dort an Ausweise-Papier fehlt (ich habe keinen Paß, brauche ihn auch sonst nicht.)
Schmeitzner soll fürderhin meine Ersparnisse nicht mehr empfangen, es giebt Gründe, ein wenig auf der Hut zu sein, er ist wagehalsig und thut manches, ohne erst um Erlaubniß zu fragen. Nun, lieber Freund, möchte ich sehr gern, daß alles noch von der Basler Pension zu Ersparende von Dir angesammelt würde, und Zinsen zu Zinsen, so daß ich nach Ablauf der 6 Jahre, noch eine gute Zeit davon leben kann (sage mir: wann ist der letzte Zahlungstermin dieser 6 Pensionsjahre?) Ich bin auf der „Höhe“ des Lebens d.h. meiner Aufgaben, die das Leben mir allmählich gestellt hat, und muß, wo irgend möglich, diese nächsten vier Jahre ohne alle und jede äußere Störung eben diesen Aufgaben weihen, und an gar nichts Anderes mehr denken, hilf mir dabei, Treuester der Treuen!
Nein, Littré’s Buch werde ich gewiß nicht lesen, und ebenso wenig komme ich zu Keller’s „grünem Heinrich“: meine Augen erlauben mir solche „Luxusausgaben der Sehkraft“ nicht mehr. Im Vertrauen gesagt: das Wenige, was ich mit den Augen arbeiten kann, gehört jetzt fast ausschließlich physiologischen und medizinischen Studien (ich bin so schlecht unterrichtet! — und muß so Vieles wirklich wissen!) Bitte, sende den zweiten Band vom „grünen Heinrich“ an unsern „grünen Heinrich“ in Venedig, der jetzt eben mit seiner herrlichen Partitur — Filigran-Arbeit auch als solche — fertig geworden ist. — Ich habe mit dem Erfinder der Schreibmaschine Hr. Malling-Hansen in Kopenhagen, Briefe gewechselt — ein solches Instrument, bei dem die Augen nach einer Woche Übung gar nicht mehr thätig zu sein brauchen, wäre unschätzbar für mich, aber es ist nichts für mich „Armen-Mann“ — mit Kasten und „zur Versendung bereit verpackt“, also noch ohne Transport kostet es 375 R.Mark. Es wiegt 6 Pfund und ist 8 Zoll lang. Eine Schriftprobe lege ich bei.
Ich möchte ein paar Bücher durch Dich vom Buchhändler:
1. O. Liebmann, Analysis der Wirklichkeit.
2. O. Caspari, die Thomson’sche Hypothese (Stuttgart 1874 Horster.)
3. A. Fick, „Ursache und Wirkung“.
4. J. G. Vogt, die Kraft. Leipzig, Haupt & Tischler 1878.
5. O. Liebmann, Kant und die Epigonen.
Sodann hätte ich eins von meinen Büchern aus den Züricher Kisten sehr nöthig: Spir, Denken und Wirklichkeit — es ist uneingebunden, befindet sich also in der Kiste der Uneingebundenen und besteht aus 2 Bänden.
Giebt es auf der Zürcher Lesegesellschaft (oder Bibliothek) die „philosophischen Monatshefte“? Ich brauche davon Band 9 Jahrgang 1873 und ebenso Jahrgang 1875. Dann Zeitschrift Kosmos, Band 1.
Giebt es von Dubois-Reymond’s Reden eine Gesamtausgabe?
Endlich, endlich! Auch in die Apotheke möchte ich Dich schicken, es handelt sich um Vervollständigung meiner Privatapotheke. Ich bitte um
1. ferrum phosphoricum
2. phosphorsaures Kali
3. natrum sulfuricum
4. natrum muriaticum
von jedem 10 Gramm in Pulverform. Sehr gut verpackt. Sei mir nicht böse und nimm Dir Zeit zu Allem, mache es so gelegentlich wie möglich ab. Ich bin wegen meiner zudringlichen Bitten schon Deiner verehrten Schwiegermutter so beschwerlich geworden, und möchte doch bei ihr und bei Dir und bei Deiner lieben Frau und bei allen Deinen werthen Verwandten in Zürich in recht gutem Andenken bleiben!
F.N.
140. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Sils-Maria, 21. August 1881>
Lieber Freund, ich habe Overbeck beauftragt, Ihnen den 2. Band von Keller’s ,,gr<ünem> Heinrich“ zuzusenden und bitte Sie das Ganze, als einen Labetrunk nach schwerer Arbeit, aus meiner Hand freundlich anzunehmen. Ich juble mit Ihnen, wenn ich an Ihre Filigran-Partitur denke.
Overbeck schrieb mir jüngst in einer Bewegung, die an ihm selten ist; charakteristisch schien mir dieser Satz „Dein Buch erfüllt mit höchstem Lebensmuthe, weil es so gründlich und ehrlich davon durchdrungen ist, daß zu trösten gar nicht der Beruf der Wahrheiten ist, und alle sancho-pansaartige Begehrlichkeit, mit der man gemeinhin an die Wissenschaft herantritt, niederschlägt“. — Und der gute Rée hat, als Antwort, in der liebenswürdigsten Weise bei meiner Schwester angefragt, ob es erlaubt sei, von Stibbe nach Sils-Maria überzusiedeln. Endlich: Freund Romundt, der sich in Leipzig habilitirt hat, kündigt mir an, daß sein nächstes Werk „die Lehre Kants über Gott, Seele und Unsterblichkeit wieder aufbaue“ — es soll, wie man mir meldet, Bismarck gewidmet werden — — !
In Paris ist eine Ausstellung für Electricität: ich sollte eigentlich dort sein, als Ausstellungsgegenstand, viell<eicht> bin ich in diesem Punkte empfänglicher als irgend ein Mensch, zu meinem Unglücke!
Treulich und dankbar der Ihre F. N.
141. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Sils-Maria, 21. August 1881>
Meine liebe Schwester, der Schrecken darüber, daß meine Einsamkeit nicht heilig geachtet wird, hat mich 4 Tage krank gemacht, es schien als ob alle guten Geister mich verlassen hätten und die ganze geistige Arbeit des Sommers verloren sei. Nun, ich werde mir die Sache schon zurecht legen, und jedenfalls soll Freund R<ée> um so besser behandelt werden. Schon jetzt habe ich Gesichtspunkte, nach denen mir eine Zusammenkunft — jetzt mit ihm — sehr wichtig erscheint. — Darüber hatte ich ganz vergessen, Dir für Deinen ersten Brief zu danken, der mich so erheitert hatte; mir fiel ein Wort meiner Genueser Wirthin über die Frauen ein: „tutte le donne sono furbe“ (Ungefähr: „alle Frauen sind Spitzbuben“). — Herr Malling-Hansen in Kopenhagen, der Erfinder der berühmten Schreibmaschine, hat mir jetzt zweimal geschrieben — aber es ist eine Sache für reiche Leute. Mit Transport wird es mindestens frs. 500 kosten. Die Maschine ist 8 Zoll lang, 6 Pfund schwer und befindet sich in einem Mahagonikasten. Der genaue Preis für Maschine Kasten und „zur Versendung verpackt“ (also noch ohne Transport) ist R.M.375. — Ich friere so: Strümpfe! Viel Strümpfe!
Mit herzlichem Gruße und Dank.
142. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Sils-Maria, 24. August 1881>
Ja, meine liebe Mutter, hier oben, 6000 Fuß höher als Genua, wo die Schneeschmelze bis zum Juni sich hinzieht, und im Juli und August Schnee fällt, hat man Wünsche, die unten in der Ebene etwas verrückt klingen mögen. Ich sehe nach dem Thermometer im Zimmer: 8 Grad Réaumur. Dabei schneidende Winde, und das unbeständigste Wetter, welches auch den Engadinern unangenehm und nachtheilig ist: leider (für mich qualvoll!) sehr viele Gewitter. Schreib mir doch, was für verschiedene Wirkungen die Nietzsche’s vom Gewitter gespürt haben. — Mit meiner Nahrung bin ich sehr zufrieden: Mittag (1/2 12) jedes Mal ein Fleisch, mit Maccaroni, Morgens (1/2 7) ein rohes Eidotter Thee und Aniszwieback (ländlich-kräftig), Abends (1/2 7) 2 rohe Eidotter, ein Stück Polenta (wie sie alle Hirten und Bauern essen), Thee (zweiter Aufguß) und Aniszwieback. In Genua lebe ich noch viel „volkstümlicher“, gleich den dortigen Arbeitern. Alle Morgen um 5 kalte Gesammtabwaschung, täglich 5—7 Stunden Bewegung. Von 7—9 Abends still im Dunklen sitzen (so auch in Genua, wo ich ohne Ausnahme jeden Abend von 6 an zu Hause war: nie Theater, Concert u.s.w. Ihr könnt Euch nicht denken, wie sparsam, ja geizig ich mit meinen geistigen Kräften und meiner Zeit umzugehen habe, damit ein so leidendes und unvollkommenes Wesen doch noch reife Früchte trage: nehmt mir in Hinsicht auf diese schwere Art zu leben nichts übel, ich muß gegen mich selber täglich, stündlich hart sein. In Liebe
Euer F.
143. An Heinrich Köselitz in Venedig
Sils-Maria Ende August 1881.
Aber das sind ja herrliche Neuigkeiten, mein lieber lieber Freund! Vor allem, daß Sie fertig sind! Mir wird bei dem Gedanken dieses ersten großen Fertigwerdens Ihres Lebens unsäglich wohl und feierlich zu Muthe, ich werde den 24. August 1881 im Gedächtniß behalten! Wie es nur zugeht! Aber mich überkommt, sobald ich nur Ihres Werkes gedenke, ein Gefühl von Befriedigung und eine Art von Rührung, dergleichen ich in Bezug auf meine eignen „Werke“ nicht kenne. An diesen ist etwas, das immer und immer meine Scham beleidigt: sie sind Abbilder eines leidenden unvollständigen, der nötigsten Organe kaum mächtigen Geschöpfes — ich selber als Ganzes komme mir so oft wie der Krikelkrakel vor, den eine unbekannte Macht über’s Papier zieht, um eine neue Feder zu probiren. (Unser Schmeitzner hat ganz gut verstanden, mich an diesem Punkt empfindlich zu berühren, indem er in jedem seiner letzten Briefe betonte, daß „meine Leser keine Aphorismen mehr von mir lesen wollten“.) Nun, Sie, lieber Freund, sollen kein solcher Aphorismus-mensch sein, Ihr Ziel geht in’s Höhere, Sie haben nicht nur, wie ich, den Zusammenhang und das Bedürfniß des Zusammenhanges ahnen zu lassen — Ihre Aufgabe ist es, in Ihrer Kunst die höheren Stilgesetze wieder offenbar zu machen, deren Beseitigung die Schwäche der neueren Künstler fast zum Princip erhoben hat: Ihre Aufgabe ist es, Ihre Kunst wieder einmal fertig zu zeigen! Das fühle ich, wenn ich an Sie denke, und ich genieße in dieser Aussicht ein Vollendetwerden meiner eignen Natur wie im Bilde. Diesen Genuß haben Sie mir bisher allein gegeben, und erst seitdem ich Ihre Musik kenne, steht es so zwischen uns.
Und dann die zweite Neuigkeit: daß Wien nach Venedig und der Berg zu Muhammed kommt! Welche Unruhe nimmt dies von mir! Ich sehe jetzt den Gang der Dinge, Ihre erste festliche Einführung — ich vermuthe, Sie werden, unmittelbar in dem Erfolge, den Muth haben, Ihren aesthetischen neuen Willen durch ein Paar beredte Schriftstücke der Welt kund zu thun und damit über die einzig zulässige Interpretation Ihres Werkes die Verwirrung beseitigen. Bekennen Sie sich ungescheut zu den höchsten Absichten! Menschen wie Sie müssen ihre Worte voranwerfen und sie durch ihre Thaten einzuholen wissen (selbst ich habe mir bisher erlaubt nach dieser Praxis zu leben) Benutzen Sie alle Freiheiten, die man dem Künstler allein noch zugesteht und bedenken Sie wohl: unsre Aufgabe ist unter allen Umständen anzutreiben, „dorthin“ zu treiben — gleichgültig beinahe, ob wir selber dorthin gelangen! (Die exhortatio indirecta finde ich zum Erstaunen oft in meinem letzten Buche z. B. in dem Abschnitte § 542 „der Philosoph und das Alter“ — die direkte Ermahnung und Anreizung hat dagegen etwas so Altkluges.)
So viel für heute — es ist gar nicht nöthig, hierauf zu antworten, lieber Freund. Wenn wir uns einmal wieder sehen, spielen Sie mir Ihre Musik als Antwort (sie ist mir in diesen Monaten recht in’s Herz gesickert, und, aufrichtig! — ich weiß jetzt nichts, was ich lieber hören möchte —)
Es war mir eine rechte Freude, die Handschrift meines alten braven Gersdorff wiederzuerkennen (leider in etwas zu blasser Tinte) und zwar von einem Interesse Zeugniß ablegend, welches annoch selten ist und das ihn mir recht in der Nähe meiner Befürfnisse und Freuden zeigt.
Leben Sie wohl und gedenken Sie meiner als eines durch Ihren letzten Brief Hochbeglückten.
Ihr Freund Nietzsche.
144. An Paul Rée in Stibbe
Sils-Maria Ende August 1881
Mein lieber lieber Freund, nur zweimal habe ich bis jetzt dem schönsten Schauspiele etwas zusehen dürfen — wie eine selbsteigne intellektuelle Natur sich plötzlich entfaltet, bei Ihnen und bei unserm Freunde Köselitz. Letzterer hat, nach einer wunderbaren tiefen Umwandlung seines „Geschmacks“, neuerdings ein Werk geschaffen, welches eine helle Heiterkeit und Höhe zeigt, daß ich darin wie in einem besseren Wasser schwimmen muß und im Schwimmen auf dieser neuen Fluth vor Vergnügen jauchze: — es ist seine komische Oper „Scherz List und Rache“. Und wenn er immer wieder mir zu verstehen giebt, daß meine Philosophie und Denkweise ihm zu dieser Umwandlung verholfen habe und daß diese hier in Tönen zu erklingen beginne, so bin ich sowohl als alter verunglückter Musikus und ebenso als neuer unmöglicher unvollständiger aphoristischer Philosophus allzu hoch geehrt, um mich nicht auch beschämt zu fühlen.
Und dieses selbe Jahr, das jenes Werk an’s Licht brachte, soll nun auch das Andre Werk an’s Licht bringen, an dem ich im Bilde des Zusammenhanges und der goldnen Kette meine arme stückweise Philosophie vergessen darf! Welches herrliche Jahr 1881! Ich empfinde gegen Sie, mein lieber Freund und Vollender, ein ganz unbegrenztes Wohlgefühl und möchte, was ich Ihnen vielleicht schon zehnmal sagte, eine eigne Sonne schaffen können, die über Ihnen und dem Wachsthum Ihres Gartens allein zu scheinen hätte. Wie sollte ich es auch aushalten, ohne von Zeit zu Zeit meine eigne Natur gleichsam in einem gereinigten Metalle und in einer erhöhteren Form zu sehen — ich, der ich selber Bruchstück und wandelndes Elend bin und durch seltne, selt<e>n „gute Minuten“ in das bessre Land hinausschaue, in dem die ganzen und vollständigen Naturen wandeln. Es jammert mich immer zu hören, daß Sie leiden, daß Ihnen irgend etwas fehlt, daß Sie jemanden verloren haben: während bei mir Leiden und Entbehrung zur Sache gehören und nicht wie bei Ihnen zum Unnöthigen und zur Unvernunft des Daseins.
Nun gleich etwas von dieser Unvernunft! Lieber Freund, wenn Sie jetzt reisen wollen, so thun Sie es ja nicht im Hinblick <auf> eine Zusammenkunft mit mir (die doch nur sehr kurz sein dürfte, nach allen neuern Erfahrungen!) sondern um Ihrer Gesundheit und der Gesundheit Ihrer verehrten Frau Mutter Willen! Sollte aber das Engadin nicht in letzterer Hinsicht ungeeignet sein? Es ist kalt und windig hierselbst, wir hatten letzthin sogar einen vollen Schnee-Wintertag. Den 26. Sept. reise ich nach Genua zurück, ich muß um diese Zeit dort sein, und will in den nächsten Jahren überhaupt nur zwischen Genua und Sils-Maria hin- und herreisen. (Ich vertrage Reisen nicht, habe kein Geld zu Ortswechsel und dergleichen und bedarf der unbedingten Einsamkeit nicht als einer Liebhaberei, sondern als der Bedingung, mit der ich vielleicht das Leben noch ein paar Jahre aushalte (— es geht nämlich, im Vertrauen gesagt, sehr elend). So habe ich mich denn entschlossen, auf das Wiedersehen mit Ihnen zu verzichten und Ihnen dringend ans Herz <zu> legen, für die eigne Wohlfahrt und die der nächsten und zugehörigsten Seele bei dem Entwurfe des Reiseplanes zu sorgen. Ach, mein lieber Freund Rée, bleiben wir zusammen auf den Höhen tapferer Gesinnung, hellen Schauens, fliegen wir miteinander durch Vergangnes und Zukünftiges und seien wir, im Wohlgefühle dieser Gemeinsamkeit, nicht dem Schicksale zu gram, wenn es uns von einander hält — wie es jetzt wieder zu thun scheint! —
In herzlicher Liebe und Treue
Ihr Freund
Nietzsche
145. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Sils-Maria, 2. September 1881>
Den schönsten Dank, meine Guten Lieben — aber das war mein Geburtstagspaket! Da Ihr mir schriebt, eins schicken zu wollen, hatte ich Euch ja daraufhin meinen Wunschzettel geschickt. Alles ist recht und zum Theil schon im Gebrauch und im Verbrauch. Nun noch c. 3 Wochen, dann ist es wieder hier vorbei, am 26ten d. M. Abreise nach Genua. Das Wetter war in summa die ärgste Enttäuschung, die das Engadin mir machen konnte — und mir äußerst nachtheilig. Seit der letzten Karte war mein Zustand mir besorgnißerregend, der Kopfschmerz permanent, alle Speisen unmöglich. Draußen tiefer Schnee-Winter, oder Stürme, Gewitter, Regentage, alles wild durcheinander. Jetzt versuche ich eine Milchkur (der gute Rath des guten Lama kam genau zur Stunde, als ich das Milchtrinken anfieng) Rée schrieb, er und seine Mutter würden „in einigen Wochen“ reisefertig sein — aufrichtig, ich bin wenig zum Besuchempfangen mit meiner Gesundheit eingerichtet. Sonst — meine „Gedanken“ würden jetzt nicht mehr gestört werden! — ich habe gar keine mehr! Es ist Verfall. — Neulich fiel mir Frau Pastor Harseim ein, ich habe ihr als Knabe eine „heroische Handlungsweise“ zugetraut, sie war die erste Frau dieser Gattung, die ich kennen lernte. Ich freue mich über ihre Freude. — Schreibt mir Gutes und Beruhigendes über Gesundheit — es ist genug, daß Einer von uns Sorge macht!
In Liebe F.
146. An Franz Overbeck in Zürich (Postkarte)
<Sils-Maria, 5. September 1881>
Lieber Freund, und armer Freund! — Denn ich denke mit Beschämung an die Zudringlichkeit meiner Nothstände! — wir wollen die Geldsendung in den October verschieben. Ein rekommandirter Brief, Genova poste restante, doch ohne Angabe, was darin ist, kommt schon in meine Hände. Was die Handwerkerbank und überhaupt jede Anlegung des Geldes in Basel betrifft, so wäre mir die Nennung meines Namens dabei unerwünscht. Falls mein Name aber nothwendig ist, so würde ich einer Züricher Anlage den Vorzug geben.
Ich habe schlimme Zustände durchgemacht, es trat, unter der Einwirkung des geradezu bösartigen und tollen Wetters, eine allgemeine decadence ein. Die Hoffnung auf das Engadin ist diesmal zu Schanden geworden, doch wäre es anderswo mir nicht besser ergangen, mindestens in diesem aufgeregten Europa, das vor Neuerungssucht selbst die Jahreszeiten durcheinanderwirft. Hier hatten wir tiefen Schneewinter, Herbststürme und Sommergewitter und Märzthautage wild durcheinander.
Dein dankbar gesinnter Freund
F.N.
147. An Ida Overbeck in Zürich (Postkarte)
<Sils-Maria, 5. September 1881>
Liebe Frau Professor, wenn ich mich heute an Sie mit einer Bitte wende, so wird es wohl wie schlechtes Gewissen aussehen — da ich mir bewußt bin, Ihrer verehrten Frau Mutter sowohl wie meinem Freunde schon gar zu viel Noth mit meinen Bitten gemacht zu haben! Ich möchte von Ihnen Auskunft über ein gelehrtes Kochgeräth, den sogenannten Papinianischen Topf (auch Digestor Papinianus, den Physiologen gut bekannt) Giebt es solche in Zürich? Und zu welchem Preise? Ein kleines Format vorausgesetzt (etwa um ein halbes bis ganzes Pfund Fleisch darin zu kochen) Oder finden Sie die luftdicht zu schließenden Umbach’schen Bouillontöpfe vorräthig?
Im Falle Sie etwas Derartiges entdecken, was sich für meine Genueser Küche eignen möchte und auch seinem Preise nach im Verhältniß zu mir steht, so senden Sie es mir noch in das Engadin.
Und Sie werden doch mir deshalb nicht böse sein? Herzlich
Ihnen zugethan und dankbar gesinnt
FN
148. An Franz Overbeck in Zürich (Postkarte)
<Sils-Maria, 6. September 1881>
Verschen aus der Baumannshöhle.
Die Weisheit spricht: da wo Gedanken fehlen,
Da stellt der Thee zur rechten Zeit sie ein,
Ein Gott noch unbekannt den Griechenseelen,
„Maschinentheos“: — laßt uns weise sein!
(So sprach einst der eine Höhlenbär zum anderen, als er von ihm das Theetrinken lernte.)
149. An Franz Overbeck in Zürich (Postkarte)
<Sils-Maria, 18. September 1881>
Danke Deiner lieben Frau für ihre ebenso gütige als exakte Auskunft. Nein, ein solcher Topf paßt nicht für meinen Haushalt: welcher flüchtig und transportabel sein muß, wie ich selber (ebenso wenig als die erwähnte Schreibmaschine) Die Zeitschriften laß! Die gesuchten Aufsätze stehen in Liebmann’s „Analysis“ auch. Ceterum, missis his jocis, dicam quod tacere velim, sed non jam tacere possum. Sum in puncto desperationis. Dolor vincit vitam voluntatemque. O quos menses, qualem aestatem habui! Tot expertus sum corporis cruciatus, quot in caelo vidi mutationes. In omni nube est aliquid fulminis instar, quod manibus me tangat subitis infelicemque penitus pessumdet. Quinquies mortem invocavi medicum, atque hesternum diem ultimum speravi fore — frustra speravi. Ubi est terrarum illud sempiternae serenitatis caelum, illud meum caelum? Vale amice.
150. An Franz Overbeck in Zürich (Postkarte)
<Sils-Maria, 20. September 1881>
Lieber Freund, das Geld ist auch eingetroffen, insgleichen die delikaten Backwerke, für welche ich der verehrten Senderin den herzlichsten Dank auszudrücken bitte. In einer Woche reise ich ab. Die Abhandl<ung> von Fick ist mir jetzt nicht mehr nöthig. Bitte, habe die Güte, meine mannichfaltigen Ausgaben, zu denen meine leiblichen und geistigen Bedürfnisse in diesem Sommer Anlaß gegeben haben, bei Dir und den Deinen im Hause Falkenstein in Ordnung zu bringen! Es ist ja bald wieder Geld für mich in Deinen Händen, das dazu dienlich ist. — Hast Du vielleicht an Köselitz den 2ten Band des „grünen Heinrich“ geschickt? — Denke Dir, daß Freund Rohde Buch und Brief, vor 3 Monaten ihm zugesandt, unbeantwortet gelassen hat! Was mag den wieder quälen! — Man muß sich die Geduld zum Aushalten in Pfennigen zusammenbetteln. Vertraue mir, ich habe noch Gründe auszuhalten. —
Dein Freund.
151. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Sils-Maria, 21. September 1881>
Mein liebes Lama, es ist nicht leicht möglich, mir mit einem Geschenk mehr Vergnügen zu machen als Du mir mit den Büchlein’s gemacht hast; so oft ich sie gebrauche, werde ich dankbar Deiner gedenken, ebenso oft als ich bisher mich geärgert habe, daß ich in diesem Punkte wie der erste beste Schulknabe fürlieb nehmen mußte. (Sonst schwimmt nämlich ein nur einigermaßen geachteter Autor oder Künstler in einem Luxus von Geschenken, die sein Handwerkszeug betreffen — und es ist der beste Beweis dafür, daß ich vollkommen ohne Anerkennung meinen Weg gehe (seit ich mir die „Parteien“ der -ianer vom Halse geschafft habe) wenn ich constatire, daß nach 10 Jahren Thätigkeit ich wie ein Anfänger mit dem geringsten Zeuge arbeite, das gar nichts mit meinen Gedanken zu thun hat. Es vermehrt meinen Stolz, daß ich diese schönen und sinnreich geschmückten Büchlein meiner Familie und nicht irgendwelchen „Verehrern“ verdanke.) Bleistift Nr. 2 ist recht, aber fürderhin wollen wir Faber abdanken. Romundts Buch, recht ausgequollen persönlich, scheint mir sehr erquicklich und für ihn hoher Ehren werth; ich kenne etwas die inneren Widerstände, die er zu überwinden hatte; wie blutig-schwer ist jeder Schritt der Selbständigkeit! — Mit der herzlichsten Dankbarkeit
Dein Bruder.
152. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Sils-Maria, 21. September 1881>
Meine liebe Mutter, gestern hatte ich den besten Tag dieses Jahres — es war ein vollkommner September, Geist und Leib bei mir frei, Mittags kamen die Geschenke, und den ganzen Nachmittag lief ich mit glücklichen und dankbaren Gefühlen an den blauen Seen herum. Die Strümpfe sind ein wahrer Schatz, ich sehe mich schon wieder die langen stillen Abende mit doppelten Strümpfen in der Kälte sitzen. Die Uhr werde ich jetzt um der Uhrkette willen noch weniger gern verlieren, ich denke beide so lange als möglich zu tragen. Die Handschuhe kommen sehr erwünscht, ein klein wenig allerdings post festum, denn ich habe schon ein erfrornes Fingerchen. Nun, der Genueser Winter ist noch in Aussicht, vielleicht wird er härter. In Betreff der Hallischen Pfefferkuchen bin ich alles Lobes voll, es ist mein „Leib“-confekt, das mir immer gut thut — und es freut mich, wie ich schon einmal schrieb, daß Ihr in Naumburg doch wenigstens etwas habt, das billig ist. Dienstag geht es fort nach Genua, leider sehr unbequem, mit Nachtreisen und Nachtankunft (fast 3 Tage unterwegs!) Dann kommt die Noth, Wohnung zu finden: ach, diese nächsten Wochen sind eine große Aufregung, und ich werde wohl viel krank sein! Adresse wieder: Genova (Italia) poste restante. Der Name Nietzsche unterstrichen, N sehr deutlich.
153. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Sils-Maria, 22. September 1881>
Hier die letzte Karte aus dem Engadin, von jetzt ab heißt es wieder: Genova poste restante. Gefährliche Zeiten waren es, der Tod schaute mir über die Achsel, ich habe den ganzen Sommer über fürchterlich gelitten: wohin soll ich mich wenden! Daß ein Himmel mit monatelanger Reinheit eine Lebensbedingung für mich geworden ist, sehe ich nun ein: lange vermag ich diesem ewigen Wechseln, diesem Wolken-aufziehen nicht mehr Stand zu halten! Und welche Energie der Geduld verbrauche ich nutzlos im Kampfe mit dem unvernünftigen Element! Denken Sie, ich habe in summa hier oben 10 erträgliche Tage gehabt, und die schlimmen Tage brachten Zustände so gräßlich als ich sie in Basel erlebt habe. — Der größere Theil derer, welchen ich mein Buch geschickt habe, hat, in 3 Monaten, nicht einmal ein Wort des Dankes für mich gehabt. Nun, das kann mich stolz machen: ach, Freund, ich brauche noch etwas Leben, denn ich habe noch etwas damit anzufangen! Mögen die Menschen mir keine Freude machen: so will ich mir selber Freude machen! Aber Ihre Musik muß mich umtönen, das wird mir nöthig, merke ich jetzt.
Treulich F.N.
154. An Hermann Pachnicke in Berlin (Postkarte)
<Sils-Maria, 24. September 1881>
Mein lieber Herr Pachnicke, Ihre Anhänglichkeit thut mir wohl, und fast scheint es mir als wenn, mit der Zeit, sich daraus auch irgend eine Anähnlichung ergeben müßte. Erwägen Sie recht innerlich, was ich in der „Morgenröthe“ gesagt habe — deren Aushängebogen ein Geschenk für Sie sein sollen. In philologicis wenden Sie sich ja an meinen Freund, Professor Dr. Rohde an der Universität Tübingen — ich selber lebe ferne und ohne Bücher und kann keine Briefe schreiben. Muth und eine hohe Gesinnung Ihnen wünschend
der Ihrige F.N. (Genova (Italia)
poste restante.
155. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Genua, 4. Oktober 1881>
Meine Lieben, so bin ich wieder im alten Genua eingerichtet, mitten im Gäßchengewühl und recht im Gegensatz zu der Eleganz der Kranken in Nizza. (Inzwischen hat mich Vieles für Nizza bereden wollen, ich widerstrebe) Müde und wie betäubt bin ich hier angekommen, mein Zustand war unbeschreiblich geworden, und die Reise selber war nur durch einen Krampf von Energie möglich. Fast fürchte ich, mir einzugestehn, daß Recoaro und Engadin endgültige Widerlegungen meiner Bergaufenthalte sind (wegen der größeren Nähe der Wolken) Daß Dr. Rée mich hier besuchen wird, ist sehr fein und praktisch für mich ausgedacht. — Es ist mir ein Paar Mal gelungen durch meine medizinischen Künste einen entschiedenen Anfall aufzuhalten — zu meinem großen Erstaunen! — Die Notizbücher sind herrlich, aber — es steht noch nichts drin. Genova poste rest<ante>
156. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Genua, 4. Oktober 1881>
Drei Worte, lieber Freund, die ersten wieder aus Genua! Und wieder waren Sie es, der mich hier zuerst begrüßte — Sie glauben nicht, wie empfänglich ich für solche Zeichen der Seele bin. — Ich bin gereist fast mit der Energie eines Tollen, denn der Wechsel meiner Zustände und die Quälerei, an der meine halbe Blindheit auf Reisen schuld ist, überstiegen alles Maaß, und mit „Geduld“ war nichts mehr auszurichten.
Bleiben Sie bei Ihrem Matrim<onio> segr<eto>-Projekt! Es giebt noch keine Oper, bei der einem Nordländer völlig südländisch zu Muthe wird, — das bleibt Ihnen aufgespart!
Treulich Ihr F.N.
157. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Genua, 8. Oktober 1881>
Meine Guten Lieben! So schwer es mir wird, es mir einzugestehn — ich kann nur noch am Meere leben. Das Martyrium vom 1 Mai bis 1 Oktober war gräßlich und barg alle und die schlimmsten Gefahren für mich in seinem Schooße. Auch hier leide ich viel, wie Ihr wißt, aber es ist doch menschenmöglich, damit zu leben, während im Engadin, in Marienbad, in Naumburg und Basel mir das Leben zur Thierquälerei wurde. — Freund Rée soll mir einen großen Gefallen thun, nämlich die gebundenen 2 Bände meiner eignen Schriften, die Ihr in Naumburg habt (gut im Carton verpackt, mit Seidenpapier) mitbringen. Ich brauche sie — und überdieß machen sie mir Vergnügen. Wenn ich sie nicht lese, wer liest sie! —
In herzlicher Liebe (bei Scirrocco)
Euer F.
158. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Genua, 14. Oktober 1881>
Nun, alter lieber Freund, so habe ich wieder meine Stadt Genua, die unmodernste, die ich kenne und die zugleich von Lebenskraft strotzt — so etwas ganz und gar Unromantisches und doch höchst Ungemeines: so will ich denn weiter leben in der Obhut meiner hiesigen Schutzheiligen Columbus Paganini und Mazzini, die zusammen sehr gut ihre Stadt vertreten. Von Dir und von Deiner verehrten Schwiegermutter erhielt ich die einzigen Ermuthigungen im Engadin — ich habe einen fürchterlichen Wechsel von Zuständen durchgemacht, und meine Abreise und Reise wurde nur durch eine gewisse Tollheit von Energie möglich.
F.N.
159. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Genua, 21. Oktober 1881>
Ich schreibe im Café, mein Zimmer hat nicht Licht genug zum Lesen und Schreiben (aber am 25ten d. M. wechsele ich — die dritte Wohnung wieder!) Ach, meine Lieben, es ging und geht nicht gut! Ich mag gar keine Einzelheiten melden. Es ist ein fortwährender Kampf, Tag für Tag. Möchten Eure guten Wünsche endlich einmal „einschlagen“! Inzwischen heißt es: tapfer sein! — Wir haben eigentlich Winter, eisige Regen mit Sturm, mir graut vor dem, was kommt, vielleicht ein harter Winter — und ich wieder ohne Ofen. Aber die giebt es hier nicht. Der fürchterliche Aufenthalt im Engadin hat mich vorbereitet. — Denkt, daß zu den Übelständen dieses Monates gehörte, Abends von 8—12 außer meinem Zimmer zu sein (in Folge einer schrecklichen Musik nebenan) Genug, es bedarf wieder der Geduld. Habt auch mit mir Geduld!
In Liebe und Dankbarkeit.
160. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Genua, 21. Oktober 1881>
Eisige Regen, heftige Winde, kurz Winter, es ist hart und läßt Schlimmes fürchten. J. Burckhardt hat Recht, aber mir dem Fast-Blinden sind jetzt alle neuen Versuche mit Städten und alle Reisen überhaupt unausstehliche Martern geworden; diese Stadt (auch diese Bevölkerung) sagt meinem Charakter zu und hält mich in der Tapferkeit und im Streben fest. Ach, Freund, wie gieng es inzwischen! Jeder Tag ein Kampf — die Summe von Energie, Geduld, Besinnung und Erfindung, die täglich von mir verbraucht wird, ist wahrlich nicht gering, aber da Niemand darum näher weiß, wird sie mir einmal auch Niemand anrechnen — und zuletzt nennt man gar mein Leben ein müßiggängerisches. — Lege das Geld doch auf 6 monatl. Kündigung an. — Ich denke Deiner und der Deinigen in herzlicher und steter Dankbarkeit, lieber guter Freund!
F.N.
161. An Erwin Rohde in Tübingen (Postkarte)
<Genua, 21. Oktober 1881>
Lieber alter Freund, da Du mir inzwischen nicht geschrieben hast, so nehme ich an, daß es irgendwelche Schwierigkeiten dabei für Dich giebt. Deshalb spreche ich heute die herzlich gemeinte Bitte und dies ohne alle für Dich peinlichen Hintergedanken aus: schreibe mir jetzt nicht! Es verändert sich damit gar nichts zwischen uns, aber unerträglich ist mir die Empfindung, anscheinend durch die Zusendung eines Buches auf einen Freund eine Art Zwang ausgeübt zu haben. Was liegt an einem Buche! Ich habe noch Wichtigeres zu thun — und ohne dies wüßte ich nicht, wozu leben. Denn es geht mir hart, ich leide viel.
In Liebe
Dein F. N.
162. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Genua, 27. Oktober 1881>
Es war eine fürchterliche Zeit für mich, und ich hatte meine Genueser Kühnheit nöthig, um durchzukommen. Ich führe täglich einen Kampf durch, von dem Niemand einen Begriff hat, die Anfälle meiner Schmerzen sind so mannichfaltig und verlangen von mir so viel, viel Energie, Geduld, Nachdenken und Erfindung — ja es ist fast lächerlich: Erfindung! — — — —
Ihr Brief war wieder das Beste, was die letzten Wochen mir vom Dasein zeigten — ich war glücklich, Sie wieder mir schaffend denken zu dürfen, und noch mehr erquickte es mich zu hören, daß Sie Ihrem Leben einen großartigen langen Plan einzuverleiben gedenken — mit dieser Ihrer Praxis errathen Sie beinahe die Ausschweifungen meiner neuesten Theorien.
In treuer Neigung Ihr Freund
F.N.
163. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Genua, 28. Oktober 1881>
Willst Du mir, lieber Freund, folgendes Buch unter Kreuzband senden lassen (durch Deinen Leipziger Buchhändler, mit dem Du es vielleicht vereinbarst, daß ich direkt mit meinen Bücheraufträgen mich an ihn wenden kann, und daß die Zahlung jährlich zugleich mit Deinen eigenen Zahlungen erfolgt?)
Foissac, Meteorologie, Deutsch von Emsmann.
Leipzig 1859.
(Es ist von wegen der fürchterlichen Einflüsse der atmosphärischen Elektrizität auf mich — sie werden mich noch auf der Erde herumtreiben, es muß bessere Bedingungen des Lebens für meine Natur geben. Z. B. in den Hochebenen Mexicos, auf der Seite des stillen Ozeans (schweizerische Colonie „Neu-Bern“). Sehr, sehr, sehr gequält, Tag um Tag.
Dein Fr.
164. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Genua, 29. Oktober 1881>
Das waren wieder schreckliche Zeiten! Jeder Tag ein Elend und ein Kampf! Das unglaublichste Wetter! Ich bildete mir ein, hier milder fortzukommen als im Engadiner Sommer — aber die Schmerzen sind dieselben. — Seit gestern habe ich die neue Wohnung, welche mir schöne Ruhe zu geben erscheint. Es ist gut, daß Freund Rée mich nicht in den letzten Wochen hier gesehn hat — ich war auf die tiefste Stufe meiner Ansprüche herabgestiegen. Jetzt kann ich mich schon „sehen lassen“ — es hat mich viel Nachdenken gekostet, dies Haus zu finden. Adresse: Genova, salita delle Battistine 8 (interno 6), aber nur für Rée und nicht für Briefe.
In Liebe Euer Philoktet.
165. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Genua, 6. November 1881>
Ich erhebe mich eben von der letzten Niederlage. Aber lassen wir die Gesundheit (und ogni speranza)! Ich bin hier in Genua so reich, so stolz, so ganz principe Doria und verlange nach nichts als nach Ihnen, lieber Freund — ich biete Ihnen alle Güter dieser meiner Welt, um Sie, vielleicht für einen Monat, nach Genua zu locken, Sie sammt Ihrer neuen und alten Musik! Ich war — in allem Ernste gesagt Ihretwegen — im Theater und hörte Rossini’s Semiramide und Bellini’s Giulietta e Romeo (dies 4 mal).
Dieser Monat ist hier sehr schön; ich sitze Abends in einem Weingarten, mit Meer, Bergen und Villen unter mir, ja ich nehme ein Meerbad, in meiner Grotte der Morgenröthe. Wenn die Lotterie uns günstig ist, kommen Sie? Ein Rundreisebillet für 40 Tage kostet 44 lire (ein Zimmer für 15—20) und sonst alles sehr billig.
Ihr Freund N.
166. An Paul Rée in Naumburg (Postkarte)
<Genua, 6. November 1881>
Mein lieber Freund, eben giebt mir ein Brief meiner Schwester ein Bild von Ihnen, genug und zuviel für meine Ungeduld und mein — Tage-Abzählen: — ich meinte, der Anfang des November werde uns zusammenbringen! Halten Sie ja an dem Wiedersehen in Genua fest — dieser Ort gehört zu mir, ich will Ihnen denselben schon präsentiren und repräsentiren, ganz als principe Doria, wenn Sie wollen. — Heute nur eine Bitte: bringen Sie mir zwei Chemicalien mit, welche ich hier nicht aufzufinden weiß 1) Magnesia phosphorica 2) Kali phosphoricum; von Jedem 50 Gramm, in Pulver und Jedes wohlverschlossen in Glas (wegen der leichten Löslichkeit). Wollen Sie so gut sein?
Von Herzen Ihr Freund Nietzsche.
167. An Franz Overbeck in Basel
<Genua, 14. November 1881.>
Mein lieber Freund, was ist dies unser Leben? Ein Kahn, der im Meere schwimmt, von dem man nur dies mit Sicherheit weiß, daß er eines Tages umschlagen wird. Da sind wir nun zwei alte gute Kähne, die sich treulich Nachbarschaft gehalten haben, und namentlich hat Deine Hand redlich dabei geholfen, mich vor dem „Umschlagen“ zu behüten! So wollen wir denn unsere Fahrt fortsetzen und einer um des Andern Willen recht lange! recht lange! — wir würden uns so vermissen! Einigermaßen glatte See und gute Winde und vor allem Sonne — was ich mir wünsche, wünsche ich auch Dir; und traurig, daß meine Dankbarkeit sich eben nur in einem solchen Wunsche äußern kann und daß sie gar nichts über Wind und Wetter vermag!
Foissac ist eingetroffen, schnell und billig von Deinem Buchhändler besorgt: diese medizinische Meteorologie, obschon von der Academie gekrönt, ist aber leider eine Wissenschaft in der Kindheit und für meine persönliche Noth eben nur ein Dutzend Fragezeichen mehr. Vielleicht weiß man jetzt mehr — ich hätte in Paris bei der Elektrizitäts-Ausstellung sein sollen, theils um das Neueste zu lernen, theils als Gegenstand der Ausstellung: denn als Witterer von elektrischen Veränderungen und sogenannter Wetter-Prophet nehme ich es mit den Affen auf und bin wahrscheinlich eine „Spezialität“. Kann Hagenbach vielleicht sagen, durch welche Kleidung (oder Ketten, Ringe u.s.w.) man sich am besten gegen diese allzustarken Einflüsse schützt? Ich kann mich doch nicht immer in einer seidenen Hängematte aufhängen! Besser, sich ganz aufzuhängen! Und sehr radikal!
Wann ist der Gotthardtunnel fertig? Wann soll er befahren werden? Er soll mich zu Dir und zu den Ärzten (Augen- und Zahnärzte einbegriffen) bringen; ich habe eine lange Consultation in’s Auge gefaßt. (Dieser Tunnel ist den Genuesen vor die Thür gebaut, sie sind äußerst dankbar, ja, sie sind gegen jeden Schweizer jetzt dessenthalben artig.)
Meine Augen versagen immer mehr — die außerordentliche Schmerzhaftigkeit nach kürzestem Gebrauche hält mich geradezu von der Wissenschaft entfernt (ganz abgesehn von der großen Schwachsichtigkeit.) Seit wie lange habe ich nicht lesen können!! Romundt’s Buch habe ich nicht gelesen — nach einem musternden Blicke aber glaube ich, es ist Schleicherei auf verbotenen, uns verbotenen Wegen — das mag ich nicht! —
Paësiello’s Meisterwerk ist das matrimonio segreto: da kam Cimarosa und componirte denselben Text noch einmal, und siehe! es wurde auch sein Meisterwerk. Und nun kommt Köselitz und — das ist das Neueste — er hat es zum dritten Male componirt und ist im Wesentlichen fertig damit. Der Text verdient es — das Wagniß und die Kühnheit des Gedankens hat mir zu denken gegeben. So wie ich K<öselitz> kenne, freue ich mich dieses Charakterzugs: Überhebung und Dreistigkeit sind ihm sehr fremd. — — Die „Nacht o holde“ hat auf Dich vielleicht etwas anders gewirkt als auf mich, nach Deinen Worten zu schließen — und so ist es natürlich. Genug, es war beide Male ein Eindruck, der zu Ehren des Componisten auslief. —
Mit der Bitte, mich Deiner lieben Frau des Herzlichsten zu empfehlen verbleibe ich Dein Freund
Friedr. Nietzsche.
168. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Genua, 18. November I88I>
Lieber Freund, vielleicht bringt gerade das Interesse Ihres Schaffens eine zeitweilige Nöthigung der Ruhe oder der energischen Abziehung mit sich: ich weiß das nicht — aber kommen Sie, wenn Sie müssen, angemeldet oder unangemeldet: Ihrer bin ich immer gewärtig! Vom „Gelde“ sage ich nur so viel: ich erspare immer etwas: warum soll ich dies nicht für den gegebenen Fall eines Besuchs auf Ihre Zukunft anlegen, statt auf die des Hrn. Schmeitzner? Was ist sicherer? Sagen Sie selber! (— Ich rede recht genuesisch! —) Freund, ein großer Fund für Sie! Ich hörte zweimal eine ganz junge Sängerin als Somnambula: Emma Nevada. Zweimal hat sie mich in eine sanfte Trunkenheit versetzt (was noch keine Stimme über micht vermocht hat) Immer schwebt jetzt „Nausicaa“ um micht, ein Idyll mit Tänzen und aller südlichen Herrlichkeit solcher, die am Meere leben, Musik und Dichtung von Freund Köselitz; Nausicaa gesungen von Emma Nevada. Meine Genuesen waren ganz außer sich, sie haben sie behandelt wie einen Engel vom Himmel.
Ihr F.N.
Gab es je so schönes Wetter? —
169. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Genua, 18. November 1881>
Meine liebe Schwester, vom Tode der Frau von W<öhrmann> hatte ich sogleich durch Köselitz Nachricht, schreiben kann ich nicht, obschon ich es herzlich gern thun möchte. Ach, die Augen — Ich weiß mir damit gar nicht mehr zu helfen, sie halten mich förmlich mit Gewalt ferne von der Wissenschaft — und was habe ich außerdem! Nun, die Ohren! könnte man sagen. — Wir hatten das schönste Wetter inzwischen, und alles in allem, ich habe nie Besseres erlebt. Jeden Nachmittag sitze ich am Meere. Durch die Abwesenheit der Wolken ist mein Kopf frei, und ich bin voller guter Gedanken und Absichten — aber, wie gesagt, die Augen! sie halten nicht mehr eine Viertelstunde Lesens aus, ohne Schmerzen zu machen. Es genügt mir, daß hier und da ein Wörtchen in Dein herrliches Notizbuch kommt — es muß mir genügen! Eurer immer dankbar gedenkend — in Liebe F N.
170. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Genua, 27. November 1881>
Mein lieber Freund, es wäre unbescheiden, auf meine „Aufforderung zum Tanz“ der Reise zurückzukommen, aber erzählen will ich doch, daß die erste Seite Ihres Briefes mich lachen machte, vor freudiger Erwartung. Ich war in meinem Garten, d. h. dem der Villetta Negro, neben der ich wohne (Stendhal nennt sie einmal „eine der malerischesten Stellen Italiens“); und dachte Ihrer in vieler Liebe. —
Der liebliche Singevogel ist davongeflogen (er singt jetzt „Mignon“, in Florenz). — Das Goldmännchen von Mailand ist an mir vorübergegangen — und an Ihnen auch, wie ich fürchte? — Dr. Rée schreibt von Gersdorff in Leipzig, und daß er es da nicht lange aushalten werde, „vor Sehnsucht nach Venedig und Köselitz“. Ohime! Sie seufzen! —
In Treue Ihr Freund F. N.
171. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Genua, 27. November 1881>
Lieber, guter Freund, ich und alles „Meinige“ macht Ihnen Noth! Dieser Herr Busse! Aber es waren ein paar so delikate Empfindungen in seinem Briefe, daß ich ergriffen war — ergriffen und voller Spott über mein Schicksal! Niemand (wenn ich einen einzigen Menschen ausnehme —) hat mich bisher so geehrt wie dieser arme Herr Busse. Senden Sie nur seine Sendschreiben, ich will ihm sogar antworten —: er ist mein ganzes „Publicum“. —
„Zeitschriften“ — etwas mir ganz fremd Gewordenes: wozu! ich kenne die Zeit nicht mehr, nehme mir Zeit und brauche keine Publicität: wenn ich aber eine brauchte, dann würde ich nicht an ein Journal denken, das sich selber lesen muß, um Leser zu haben. (Oder wird auf die Anti-Juden spekulirt?) Seien wir geduldig!!!
Soll ich die Briefe zurück an Sie schicken?
172. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Genua, 28. November 1881>
Hurrah! Freund! Wieder etwas Gutes kennen gelernt, eine Oper von François Bizet (wer ist das?): Carmén. Hörte sich an wie eine Novelle Mérimée’s, geistreich, stark, hier und da erschütternd. Ein ächt französisches Talent der komischen Oper, gar nicht desorientiert durch Wagner, dagegen ein wahrer Schüler von H<ector> Berlioz. So etwas habe ich <nicht> für möglich gehalten! Es scheint, die Franzosen sind auf einem besseren Wege in der dramatischen Musik; und sie haben einen großen Vorsprung vor den Deutschen in Einem Hauptpunkte: die Leidenschaft ist bei ihnen keine so weithergeholte (wie z. B. alle Leidenschaften bei Wagner).
Heute etwas krank, durch schlechtes Wetter, nicht durch die Musik: vielleicht sogar wäre ich viel kränker, wenn ich sie nicht gehört hätte. Das Gute ist mir Medizin! Darum meine Liebe zu Ihnen!!
173. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Genua, 4. Dezember 1881>
Das war ein Wort zur rechten Zeit, meine liebe Lisbeth! Ja, die Schreibmaschine ist mir unentbehrlich (sonderbar! ich hatte sie aus den Gedanken verloren und doch leide ich so an den Augen! sie sind bei jedem Anfall sehr betheiligt!) Also: ich will die Maschine kaufen — vorausgesetzt, daß Freund Rée sie mir mitbringt (daß sie nicht geschickt werden muß!) Auch möchte ich nicht gerade das Exemplar haben, auf dem Jedermann gespielt hat. In der zweiten Hälfte Dezember schicke ich das noch nöthige Geld an Dich — wie viel? — daß Du über 200 M. für mich vom Oktober an verfügen könntest, schriebst Du mir.
Ich habe neulich auf meiner Karte Freund Rée nicht einmal für seinen schönen Brief gedankt!
Nein! Wie zur rechten Zeit Dein Brief kam! Ich erhob mich von einem schweren Anfall und wußte gar nicht mehr, was machen. Ich habe so viel zu schreiben. Eurer in Liebe gedenkend!
174. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Genua, 5. Dezember 1881>
Lieber guter Freund, von Zeit zu Zeit (wie kommt das?) ist es mir wie ein Bedürfniß, so etwas Allgemeineres und Unbedingteres über Wagner zu hören, und am liebsten von Ihnen! Auch über Chamfort gleich zu fühlen, soll eine Ehrensache für uns Beide sein, er war ein Mann vom Schlage Mirabeau’s, nach Charakter, Herz und großem Sinne — M<irabeau> selber urtheilte so über seinen Freund.
Daß Bizet todt ist, gab mir einen tiefen Stich. Ich hörte Carmen zum zweiten Male — und wieder hatte ich den Eindruck einer Novelle ersten Ranges, wie etwa von Mérimée. Eine so leidenschaftliche und so anmuthige Seele! Für mich ist dieses Werk eine Reise nach Spanien werth — ein höchst südländisches Werk! — Lachen Sie nicht, alter Freund, ich vergreife mich mit meinem „Geschmacke“ nicht leicht so ganz und gar. — In herzlicher Dankbarkeit
Recht krank inzwischen, doch wohl durch Carmen - - -
175. An Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Genua, 5. Dezember 1881>
Meine liebe Schwester, ich kenne die Hansen’sche Maschine recht gut, Hr. Hansen hat mir zweimal geschrieben und Proben, Abbildungen und Urtheile Kopenhagener Professoren über dieselbe geschickt. Also diese will ich (nicht die amerikanische, die zu schwer ist.)
Haus Falkenstein ist verkauft, Rothpletzens siedeln spätestens 1 April nach München über. Man fragt wegen meiner Bücher an; ich möchte sie eigentlich mit nach München transportiren lassen — das ist ein Universitätsort mit herrlichem Hochwald in der Nähe — möglich, daß ich da einmal eine Zeitlang arbeite oder Collegien höre. Schreib mir über diesen Punkt. Herzlichste Grüße an unsre gute Mutter
176. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Genua, 6. Dezember 1881>
Lieber Freund, verzeihe, daß ich nur Ein Wort des Dankes für Deinen guten Brief habe — die Augen erlauben mir nicht mehr die geringste „Freigebigkeit im Schreiben“. Wegen der Bücherkisten erbitte ich mir noch etwas Bedenkzeit. Wenn der Gehalt fällig ist, so sende mir doch wieder 500 frs. davon, poste restante und recommandirt, aber ohne Bezeichnung des Geldwerthes, als Brief somit. Mein alter Paß von 1876 wirkt immer noch bei der Post. — Deinem Buchhändler schulde ich 3 Mark 90 Pfennige. — In Leipzig essen jetzt Rée, Gersdorff und Romundt zusammen, es wird da viel unser gedacht. — Die Schreibmaschine ist eine Nothwendigkeit geworden, ich habe den Auftrag dafür gegeben, meine Schwester war deshalb in Leipzig und hat dort eine solche arbeiten sehn. — Mehrere böse Anfälle. Das Wetter aber in Summa sehr gesund.
Von ganzem Herzen grüßend
N.
177. An Heinrich Köselitz in Genua (Postkarte)
<Genua, 8. Dezember 1881>
Sehr spät bringt mein Gedächtniß (das mitunter verschüttet ist) heraus, daß es wirklich von Mérimée eine Novelle „Carmen“ giebt, und daß das Schema und der Gedanke und auch die tragische Consequenz dieses Künstlers noch in der Oper fortleben. (Das libretto ist nämlich bewunderungswürdig gut) Ich bin nahe daran zu denken, Carmen sei die beste Oper, die es giebt; und so lange wir leben, wird sie auf allen Repertoiren Europa’s sein.
Herr O. Busse verspricht seine Gedanken über die „Fortpflanzung des Menschen“ zu veröffentlichen (oh ich Unglücklicher! —) einstweilen empfiehlt er in seinem Sendschreiben die Kindes-Aussetzung nach Art der Spartaner. Ich finde das Wort und das Gefühl nicht, um ihm zu antworten.
Eine lateinische Abhandlung über Epicur will mir gewidmet sein: bravo!
Ich lebe seltsam, wie auf den Wellenspitzen des Daseins — eine Art fliegender Fisch. Sie sind mir immer gegenwärtig, mein lieber Freund!
F.N.
178. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Genua, 12. Dezember 1881>
Lieber Freund, ich danke Dir für Deine Mittheilung und Mühwaltung! Heute erfahre ich durch Dr. Rée, daß Hr. Schmeitzner für seine zu begründende Zeitschrift Mitarbeiter wirbt durch die Versicherung, daß Du und ich fest zugesagt hätten! Unverschämt! Die Wahrheit ist, daß er noch gar nicht an mich eine Anfrage gestellt hat, und daß ich unsäglich weit davon entfernt bin, mich an dieser Zeitschrift zu betheiligen! — Auf die genannte Weise hat er Hrn. Dr. von Stein (in Halle Privatdozent) gewonnen. — Ich sehe weder ein Princip, noch einen großen Namen, noch irgend ein Bedürfniß — wozu diese Zeitschrift? Und Herr Widemann halte ich für merkwürdig ungeeignet, Redacteur zu sein. —
Für den nächsten Monat hoffe ich auf den Besuch Dr. Rée’s, dessen Buch „das Gewissen“ tüchtig gefördert wird. In alter Liebe und Dankbarkeit
F.N.
179. An Carl von Gersdorff in Leipzig
<Genua,> 18 Dezember 1881.
Mein lieber alter Freund,
das nenne ich eine grandiose Art, der Verfinsterung unsrer Freundschaft ein Ziel zu setzen und Licht zu schaffen! Ich war vor Vergnügen ganz außer mir, als ich Deine Karte gelesen hatte — ich lief mit einem so glücklichen Gesichte durch die Straßen Genua’s, daß die Leute mich verwundert ansahen; zuletzt hielt ich ein Tuch vor das Gesicht. Nun! Glaube es mir nur, ich bin wirklich noch Dein alter Freund, ja ich meine, ich werde Dir fürderhin ein besserer Freund sein können als ich es früher war — das ist eine Frucht der letzten schweren seltsamen entscheidenden Jahre! Viel Wetter und Unwetter sind uns Beiden über den Kopf (und über das Herz) gegangen, manche Rinde mußte brechen — aber, wir Beide sind inzwischen trotzalledem, gleich guten alten Bäumen, in die Höhe gewachsen — wer weiß wie hoch! Heute weiß ich nichts Besseres zu thun als einem liebenswürdigeren Wesen als ich bin nachzufolgen und Dir auch ein Gelöbniß zu machen. Ja, mein alter Freund, ich will bis an mein Lebensende beflissen sein, Dir Freude und Muth zu machen; Dein Vertrauen zum Leben und zu Dir selber soll immer im Wachsen sein, und große edle und freie Gedanken sollen vor Dir herziehn —: in dem Allen will ich die Genossin Deines Lebens zu unterstützen suchen, welche, wie ich mit der tiefsten Dankbarkeit empfinde, Deine tapfere und großmüthige Grundart errathen hat und vertrauensvoll ihre Hand in die Deine gelegt hat.
Und nun kein Wort mehr — es giebt Vieles, was nicht ausgesprochen werden soll, zwischen uns, und Eines giebt es, was ich wieder gut machen will (ich habe Dir Einmal wehe gethan — das vergesse ich nie, und Du sollst den Vortheil davon haben!)
In Treue Dein
Freund Nietzsche.
180. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Genua, 18. Dezember 1881>
Im Geiste habe ich über so viel Dinge Ihnen Kärtchen zugesandt, daß ich gleich von der allerletzten Neuigkeit ein Wort sagen will — Vergangnes mag vergangen sein! Gersdorff hat auf eine grandiose Art dem Mißverhältniß zwischen uns ein Ziel gesetzt! — Diese Familie meines Namens (ohne e) ist mir von meiner Kindheit her bekannt, ich habe einmal die Sommerferien auf ihrer schönen Besitzung zugebracht (es giebt eine weitschweifige Art von Verwandtschaft). Schöne Mädchen!
Wünschen Sie mir Glück und helles Wetter! ich nehme die Feder zur Hand, um das letzte Manuscript zu machen (die Schreibmaschine trifft erst in einem Vierteljahre ein). Es gilt der Fortsetzung der „Morgenröthe“ (6. bis 10. Buch). Es ist Zeit, sonst vergesse ich meine Erlebnisse (oder „Gedanken“)!
Jede „Zeitschrift“, die Sie zum Schreiben bringt, soll mir lieb und werth sein!
Treulich
F.N.
181. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Genua, 21. Dezember 1881>
Meine Lieben, ein Briefchen von mir soll wenigstens zu Weihnachten in Eure Hände kommen — im Übrigen setze ich voraus (und bitte darum!) daß ich auf Eurem Geschenktische vertreten sein möge — in der Art wie voriges Weihnachten, und daß Ihr Euch von mir etwas bescheert, was Euch Vergnügen macht oder nützlich ist.
Die letzte Neuigkeit ist meines alten Freundes Gersdorff Verlobung — aber was könnte ich Euch Neues erzählen! (Seine Braut, Frl. Martha Nitzsche (Gohlis Leipzig) wer ist das? Kennt Ihr sie?) Er hat auf eine grandiose Art unsre Freundschaft wieder in Ordnung gebracht.
Meine Bücherkisten in Zürich ärgern mich. Ich möchte nämlich die Bücher (mit wenigen Ausnahmen) überhaupt los sein und dachte sie zu verkaufen (und andre nützlichere zum Theil dagegen eintauschen) Nun kommt der theure Transport nach Naumburg, der fast das Geld verschlingt, das ich dafür in Leipzig lösen könnte!
Meine Augen gehen reißend abwärts, ich kann es nicht verhehlen. Ich werfe jetzt öfters etwas um, zerbreche etwas oder stolpere. Wo finde ich eine andre Stadt, die so herrlich mit breiten Platten gepflastert ist, wie Genua, wo ich weit in der Umgebung herum gehen kann und immer auf glattem harten Steine (mit Riefen darin, wo es auf- oder abwärts geht)?
Überhaupt ist Genua doch eigentlich mein glücklichster Griff, in Bezug auf Gesundheit und geistige Ungestörtheit.
Ich habe ein sehr helles, sehr hohes Zimmer — das wirkt gut auf meine Stimmung. Ganz in der Nähe ist ein reizender Garten, der offen steht, mit mächtigem waldartigen Grün (auch im Winter) Wasserfällen, wilden Thieren und Vögeln und herrlichen Fernblicken auf Meer und Gebirge — alles auf sehr kleinem Raume.
Jetzt verzehren die Genuesen ihr Weihnachtsbackwerk, ihr pane dolce di Genova in ungeheuren Massen und senden es nach aller Welt hin. Es ist ganz genau unsre Stolle, oder vielmehr: unsre Stolle ist die deutsche Nachahmung des pane dolce di Genova. Ein Gebäck mit Mandeln Rosinen Citronat kann nicht gut rein deutsche Erfindung sein — das liegt auf der Hand.
Und nun wollen die Augen nicht mehr — und vielleicht könnt Ihr dies Geschreibsel nicht lesen?
Nach der Schreibmaschine wäre eine Vorlesemaschine eine sehr schöne Erfindung. Jeder Vorlese-Mensch ist eine Störung für ein denkendes und sensibles Thier, wie ich bin.
Adieu! meine Lieben, die Ihr mir so schöne lange Briefe geschrieben habt! Lauft glücklich das alte Jahr zu Ende ab — wer weiß, was das neue alles bringen wird, Gutes und Neues! Das ist ja das Beste vom Leben — le long espoir et les vastes pensées, nach Lafontaine.
In herzlicher Liebe
Euer Fritz.
Mittwoch früh.
182. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Genua, 28. Dezember 1881>
Gebe Ihnen, mein lieber Freund, das neue Jahr etwas Neues, irgend ein sehr schönes Geschenkchen — ich weiß nicht was — und erwägen Sie, ob ich Ihnen nicht irgend einen Wunsch erfüllen kann; ich habe ein solches Bedürfniß, von Ihnen einen Wunsch zu hören!
Augenblicklich bin ich elend daran, ich komme nicht recht wieder zu mir, der letzte Anfall war zu hart (am 23ten Dez.) Weihnachten lag ich zu Bett und dachte, daß ich nicht mehr „denken“ dürfe.
Soll ich Ihnen den Klavierauszug von Carmen schicken? Oder macht er eine Störung? — Diese Nacht gieng meine Seele zwischen Ihren Melodien aus Sch<erz> L<ist> und R<ache> herum und war sehr glücklich dabei! Wann erlebe ich das wieder und das matr<imonio> segr<eto> dazu!! Machen wir Pläne!
In Treue Ihr Freund.
183. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Genua, 28. Dezember 1881>
Meine Lieben, seit dem 23ten bin ich krank, es gab einen der allerheftigsten Anfälle, der mich nachdenken gemacht hat — und jetzt komme ich gar nicht recht wieder in Ordnung und lege mich alle Nachmittage wieder zu Bett, trotz allem schönen Wetter. — Verzeihung! Ich habe den letzten Brief, wie ich zu spät merkte, nicht frankirt, ich finde wenigstens die dafür bestimmte Postmarke noch in meinem Portemonnaie. — Auch hier konnte ich ein Paar Geschenkchen machen. Dem Sohn meiner Wirthin, der im Irrenhause ist, habe ich eine schöne Stolle (Pane dolce) geschickt. — Liebe Lisbeth, schreib doch gleich ein Wort an Frau Rothpletz wegen der Übersiedelung der Bücher nach Naumburg. — Tapfer vorwärts in’s neue Jahr, im Vertrauen auf alles alte Gute!
F.
184. An Franz Overbeck in Zürich (Postkarte)
<Genua, 28. Dezember 1881>
Ich wollte Dir und ebenso Frau Rothpletz in den Weihnachtstagen einen Brief schreiben — und nun bin ich krank geworden und, ob ich schon wieder aufgestanden bin, erhole ich mich schlecht und muß mich jeden Nachmittag wieder zu Bett legen. So verzeih dies Kärtchen und bitte auch die verehrte Frau um Nachsicht für mich: möge das neue Jahr Vieles besser machen als das alte und auch mich etwas ausbessern! Also die Bücher fort nach Naumburg! (fast hätte ich gesagt: fort zum Teufel! Wozu habe ich halbblindes Thier noch Bücher! Es ist nur eine Last und namentlich wenn ich denke, wem Alles es Last ist!) Das Geld ist gut angekommen, der alte Paß wirkte wie der allerneueste. — Was Hr. Schmeitzner ableugnet, hat Herr Dr. von Stein (im Gespräch mit Rée) erzählt. — Gersdorff hat auf eine grandiose Art seine Freundschaft mit mir wiederhergestellt. — In Treue Dein
F.N.