1881, Briefe 74–184
140. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Sils-Maria, 21. August 1881>
Lieber Freund, ich habe Overbeck beauftragt, Ihnen den 2. Band von Keller’s ,,gr<ünem> Heinrich“ zuzusenden und bitte Sie das Ganze, als einen Labetrunk nach schwerer Arbeit, aus meiner Hand freundlich anzunehmen. Ich juble mit Ihnen, wenn ich an Ihre Filigran-Partitur denke.
Overbeck schrieb mir jüngst in einer Bewegung, die an ihm selten ist; charakteristisch schien mir dieser Satz „Dein Buch erfüllt mit höchstem Lebensmuthe, weil es so gründlich und ehrlich davon durchdrungen ist, daß zu trösten gar nicht der Beruf der Wahrheiten ist, und alle sancho-pansaartige Begehrlichkeit, mit der man gemeinhin an die Wissenschaft herantritt, niederschlägt“. — Und der gute Rée hat, als Antwort, in der liebenswürdigsten Weise bei meiner Schwester angefragt, ob es erlaubt sei, von Stibbe nach Sils-Maria überzusiedeln. Endlich: Freund Romundt, der sich in Leipzig habilitirt hat, kündigt mir an, daß sein nächstes Werk „die Lehre Kants über Gott, Seele und Unsterblichkeit wieder aufbaue“ — es soll, wie man mir meldet, Bismarck gewidmet werden — — !
In Paris ist eine Ausstellung für Electricität: ich sollte eigentlich dort sein, als Ausstellungsgegenstand, viell<eicht> bin ich in diesem Punkte empfänglicher als irgend ein Mensch, zu meinem Unglücke!
Treulich und dankbar der Ihre F. N.