1881, Briefe 74–184
97. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Genua, 30. März 1881>
Aber, liebster Freund, das war eine Vergiftung! Wahrscheinlich hat man Ihnen gefälschten Wein zu trinken gegeben; denken Sie ja darüber nach, wo Sie dies Gift in den Leib bekommen haben mögen! — Eben las ich in Ihrem Hefte „Carnevale von Venedig“ und zwar zum ersten Male! Sonderbar! das Vorurtheil, es sei viel von meinen Meinungen darin, hatte mich bisher dagegen eingenommen. Jetzt werde ich auf das Angenehmste überrascht: es ist purus Köselitzius, reiner guter und nicht verfälschter Wein aus Ihrem Weinberge! Es thut mir alles so wohl; und ich glaube, es sind sehr nützliche Tendenzen in diesem Hefte ausgesprochen, die nicht nur mir nützlich und wohlthuend erscheinen werden! Z. B.: alle diese Bemerkungen über A<dalbert> Stifter’s Nachsommer! Das könnte manchem Dichter, manchem Leser und manchem, der beides noch nicht ist, recht zu Statten kommen! Ich wünschte, Sie machten sich einmal inmitten Ihrer Arbeit „Ferien“ und schrieben dieses Heft um, mit allem Behagen und ohne jegliche Rücksicht auf das „mein“ und „dein“ zwischen uns Beiden — welches ja, nach der Ethik der Pythagoreer, unter Freunden nicht existirt! Und so soll es sein! Ganz vertraulich und heimlich gesprochen: für wen schrieb ich denn das letzte Buch auf? Für uns: wir müssen uns einen Schatz an Eigenem sammeln, für das Alter! Denn mit dem Gedächtniß ist es nichts, ich habe z. B. den Inhalt meiner frühern Schriften fast vergessen, und finde dies sehr angenehm, viel besser jedenfalls als wenn man alles früher Gedachte immer vor sich hätte und sich mit ihm auseinandersetzen müßte. Giebt es vielleicht doch eine solche Auseinandersetzung in mir, nun, so geht sie im „Unbewußten“ vor sich, wie die Verdauung bei einem gesunden Menschen! Genug: wenn ich meine eignen Schriften sehe, ist es mir als ob ich alte Reiseabenteuer hörte, die ich vergessen hätte. Sehen wir zu, daß wir unser ganzes Leben derartig für uns monumentalisiren — es ist mir ganz gleichgültig und leerer Schall in den Ohren, wenn ein solches Begehren „Eitelkeit“ heißt. Seien wir doch eitel für uns und so sehr als möglich!
Der Übelstand meiner Augen ist groß, jetzt z. B. nach der Arbeit dieses Winters muß ich viele Tage verstreichen lassen, ohne ein Wort zu lesen und zu schreiben; und kaum begreife ich’s, wie ich mit diesem Manuscript fertig geworden bin. Voller Bedürfnisse, etwas zu lernen und recht gut wissend, wo das steckt, was gerade ich zu lernen habe, muß ich das Leben so hinstreichen lassen — wie es meine elenden Organe, Kopf und Augen, fordern! Und es handelt sich nicht um ein Besserwerden! Es wird immer kümmerlicher, und die Dunkelheit nimmt zu!
Also, lieber guter Freund, machen Sie ein Venediger Gedenkbuch, geben Sie es anonym heraus (oder mit einem neuen Namen) und denken Sie daran, wie uns so ein Buch dieses Inhaltes erquickt haben würde, wenn es zu uns versteckten Jünglingen in unsere deutschen Winkel gelangt wäre, damals als wir 20 Jahr alt waren!
Nun noch ein Wort von unsern Bekümmernissen! Herr Otto Busse macht seinen Verwandten und Freunden die größte Sorge (— voller Größenwahn, (in Bezug auf sich und mich!)) und diese wenden sich nun an mich! — meinend, ich hätte ihm etwas in den Kopf gesetzt! Das soll ich nun wieder hinausschaffen! Er hält sich für den Reformator der Deutschen und mich für die „Autorität der Autoritäten“ — kurz: Muhammed und Allah! Er behauptet, daß „wissenschaftliche Werke“ von ihm in meinen Händen seien! für die die Deutschen noch nicht reif seien! u.s.w. Alles unter sieben Siegeln Ihnen anvertraut!
Dann: Herr Schmeitzner behandelt mich nicht artig. Vor 5 Wochen hat er mir ein Kärtchen geschrieben, (mit der allzu sächsischen Wendung „Ei natürlich verlege ich Ihr Buch!“) Seitdem tiefes Schweigen, trotzdem daß ich 2 Briefe und 2 Karten abgesandt habe! Daß ihm eine Ehre widerfährt, wenn er dieses Buch herausgeben darf, davon hat er keine Vorstellung.
Nun möchte ich gern etwas verreisen, um meinen Kopf etwas zu zerstreuen und viel Spazieren zu gehn — es ist dies sehr nöthig, damit ich nicht von meinen Skrupeln aufgefressen werde! (Verfluchte Melancholei!) Aber Correkturbogen! Fast hätte ich Lust, diese ganze Druckgeschichte Herrn Schmeitzner aus den Händen zu nehmen: ich warte nur, daß er mir einen Anlaß giebt. Vielleicht erweise ich ihm eben damit einen großen Dienst: denn wer mag ein solches Buch gerne als Verleger vertreten!
Frau von Wöhrmann hat ihre Söhne kommen lassen — es steht also wohl schlimm! — —
Charron — vorzüglicher Gedanke! Es ist das Erziehungsbuch des alten französischen Adels! — Es lebe unser Stendhal! Ja, die Rangordnung der Geister ist noch nicht gemacht! — P<rosper> Mérimée ist jetzt der best beschimpfte Franzose unter Franzosen aller Parteien! ihr erster großer Erzähler aus diesem Jahrhundert!
Gehen wir unsere Wege nur weiter! Man trifft doch auf mancherlei Gutes dabei! —
Von Herzen Ihr F. N.