1888, Briefe 969–1231a
969. An Paul Deussen in Berlin
Nizza (France) den 3. Januar 1888 pension de Genève
Lieber Freund,
das Jahr hat begonnen, ich schreibe eben zum ersten Male seine drei Achten: was kann ich zu seinen Ehren Besseres thun als meinem alten Freunde Deussen einen Neujahrsbrief zu schreiben? Zumal derselbe in diesem Falle zugleich auch ein Geburtstagsbrief sein wird.
Wie alt man schon ist? Wie jung man noch werden wird?…
Ich habe einen so hohen Begriff von Deiner thätigen und tapfren Existenz, daß es wenig Sinn hat, besondre Wünsche auszudrücken. Wer einen eigenen Willen in die Dinge zu legen hat, über den werden die Dinge nicht Herr; zuletzt arrangieren sich die Zufälle noch nach unsern eigentlichsten Bedürfnissen. Ich erstaune oft, wie wenig die äußerste Ungunst des Schicksals über einen Willen vermag. Oder vielmehr: ich sage mir, wie sehr der Wille selbst Schicksal sein muß, daß er immer wieder auch gegen das Schicksal Recht bekommt, ὑπὲρ μόρον —
Seltsam, daß gerade jetzt mir meine ältesten Freunde wieder in die Nähe gekommen sind (außer Dir zum Beispiel auch Carl von Gersdorff, von dem ich jüngst einen herrlichen Brief hatte) Nämlich zu gleicher Zeit, wo ich meiner radikalen Vereinsamung mir bewußt werde und wo ich, schmerzhaft und ungeduldig, eine menschliche Beziehung nach der andren von mir ablöse, ablösen muß. Im Grunde macht jetzt Alles Epoche bei mir; mein ganzes Bisher bröckelt von mir ab; und wenn ich zusammenrechne, was ich in den letzten 2 Jahren überhaupt gethan habe, so erscheint es mir jetzt immer als ein und dieselbe Arbeit, mich von meiner Vergangenheit zu isolieren, die Nabelschnur zwischen mir und ihr zu lösen. Ich habe so viel erlebt, gewollt und, vielleicht, erreicht, daß eine Art Gewalt noth thut, um wieder fern und los davon zu werden. Die Vehemenz der inneren Schwingungen war ungeheuer; daß dies ungefähr auch aus der Ferne bemerkbar ist, erschließe ich aus den regulären epithetis ornantibus, mit denen man mich seitens der deutschen Kritik behandelt („excentrisch“, „pathologisch“, „psychiatrisch“ et hoc genus omne) Diese Herren, die keinen Begriff von meinem centrum, von der großen Leidenschaft haben, in deren Diensten ich lebe, werden schwerlich einen Blick dafür haben, wo ich bisher außerhalb meines centrums gewesen bin, wo ich wirklich „excentrisch“ war. Aber was liegt daran, daß man sich über mich und an mir vergreift! Schlimmer wäre es, wenn man’s nicht thäte (— es würde mich mißtrauisch gegen mich selber machen)
Jetzt begehre ich für eine Reihe Jahre nur Eins: Stille, Vergessenheit, die Indulgenz der Sonne und des Herbstes für etwas, das reif werden will, für die nachträgliche Sanktion und Rechtfertigung meines ganzen Seins (eines sonst aus hundert Gründen ewig problematischen Seins!)
Für Alles, was Du Deinerseits vorhast, habe ich, wie Du weißt, eine tiefe Sympathie. Auch gehört es zu den wesentlichsten Förderungen meiner Vorurtheilslosigkeit (meines „übereuropäischen Auges“) daß Dein Sein und Wirken mich immer wieder an die einzige große Parallele erinnert, die es zu unsrer europäischen Philosophie giebt. Hier in Frankreich herrscht in Betreff dieser indischen Entwicklung noch immer die alte vollkommene Unwissenheit: so daß z. B. die Anhänger A. Comte’s ganz naiv Gesetze für eine historisch-nothwendige Entwicklung und Folge der philosophischen Hauptdifferenzen construiren, bei denen die Inder gar nicht in Betracht kommen, — Gesetze, denen die indische Entwicklung widerspricht. Aber das weiß Ms. de Roberty nicht (l’ancienne et la nouvelle Philosophie 1887)
Gieb mir irgendwann einmal wieder ein Lebenszeichen, alter Freund; inzwischen empfehle ich, gesetzt, daß Du Lust und Zeit hast Dich mit mir zu unterhalten, Dir etwas von meiner Immoralisten-Litteratur zu Gemüthe zu führen (besonders „die fröhliche Wissenschaft und die Morgenröthe“, wohl verstanden in den neuen Ausgaben: — auch giebt es da dies und jenes zu lachen)
Deiner lieben Frau, welche mir mit ihrer kleinen tapfren und treuen Art sehr gut im Gedächtniß geblieben ist, meinen ergebensten Gruß und Glückwunsch.
Von Herzen
Dein Nietzsche
Mein Wunsch, den Winter einmal wieder an einer gelehrten Stätte Deutschlands zu verleben mit der Nachbarschaft guter Freunde und Bücher (ein Wunsch, der in Hinsicht auf die Ernährungsbedürfnisse meines Geistes sich bisweilen zum Hunger und zur Tortur steigert) ist bisher immer an der force majeure (oder mineure —) meiner Gesundheit gescheitert. Aber „einst wird kommen der Tag“ - - -
970. An Constantin Georg Neumann in Leipzig (Postkarte)
Nice, pension de Genève 3 Jan. 1888
Geehrtester Herr Verleger,
Hier, außer einem guten Gruß und Glückwunsch zum neuen Jahre, nur die Anfrage, ob vielleicht jetzt meine Nota für die ganze Drucklegung bereit ist. — Das, was Sie in der Buchhändler-Anzeige meines Buches gesagt haben, hat meine ganze Billigung; auch verstand ich die Intention, ohne erst einer Erklärung zu bedürfen. — Die Adresse des Herrn Dannreuther in Newjork fehlt mir auch; lassen wir also diese Sendung unterwegs! — Die übersandten Recensionen sind im Grunde gar nicht zu unterschätzen: sie zeigen eine Art Erstaunen und Neugierde. Solche Prädikate wie „excentrisch“ „pathologisch“ „psychiatrisch“ laufen regelmäßig jedem großen Ereigniß in der Geschichte und der Litteratur voraus: ich bin für meinen Theil für solche Worte dankbarer als für irgendein Lob.
Ihr ergebenster
Prof. Dr. Nietzsche
971. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
Nizza den 4. Jan. 1888.
Dein lieber Brief sammt dem Gelde glücklich angelangt; schönsten Dank! Nur ein Wort hinsichtlich des Buchs: es war der Deutlichkeit wegen geboten, die verschiedenen Entstehungsheerde jenes complexen Gebildes, das Moral heißt, künstlich zu isoliren. Jede dieser 3 Abhandlungen bringt ein einzelnes primum mobile zum Ausdruck; es fehlt ein viertes, fünftes und sogar das wesentlichste („der Heerdeninstinkt“) — dasselbe mußte einstweilen, als zu umfänglich, bei Seite gelassen werden, wie auch die schließliche Zusammenrechnung aller verschiedenen Elemente und damit eine Art Abrechnung mit der Moral. Dafür sind wir eben noch im „Vorspiele“ meiner Philosophie. (Zur Genesis des Christenthums bringt jede Abhandl. einen Beitrag; nichts liegt mir ferner, als dasselbe mit Hülfe einer einzigen psychologischen Kategorie erklären zu wollen) Doch wozu schreibe ich das? Dergleichen versteht sich eigentlich zwischen Dir und mir von selbst.
Treulich und dankbar
Dein N.
972. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig (Postkarte)
Nizza (France) pension de Genève 6 Jan. 1888
Werthester Herr Fritzsch, Sie haben mich noch nicht davon benachrichtigt, ob die Bücher für Dr. Georg Brandes in Kopenhagen expedirt sind. Ein Brief des genannten Herrn, der dieser Tage einlief, gab mir darüber Zweifel ein. Hoffentlich ist Nichts verloren gegangen. Ich brauche wohl kaum daran zu erinnern, wie sehr Sie wider Ihr eignes Interesse handeln würden, wenn Sie einen so wohlgemeinten Wink nicht zu würdigen wüßten. Es kostet mich Überwindung genug, meinerseits dafür Sorge zu tragen, daß man mich liest; ich habe das bisher nie gethan, und wenn ich’s jetzt thue, so geschieht es gewiß nicht meinetwegen. — Aber ich nehme an, daß es in der Weihnachtszeit für Sie zu viel Arbeit gab. —
Mit der Bitte, mich umgehend über diesen Punkt ins Klare zu bringen
Ihr ergebenster
Prof. Dr. Nietzsche
973. An Heinrich Köselitz in Venedig
Nizza, den 6. Jan. 1888
Lieber Freund,
Sie haben mir nicht gesagt, ob ein Brief zwischen Venedig und hier verloren gegangen ist: fast schließe ich daraus, daß es geschehen ist und bedaure es tief. Denn, so wunderlich es klingt, die Briefe aus Venedig sind die einzigen jetzt, die ich ohne Mißtrauen und geheime frissons empfange. In Hinsicht auf alle anderen bin ich bis zur Absurdität reizbar und muß sie wörtlich büßen, mit schlaflosen Nächten und gastrisch-hypochondrischen Tierquälereien. Schlechtes Zeichen! Aber dies soll besser werden. Um gleich von dem letzten Briefe zu reden, den ich bekam, vom Dr. G<eorg> Brandes, so brachte er die Meldung, daß die Bücher, welche ich ihm versprochen hatte, nicht eingetroffen sind: kurz, Fritzsch, dieser unverbesserliche Esel, hat nichts gethan, ja mich nicht einmal benachrichtigt, daß er nichts von dem gethan hat, was mein Brief ihm vorschlug. Und ich hatte es in seinem Interesse vorgeschlagen, nachdem er mir seine Noth ausgedrückt hat, irgendwelche Schriftsteller und Gelehrte für mich zu interessiren! Zuletzt ist Dr. B<randes> vielleicht der Einzige, der genug Übung in der Nachrechnung complicirterer Rechen-Exempel der Psychologie hat, um über mich keine grobe Ungereimtheit zu sagen. Seine Briefe sind eminent delikat und französisch, (er sagt von sich „ich bin oft dumm, aber nie im Geringsten bornirt“. Von Taine, den er sehr liebt, gebraucht er die hübsche Wendung in Bezug auf dessen Geschichte der Revolution, die er nicht ganz billigt, „T<aine> bedauert und haranguirt ein Erdbeben“)
Es macht mir Verlegenheit, hier etwas versprochen zu haben, das ich augenblicklich nicht halten kann. Wollen wir Herrn B<randes> einstweilen unsrerseits das Einzige senden, was im Bereiche unsrer Kräfte steht, nämlich jenes Ineditum, dessen Siegelbewahrer Sie sind, liebster Freund? Bitte, lassen Sie ein hübsches Exemplar des vierten Zarathustra nach Kopenhagen abgehn, unter dieser Adresse:
Dr. Georg Brandes
Kopenhagen (Danemark)
St. Anne-Platz 24.
(— er sandte eine sehr gescheute Abhandlung über Zola als Schüler und „Verwandten“ Taines; insgleichen gab es, zu meiner Überraschung, Nachricht über Dr. Rée und sogar über Fräulein Lou, mit großer Auszeichnung für Beide, die er von Berlin her kennt)
Miss Helen Zimmern hat mir von Florenz aus zum Neujahr gratulirt: wissen Sie, die gescheute Engländerin (resp. Jüdin), welche die Engländer mit Schopenh<auer> bekannt gemacht hat. Sie gehört zu den geschätztesten und „bestbezahlten“ Mitarbeitern der Times und der großen Revuen. (Den vorletzten Sommer war sie in Sils-Maria, als meine Tischnachbarin)
Zuletzt will ich nicht verschweigen, daß diese ganze letzte Zeit für mich reich war an synthetischen Einsichten und Erleuchtungen; daß mein Muth wieder gewachsen ist, „das Unglaubliche“ zu thun und die philosophische Sensibilität, welche mich unterscheidet, bis zu ihrer letzten Folgerung zu formulieren.
Vorigen Donnerstag habe ich meinen ersten Besuch in Monte Carlo gemacht, zu einem concert classique (welchem auch der Kaiser von Brasilien beiwohnte) Lauter modernste französische Musik: oder vielmehr, deutlicher zu reden, lauter schlechter Wagner. Ich halte diese pittoreske Musik ohne Ideen, ohne Form, ohne jedwede Naivetät und Wahrheit nicht mehr aus. Nervös, brutal, unausstehlich zudringlich und großthuerisch — und so geschminkt!! Das Eine war eine Art Seesturm, das Andre eine wilde Jagd, das dritte ein Erinnyen-Ballet (zur Oresteia des Aeschylus!!!)
Dies ist décadence…
Dabei gedachte ich wie eines verlorenen Glückes der Musik meines Venediger maestro; der Oktober bei Ihnen war dies Jahr mein einziges Labsal, ich kann Ihnen nicht dankbar genug sein.
Von Herzen Ihr Freund
N.
974. An Georg Brandes in Kopenhagen
Nizza den 8. Januar 1888
Verehrter Herr,
Sie sollten sich gegen den Ausdruck „Culturmissionär“ nicht wehren. Womit kann man dies heute mehr sein, als wenn man seinen Unglauben an Cultur „missionirt“? Begriffen zu haben, daß unsre europäische Cultur ein ungeheures Problem und durchaus keine Lösung ist — ist dieser Grad von Selbstbesinnung, Selbstüberwindung nicht eben heute die Cultur selbst? —
— Es befremdet mich, daß meine Bücher noch nicht in Ihren Händen sind. Ich will es an einer Erinnerung in Leipzig nicht fehlen lassen. Um die Weihnachtszeit herum pflegt diesen Herrn Verlegern der Kopf zu rauchen. Inzwischen möge es mir gestattet sein, Ihnen ein verwegenes curiosum mitzutheilen, über das kein Verleger zu verfügen hat, ein ineditum von mir, das zum Persönlichsten gehört, was ich vermag. Es ist der vierte Theil meines Zarathustra; sein eigentlicher Titel in Hinsicht auf das, was vorangeht und was folgt, sollte sein:
Die Versuchung Zarathustra’s.
Ein Zwischenspiel.
Vielleicht beantworte ich so am besten Ihre Frage in Betreff meines Mitleids-Problems. Außerdem hat es überhaupt einen guten Sinn, gerade durch diesen Geheim-Thür den Zugang zu „mir“ zu nehmen: vorausgesetzt, daß man mit Ihren Augen und Ohren durch die Thür tritt. Ihre Abhandlung über Zola erinnerte mich wieder wie Alles, was ich von Ihnen kennen lernte (zuletzt ein Aufsatz im Goethe-Jahrbuch) auf das Angenehmste an Ihre Naturbestimmung, nämlich für alle Art psychologischer Optik. Wenn Sie die schwierigeren Rechenexempel der âme moderne nachrechnen, sind Sie damit ebenso sehr in Ihrem Elemente als ein deutscher Gelehrter damit aus seinem Elemente herauszutreten pflegt. Oder denken Sie vielleicht günstiger über die jetzigen Deutschen? Mir scheint es, daß sie Jahr für Jahr in rebus psychologicis plumper und viereckiger werden (recht im Gegensatz zu den Parisern, wo Alles nuance und Mosaik wird), daß ihnen alle tieferen Ereignisse entschlüpfen. Zum Beispiel mein „Jenseits von Gut und Böse“ — welche Verlegenheit hat es ihnen gemacht! Nicht ein intelligentes Wort habe ich darüber zu hören bekommen, geschweige ein intelligentes Gefühl. Daß es sich hier um die lange Logik einer ganz bestimmten philosophischen Sensibilität handelt und nicht um ein Durcheinander von hundert beliebigen Paradoxien und Heterodoxien, ich glaube, davon ist auch meinen wohlwollendsten Lesern nichts aufgegangen. Man hat nichts dergleichen „erlebt“; man kommt mir nicht mit dem Tausendstel von Leidenschaft und Leiden entgegen. Ein „Immoralist“? Man denkt sich gar nichts dabei. —
Anbei gesagt: die Formel „document humain“ nehmen die Goncourt für sich in Anspruch, in irgend einer ihrer Vorreden. Aber auch so dürfte immer noch Ms. Taine der eigentliche Urheber sein.
Sie haben recht mit dem „Haranguiren des Erdbebens“: aber eine solche Don-Quixoterie gehört zum Ehrwürdigsten, was es auf der Erde giebt.
Mit dem Ausdruck besonderer Hochschätzung
Ihr
Nietzsche
975. An Ferdinand Avenarius in Dresden
Nizza, pension de Genève den 14. Januar 1888
Hochgeehrter Herr,
es freut mich, Herrn Carl Spitteler bei Ihnen angelangt zu sehen: und just in der Weise, in welcher ich es wünschte und erwartete. (Wissen Sie ihm nicht einen Verleger für eine Sammlung der interessantesten Aesthetica ausfindig zu machen? Er hat mich angefragt in dieser Hinsicht, — aber ich lebe, was Verleger angeht, auf dem Monde)
Inzwischen ist mir eine Unterlassungssünde eingefallen. Ich hätte Ihnen schlechterdings einen Dritten noch empfehlen sollen, Herrn Dr. Carl Fuchs (in Danzig: diesen Adresse genügt). Das ist in allen Problemen der musikal<ischen> Aesthetik und Technik der gelehrteste Kopf, den ich kenne, ein Philosophen- und Musikerkopf in Einem; überdies einer unserer geistreichsten Schriftsteller. (— ich empfehle Niemanden, der mich irgendwann einmal gelangweilt hat: das vergebe und vergesse ich nie).
Mit meinem angelegentlichsten Gruss
und einem Glückwunsch für Sie
und Ihre Zeitung
Dr. Friedrich Nietzsche
Prof.
N. B. Ich schreibe Ihnen das Unheil Schopenhauers über die Norma ab: es scheint, dass Sch<openhauer> vom Theater her durch Nichts einen grösseren Eindruck bekommen hat als durch dies Werk. Die Welt als Wille und Vorstellung, zweiter Band, S. 498 der Gesamtausgabe:
Hier sei es erwähnt, dass selten die acht tragische Wirkung der Katastrophe, also die durch sie herbeigeführte Resignation und Geisteserhebung des Helden, so rein motiviert und deutlich ausgesprochen hervortritt, wie in der Oper Norma, wo sie eintritt in dem Duett Qual cor tradisti, qual cor perdesti, in welchem die Umwendung des Willens durch die plötzlich eintretende Ruhe der Musik deutlich bezeichnet wird. Ueberhaupt ist dieses Stück, — ganz abgesehen von seiner vortrefflichen Musik, wie auch andererseits in der Diktion, welche nur die eines Operettentextes sein darf, — und allein seinen Motiven und seiner inneren Oekonomie nach betrachtet, ein höchst vollkommenes Trauerspiel, ein wahres Muster tragischer Anlage der Motive, tragischer Fortschreitung der Handlung und tragischer Entwicklung, zusammt der über die Welt erhebenden Wirkung dieser auf die Gesinnung des Helden, welche dann auch auf die Zuschauer übergeht; ja, die hier erreichte Wirkung ist um so unverfänglicher und für das wahre Wesen des Trauerspiels bezeichnender, als keine Christen, noch christliche Gesinnungen darin vorkommen.
— (Vielleicht könnte auch diese Stelle Schopenhauers etwas dazu dienen, solchen unanständigen Verkleinerern Wagners, wie sie auf S. 79 Ihrer Zeitung erwähnt werden, den Mund zu stopfen)
976. An Heinrich Köselitz in Venedig
Nizza, den 15. Jan. 1888.
Lieber Freund,
das letzte Wort Ihres Briefes überrascht und betrübt mich über alle Maaßen. Wie geht doch dergleichen zu? Wie unsinnig, wie zufällig erscheint Einem Alles! Mir ist in solchen Fällen immer, als ob ich aufwachte, und als ob ich im Grunde gar nicht lebte, sondern träumte. Ich weiß mich mit keiner Art Realität mehr zu arrangieren. Wenn ich es nicht zu Stande bringe, sie zu vergessen, bringt sie mich um. Ich erschrecke, wenn ich mir denke, wie Sie sich befinden mögen. Unsre Haut, unsre Einsiedlerhaut ist nicht Fell genug für solche Dinge, — um nichts vom Herzen zu sagen.
— Mir fällt der stupide Egoism aufs Gewissen mit dem ich meinen letzten Brief an Sie geschrieben habe, ohne Ihnen etwas Andres zu erzählen als meine incurata und incurabilia. Sonderbar! Nicht in der schlechtesten Zeit meiner Gesundheit ist mir das Leben so sehr als Schwierigkeit erschienen wie jetzt. Es giebt Nächte, wo ich mich auf eine vollkommen demüthigende Weise nicht mehr aushalte. Trotzalledem: es bleibt so Vieles noch zu thun (Alles sogar! —) Folglich wird man’s aushalten. Zu dieser „Weisheit“ bringe ich’s wenigstens den Vormittag.
— Musik giebt mir jetzt Sensationen, wie eigentlich noch niemals. Sie macht mich von mir los, sie ernüchtert mich von mir, wie als ob ich mich ganz von Ferne her überblickte, überfühlte; sie verstärkt mich dabei, und jedes Mal kommt hinter einem Abend Musik (— ich habe 4 Mal Carmen gehört) ein Morgen voll resoluter Einsichten und Einfälle. Das ist sehr wunderlich. Es ist als ob ich in einem natürlicheren Elemente gebadet hätte. Das Leben ohne Musik ist einfach ein Irrthum, eine Strapatze, ein Exil.
— Inzwischen hat sich in mir Ihre Pastorale- Musik mit dem Nachmittagslicht von San Michele in mir verschmolzen: ich möchte Beides um mein Leben gern noch einmal Wiederhören. Nichts Lieberes kann ich mir denken, als daß Sie ein Finale „wälzen“.
— Wälzen Sie nicht auch ein wenig volumina, ich meine Schreibpapier-Blätter? Herr Avenarius hat die letzten Nummern des „Kunstwarts“ gesandt, ersichtlich, um Herrn Spitteler als arrivé zu präsentieren.
— Fritzsch ist von mir aufs Neue über die Sendung nach Kopenhagen befragt worden. Keine Antwort. Dr. B<randes> hat gestern Abend gemeldet, daß Nichts angelangt sei. Ich nehme an, daß die Venediger Sendung unmittelbar nach Abgang seines Briefes in seine Hände gelangt sein wird. Meinen besten Dank für Ihre Bemühung, lieber Freund! — (Der Brief war vom 11. Januar.)
Er erzählt, unter Anderem, daß er jetzt der angefeindetste Mensch im ganzen Norden sei, und das seit seiner langen letzten Fehde mit Björnson, (bei der übrigens auch alle deutschen Zeitungen gegen Brandes Partei genommen haben: ein schönes Zeichen der Zeit!) Haben Sie nicht von Björnson’s Drama „der Handschuh“ gehört, von seiner Propaganda für die Virginität der Männer und von seinem Bund mit den weiblichen Fürsprecherinnen der „sittlichen Gleichheits-Forderung“? (— dies ist die Formel) In Schweden haben die tollen Frauenzimmer große Vereine geschlossen, in welchen sie versprechen, nur „jungfräuliche Männer zu heirathen“. (— also garantirt, wie Uhren, widrigenfalls usw)
B<randes> jammert über die gräßliche Uniformität des deutschen Lebens; das deutsche Schriftstellerthum vom Verlegerthum erstickt; alle guten Köpfe in den Generalstab oder die Administration gehend (— „Sie sind ohne Zweifel der anregendste aller deutschen Schriftsteller“. Ungefähr das Gleiche hat mir Ms. Taine gesagt)
Ihre Worte über „reaktive Musik“ haben mich sehr interessirt; der Gesichtspunkt könnte deutlicher sein als „klassisch“ und „romantisch“, und vielleicht der selbe. Sehen Sie, bitte, noch Hasse an, das Vorbild Mozarts. Absolute Herrschaft des Wissens um die delikatesten Bedingungen, welche eine schöne Stimme an die Melodie stellt …
In treuer Freundschaft Ihr N.
Eben langt ein Werk des Dr. Brandes bei mir an, das er angekündigt hatte: Aufsätze über Renan, Flaubert, de Goncourt, Turgenjew, Ibsen, St. Mill usw — feines Zeug, wie es scheint.
977. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig (Postkarte)
<Nizza> 22 Januar <1888>
Werthester Herr Verleger, ich begreife nicht, warum keine Nachricht von Ihnen da ist, nachdem ich dringend mir eine solche ausgebeten habe. Sie haben mir immer noch nicht gemeldet, ob die Bücher an Hrn. Dr. G. Brandes abgegangen sind. Inzwischen hat der genannte Herr mir seinerseits seine Werke zum Geschenk gemacht: ich möchte gerne annehmen, daß dies bereits eine Antwort auf die In-Empfangnahme der meinigen ist. Daß es auch in Ihrem Interesse liegt, wenn der freisinnigste und geschätzteste Schriftsteller des Nordens sich gründlich mit meinen Ideen bekannt macht (— und er hat mir dies versprochen), braucht nicht wiederholt zu werden. Ich glaube Ihnen gar keine angenehmere Mittheilung machen zu können. (Wer hat Ihnen denn Deutscher Seits eine Besprechung der Schriften in Aussicht gestellt? Ich hörte gerne die Namen)
Ihr Nietzsche
978. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Nizza, 23. Januar 1888>
Verzeihung, meine liebe Mutter, daß ich auch heute nur ein Kärtchen schicke, um mich für Deinen gütigen Brief zu bedanken. Ich habe die Augen ganz und gar für meine Arbeit nöthig gehabt und bin infolge davon ein wenig außer Verbindung mit aller Welt. Das Wetter war bisher sehr schön; sein Einfluß auf mein Gesammtbefinden der günstigste (nachdem mir die erste Hälfte des Winters durch trübe Zustände des Wetters und der Gesundheit fast verloren gegangen ist…) Es gäbe jetzt alles Mögliche hier zu sehn und zu hören: aber Dein Geschöpf hat keine Zeit dafür. Wir sind auf der Höhe der Saison; die großen Rennen; es wimmelt von großen Personnagen; glänzendes Theater; der Carneval vor der Thür; und immer das reinste blaue sonnige Wetter, das man sich wünschen kann. Nächstens bekommst Du einen langen Brief: für heute entschuldige mich!
In Liebe Dein F.
979. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Entwurf)
<Nizza, 29. Januar 1888>
Lenbach
Deine Haus-Sorge
Köselitz: Gesundheit
kein Ort mehr, wo ich in D<eutschland> leben möchte: warten —
meine Gesundheit immer noch absolut abhängig vom hellen Himmel und der Trockenheit der Luft
ich habe jetzt seit 10 Jahren nicht einen Laut von ächter Sympathie gehört und lauter zu viel — — —
Ich bin so froh, daß ich wieder habe arbeiten können: oder anders ausgedrückt, daß mein Geist wieder den Muth hatte zu der Aufgabe, in deren Dienst ich bisher gelebt habe. Die Zeiten, wo dieser Muth fehlt, sind über die Maaßen schwer zu überwinden; und da, nach reichlichster Erfahrung geurtheilt, kein M<ensch> einen Begriff hat, worum es sich bei mir handelt und mit was für einer Last <ich> mir das Leben schwer gemacht habe, so weiß auch Niemand, womit man mich etwas <zu> erholen und ermuthigen vermöchte. Meine Versuche in dieser Hinsicht — im Grunde alle meine Reisen nach Deutschland seit 10 Jahren — sind mir ins Gegentheil umgeschlagen, als förmliche Niederlagen und Demüthigungen, deren Consequenz an meiner Gesundheit und leider auch an <meiner> Erinnerung ich immer erst spät losgeworden bin. Ich bin jetzt vorsichtiger… ich hoffe endlich dies absurde Bedürfniß, von den Mitmenschen etwas zu wollen, was sie mir absolut nicht geben könnten, — Erholung, Erquickung, Ermuthigung — losgeworden zu sein. Im Grunde ist es eine Tragödie; das Mißverhältniß ist zu groß geworden. Ich habe diesen Deutschen mitten in der Periode ihres geistigen Niedergangs Werke ersten Ranges gegeben, um deren willen die Nachwelt vielleicht diesem Zeitalter verzeihen wird, daß es dagewesen ist: habe ich auch nur ein Wort tiefen Dankes oder nur den Millionstel Theil der Ehre erfahren, auf den ich dafür Anspruch hätte?
Ihr habt alle keinen Glauben an mich — meine Mutter ebenso wenig wie meine Schwester
Ich wünsche durchaus, mich nicht wieder der Gefahr auszusetzen, in einem Augenblick, wo ich stolz darauf bin, etwas Unsterbliches gethan zu haben, beschimpft, beschmutzt, verhöhnt zu werden — Dergleichen vergißt man nie: <es> wurmt den wohlwollendsten Charakter.— —
Wer kommt denn neben mir in diesem Zeitalter in Betracht?.. Aber ich bin von aller Welt preisgegeben… <Ich> habe keine Lust, mir das zu Gemüth zu führen. Seit 10 Jahren wirkt jede Berührung mit dem deutschen Norden auf mich wie eine Niederlage: Du kannst Dir das nicht vorstellen, welchen Eindruck es auf mich gemacht hat, nach den fürchterlichsten Jahren der tiefsten Gesundheits-Erschütterung, nachdem ich das tiefste größte Werk des ganzen J<a>hr<hundert>s hervorgebracht hatte, so behandelt worden zu sein, wie ich jahrelang behandelt worden bin. Dergleichen vergißt man nicht: und so wie jetzt Alles steht, ist nichts mehr wieder gut zu machen.
980. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
Nizza den 30. Januar 1888
Meine liebe Mutter, es scheint mir, daß es heute wieder heller und besser steht. Gestern habe ich Dir, wenn ich mich recht erinnere, einen traurigen Geburtstagsbrief geschrieben. Ich war halbtodt und müde vor vielen Schmerzen. Auch stand der Himmel voll dicker Schneewolken. Ich glaube, so würde ich mich oft fühlen, wenn ich den Winter im Norden lebte: denn ich bin ein schwermüthiges Thier und habe mehr als Andere den Sonnenschein jeder Art noth. Verzeihung!
Dein altes Geschöpf
981. An Elisabeth Förster in Asuncion (Entwurf)
<Nizza, vermutlich Ende Januar 1888>
Liebe Schw<ester>, Dein eben erhaltener Brief legt so unverkenntlich von einem so guten Willen in Hinsicht auf mich Zeugniß ab, daß ich mir von Neuem vornehme, auch meinerseits in diesem etwas extremen Falle an Nichts fehlen zu lassen. Zuletzt bin ich viell<eicht> auf nichts mehr durch mein ganzes Leben eingeschult; im Grunde — — —
Ich habe mich nie darum bemüht, von Kindesbeinen an, bei M<enschen>, mit denen ich umgehe, meine eignen Ansichten und Wünschbarkeiten anzupflanzen noch weniger habe ich sie bei ihnen vorausgesetzt. Es that mir im Grunde zu wohl wenigstens von Zeit zu Zeit von mir selber loszukommen, durch irgend einen Verkehr. Glücklicher Weise fehlt es mir nicht völlig an einem solchen Verkehre: ich wünsche mich nicht verdoppelt oder verhundertfacht.
Diese an sich bedenkliche Sache ist freilich im Verlauf meines Lebens auf den Gipfel gekommen, daß fast alle mir bekannten und befreundeten M<enschen> nachgerade in das mir fremdeste Parteilager abgeschwenkt sind (z. B. auch W<agner> dessen letzte 6 Jahre ich als eine ungeheuerliche Entartung empfunden habe) Wo sie verehren, verachte ich. Seitdem agacirt mich der Umgang mit „alten Bekannten“. Die unbekanntesten gleichgültigsten M<enschen> sind mir recht: das ist der Vorzug z. B. von Nizza. Auch bin ich hoffnungslos in diesem Punkte, wie als ob ich es je anders haben würde. Wer kann mir nur ein Tausendstel von Leidenschaft und Leiden entgegenbringen, um etwas von dem zu errathen, was ich will? Oder muß?
Thatsächlich empfinde ich zwischen uns nicht einmal einen Gegensatz sondern bloß die vollkommene Fremdheit (— denn Gegensätzlichkeit wäre etwas ganz Artiges und Einfaches — ich liebe Gegensätzlichkeit.)
Ich wünschte, nicht in dem Maaße durch ein — — —
Das sehr innerliche und schmerzhaft-vereinsamte Leben, das ich bisher gelebt habe, hat nachgerade eine Vereinsamung mit sich gebracht, gegen die es kein Heilmittel mehr giebt. Mein liebster Trost ist immer noch der, der Wenigen zu gedenken, die es unter ähnlichen Verhältnissen ausgehalten haben, ohne zu zerbrechen und eine hohe und gütige Seele dabei sich bewahrt haben.
982. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig (Entwurf)
<Nizza, Ende Januar 1888>
Herr Fr<itzsch> Sie setzen mich in Erstaunen. Was soll ich mit Ihnen anfangen? Waren Sie krank? Ich habe jetzt drei Mal eine Antwort von Ihnen verlangt.
Sie haben die Ehre, mit einem der ersten Geister des J<ahr>h<undert>s zu thun zu haben — und Sie benehmen sich gegen mich, wie Sie es sich gegen Niemanden erlauben dürfen. Seit den zwei Jahren, da ich wieder mit Ihnen im Verkehr bin, haben Sie meinen Stolz oft verletzt.
— Erwägen Sie, ob Sie wollen, daß das mein letztes Wort zu Ihnen ist.
Nun gut, das ist Ihre Sache. Ich enthalte mich jedes Worts darüber. Aber meine Sache ist, daß Hr. Dr. <Brandes> die Bücher, die ich ihm versprochen habe, bekommt.
Senden Sie mir die Rechnung für dieselben umgehend. Sie sollen nicht auf die Bezahlung zu warten haben.
Die Adresse des Herrn ist: — — —
983. An Heinrich Köselitz in Venedig
Nizza, den 1. Febr. 1888.
Lieber Freund,
wie nahe sind Sie mir diese ganze Zeit gewesen! wie viel habe ich mir ausgedacht, Thörichtes und Kluges, wo Sie immer als Hauptperson mitspielten! Es gab eine schöne chance: die letzte Ziehung der Lotterie Nizza’s, — und wenigstens eine halbe Stunde habe ich mir den kleinen dummen Luxus erlaubt, als sicher anzunehmen, daß ich das große Loos gewinnen würde. Mit dieser halben Million ließe sich viel Vernunft auf Erden wieder herstellen; zum Mindesten würden wir Beide mit mehr Ironie, mit mehr „Jenseits“ der Unvernunft unsres Daseins zusehn — und im Grunde gehört, um solche Dinge zu machen wie Sie und ich sie machen und um sie ganz gut und göttlich zu machen, Eins dazu, Ironie (also — denn so lautet die Logik auf Erden — eine halbe Million, die Prämisse der Ironie…)
Der Mangel an Gesundheit, an Geld, an Ansehn, an Liebe, an Schutz — und dabei nicht zum tragischen Brummbär werden: dies ist die Paradoxie unsres jetzigen Zustands, sein Problem. Bei mir ist ein Zustand von chronischer Verwundbarkeit eingetreten, an dem ich in guten Zuständen eine Art Revanche nehme, die auch nicht vom Schönsten ist, nämlich als ein Exceß von Härte. Zeugniß meine letzte Schrift. Doch nehme ich das Alles mit der Klugheit eines raffinirten Psychologen hin und ohne die geringste moralische Verurtheilung: oh wie lehrreich es ist, in einem solchen extremen Zustande zu leben, wie der meinige ist! Ich verstehe jetzt erst die Geschichte, ich habe niemals tiefere Augen gehabt als in den letzten Monaten.
Lieber Freund, Ihre psychologische Nachrechnung über den Einfluß Venedigs ist richtig. Hier, wo man unter so vielen Gästen und Patienten beständig von der Idiosynkrasie bestimmter Clima-Einwirkung reden hört, habe ich allmählich das Cardinale dieser Frage begriffen. In Hinsicht auf das optimum, auf die Verwirklichung unsrer allerpersönlichsten Wünsche (— unsrer „Werke“) muß man auf diese Stimme der Natur hören: gewisse Musik gedeiht ebensowenig unter feuchtem Himmel wie gewisse Pflanzen. Eben erzählte mir meine Tischnachbarin, daß sie bis vor 2 Wochen in Berlin krank gelegen sei, unter der größten Besorgniß der Ärzte und nicht mehr fähig, von einer Straßenecke zur andern zu gehn. Jetzt — ja was sich verändert hat, sie weiß es nicht zu sagen: aber sie läuft und ißt und ist heiter und begreift nicht mehr, daß sie krank war. Da sich dieselbe Geschichte bei ihr schon drei Mal zugetragen hat, so schwört sie auf „Lufttrockenheit“ als Recept gegen alle Übel der Seele (— denn sie hat an einer Art melancholischer Desperation gelitten). — Daß Sie jahrelang Venedig als Contrastclima (zum Clima Ihrer Jugend) wohlthätig und gleichsam ölhaft calmirend empfunden haben, ist vollkommen correkt: ich verhandelte im Engadin mit Ärzten über diesen principielle Frage: daß dasselbe Clima als Reiz- und Contrastclima — also nur für eine bestimmte Zeit verordnet — geradezu den entgegengesetzten Einfluß hat, wenn es als Dauerklima benutzt wird; daß z. B. der Engadiner unter dem beständigen Einflüsse seines Climas ernst, phlegmatisch, etwas anämisch wird, während der Gast dieses Climas von ihm eine außerordentliche Belebung und Gesammtverstärkung des animalischen Seins davonträgt. Moral: Sie sollten der Gast Venedigs sein (— gewesen sein —!) Es thut mir ordentlich weh, das zu sagen, das auch nur zu begreifen: denn so Vieles ist auf eine himmlische und würdige Weise daselbst geordnet, wie es zunächst nirgendswo für Sie zu finden ist. Ein Aufenthalt in Corsica? Man hat mir von Bastia erzählt, daß man daselbst sich in Pension kleiner Hôtels geben könne zu 3—4 frs. pro Tag. Es haben so viele Flüchtlinge aller Länder in Corsica gelebt (namentlich italiänische Gelehrte usw.) Eben ist die Eisenbahn von Bastia nach Corte eröffnet (1. Febr. 1888). Die große Bescheidenheit der corsischen Lebensweise, die Simplicität der Sitte würde unser-Einem daselbst zu Gute kommen. Und — was ist man dort weit weg von der „Modernität“! Vielleicht reinigt und stärkt sich dort die Seele und wird stolzer… (— ich mache mir nämlich klar, daß man jetzt weniger leiden würde, wenn man stolzer wäre: Sie und ich, wir sind nicht stolz genug…)
In Liebe und Treue
Ihr N.
Vergebung für einen Wink! Eine Übersiedelung nach Corsika hätte in den Augen Ihrer verehrten Angehörigen den Sinn (die Vernunft) eines unabweislichen Versuchs: denn man wird von Ihrer corsischen Oper wissen. — (Hinreisen; von dort aus das fait accompli melden) Corte wäre ein Winter- und Sommeraufenthalt. Denken Sie ein wenig voraus: 5 Jahre Corsica wäre ein grandioser Contrast zu 5 Jahren Venedig, eine Cultur..
An Fritzsch habe ich 3 Briefe geschrieben in der Sache Brandes, jedes Mal mit der dringenden Bitte um Antwort. Er schweigt.
984. An Franz Overbeck in Basel
Nizza den 3. Februar 1888.
Lieber Freund,
hier ist endlich die Rechnung des Herrn C. G. Naumann: darf ich Dich bitten, dieselbe mit Hülfe des dazu deponirten Geldes zu berichtigen? Eile thut nicht noth; ich mache mir ein Gewissen daraus, Dich mit solchen Anliegen in Deiner Arbeits-ruhe zu stören. —
Auch ich bin sehr in Thätigkeit; und die Umrisse der ohne allen Zweifel ungeheuren Aufgabe, die jetzt vor mir steht, steigen immer deutlicher aus dem Nebel heraus. Es gab düstere Stunden, es gab ganze Tage und Nächte inzwischen, wo ich nicht mehr wußte, wie leben und wo mich eine schwarze Verzweiflung ergriff, wie ich sie bisher noch nicht erlebt habe. Trotzdem weiß ich, daß ich weder rückwärts, noch rechts, noch links weg entschlüpfen kann: ich habe gar keine Wahl. Diese Logik hält mich jetzt allein aufrecht: von allen andern Seiten aus betrachtet ist mein Zustand unhaltbar und schmerzhaft bis zur Tortur. Meine letzte Schrift verräth etwas davon: in einem Zustande eines bis zum Springen gespannten Bogens thut einem jeder Affekt wohl, gesetzt, daß er gewaltsam ist. Man soll jetzt nicht von mir „schöne Sachen“ erwarten: so wenig man einem leidenden und verhungernden Thiere zumuthen soll, daß es mit Anmuth seine Beute zerreißt. Der jahrelange Mangel einer wirklich erquickenden und heilenden menschlichen Liebe, die absurde Vereinsamung, die es mit sich bringt, daß fast jeder Rest von Zusammenhang mit Menschen nur eine Ursache von Verwundungen wird: das Alles ist vom Schlimmsten und hat nur Ein Recht für sich, das Recht, nothwendig zu sein. —
Habe ich nichts Besseres zu schreiben? Es sind mir schöne Zeichen von Pietät und tiefer Erkenntlichkeit seitens mehrerer Künstler zugekommen: darunter Dr. Brahms, H. von Bülow, Dr. Fuchs und Mottl. Insgleichen hat ein geistreicher und streitbarer Däne, Dr. G. Brandes, mehrere Ergebenheits-Briefe an mich geschrieben: erstaunt, wie er sich ausdrückt, von dem ursprünglichen und neuen Geiste, der ihm aus meinen Schriften entgegenwehe und dessen Tendenz er als „aristokratischen Radikalismus“ bezeichnet. Er nennt mich den bei weitem ersten Schriftsteller Deutschlands. — Daß Gersdorff in der gründlichsten und rechtschaffensten Weise sein Verhältniß zu mir wiederhergestellt hat, habe ich Dir wohl schon geschrieben? Ich bedaure, nicht das Gleiche von Rohde melden zu können. Auf zwei Briefe, die ich mit dem herzlichsten Willen, ihm wohlzuthun und den vorgekommenen Exceß vergessen zu machen geschrieben habe, hat er nicht geantwortet; ebensowenig auf die Zusendung meines letzten Buches. Das macht ihm keine Ehre: aber er wird krank sein, er steckt in einer schlechten Haut. — Von Paraguay giebt es sehr beruhigende Nachrichten: die Entwicklung der ganzen an sich so gewagten Unternehmung kann nicht anders als glänzend genannt werden. In der neuen Colonie sind c. 100 Personen bereits in Thätigkeit; darunter mehrere sehr gute deutsche Familien (z.B. die Mecklenburger Baron Malzahn’s); meine Angehörigen gehören zu den größten Grundbesitzern in Paraguay; der Einfluß Dr. Försters ist, wie ich ganz indirekt und zufällig gehört habe, derartig gewachsen, daß eine Anwartschaft auf die nächste Präsidentschaft der Republik durchaus nicht außer der Wahrscheinlichkeit liegt. Daß er und ich eine Anstrengung sonder Gleichen zu machen haben, um uns nicht direkt als Feinde zu behandeln, kannst Du errathen… Die antisem. Blätter fallen über mich in aller Wildheit her (— was mir hundert Mal mehr gefällt als ihre bisherige Rücksicht) So viel für heute! Mit besten Wünschen für Dich und Deine liebe Frau
Dein N.
985. An Josef Viktor Widmann in Bern
Nizza, Pension de Genève, den 4. Febr. 1888.
Hochgeehrter Herr Doctor,
die Besprechung meiner Litteratur durch Herrn Spitteler hat mir großes Vergnügen gemacht. Was für ein feiner Kopf! Und wie gern man sich von ihm tadeln läßt! Er beschränkt sich aus guten Gründen fast ganz auf das Formale: er läßt die eigentliche Geschichte hinter dem Gedachten, die Leidenschaft, die Katastrophe, die Bewegung gegen ein Ziel, gegen ein Verhängniß hin einfach bei Seite: — das kann ich nicht genug loben, darin ist wirkliche delicatezza. Es fehlt nicht an Uebereilungen. Er hat ersichtlich die Schriften zum ersten Mal gelesen (und nicht einmal immer gelesen —). Umsomehr bewundere ich die Sicherheit des ästhetischen Taktes, mit der er die Form der verschiedenen Bücher und Epochen von einander abhebt. Ich bin sehr unzufrieden damit, daß „Jenseits“ unberücksichtigt geblieben ist: Damit fehlte ihm eigentlich der Boden unter den Füßen, um über die letzterschienene „Streitschrift!“ (Genealogie der Moral) mitzureden.
Die Schwierigkeit meiner Schriften liegt darin, daß es in ihnen ein Uebergewicht der seltneren und neuen Zustände der Seele über die normalen giebt. Ich lobe das nicht; aber es ist so. Für diese noch ungefaßten und oft kaum faßbaren Zustände suche ich Zeichen; es scheint mir, daß ich darin meine Erfindsamkeit habe. Nichts liegt mir ferner, als der Glaube an einen „allein selig machenden Stil“, an den, wenn ich recht verstehe, Herr Spitteler glaubt? Hat nicht die Absicht einer Schrift nicht immer erst das Gesetz ihres Stils zu schaffen? Ich verlange, daß, wenn diese Absicht sich ändert, man auch unerbittlich das ganze Prozedurensystem des Stils ändert. Dies habe ich zum Beispiel im „Jenseits“ gethan, dessen Stil meinem früheren Stil nicht mehr ähnlich sieht: die Absicht, das Schwergewicht war verlegt. Dies habe ich nochmals in der letzten „Streitschrift“ gethan, wo ein Allegro feroce und die Leidenschaft nue, crue, verte an Stelle der raffinirten Neutralität und zögernden Vorwärtsbewegung vom „Jenseits“ getreten ist. Es ist möglich, daß Herr Nietzsche mehr Artist ist, als Herr Spitteler es uns glauben machen möchte…
Mit meinem verbindlichsten Dank und Gruß
Ihr
Nietzsche.
986. An Josef Viktor Widmann in Bern (Postkarte)
<Nizza, 4. Februar 1888>
Nachträglich zu meinem eben abgesandten Brief.
Wir wollen die Neujahrsnummer an die vier Adressen lieber nicht schicken. Ich ärgere mich über die Taktlosigkeit des letzten Satzes. Andre würden es noch mehr thun…
N.
987. An Carl Spitteler in Basel (Entwürfe)
Nizza, 10. Februar 1888 oder kurz davor
das ist die Absurdität meiner Lage: ich habe seit 10 Jahren lauter Meisterwerke hervorgebracht — und man will, daß ich mich ihretwegen entschuldigen soll
ich habe meine ungeheure Sache so kühn, so deutlich, mit so starken Gebärden vorgebracht, wie ich noch nie etwas gesagt habe. Ich habe Accente des Zorns, des Hasses darin, die mir unfaßbar sind.
aber ich bin indignirt über die leichtfertige Weise, sich mit meinem letzten Werke auseinanderzusetzen. Haben Sie einen Begriff davon, was ich geleistet habe? — Aber Sie haben keinen Begriff von mir.
<P. Michaelis’ Rezension von „Jenseits von Gut und Böse“, National-Zeitung, Berlin 4. Dezember 1886, ist> die achtbarste Recapitulation meines Gedankengangs, die ich bisher gelesen habe: daß sie mit Abneigung gemacht ist, verarge ich dem Referenten durchaus nicht: — ihre relative Objektivität ist mir um so ehrenwerther (der schließliche Versuch, den er macht mich als Symptom einer gegenwärtigen, socialen Strömung zu verstehn, liegt natürlich abseits von meinen Interessen)
988. An Carl Spitteler in Basel
Nizza den 10. Februar 1888. (Pension de Genève)
sehr geehrter Herr,
haben Sie vielleicht die Neujahrs-Beilage des „Bund“ zu sehen bekommen? Ich habe mich dafür bei dem ausgezeichneten Redakteur des „Bund“ bedankt, ein wenig ironice, wie billig. —
Herr Spitteler hat eine feine und angenehme Intelligenz; leider lag, wie mir scheint, die Aufgabe selbst in diesem Falle zu sehr abseits und außerhalb seiner gewohnten Perspektiven, als daß er sie auch nur gesehn hätte. Er redet und sieht Nichts als Aesthetica: meine Probleme werden geradezu verschwiegen, — ich selbst eingerechnet. Es ist nicht ein einziger wesentlicher Punkt genannt, der mich charakterisirt. Und zuletzt fehlt es auch im Reiche des Formalen, zwischen vielem Artigen, nicht an Übereilungen und Fehlgriffen. Zum Beispiel: „einen Anti-Strauß hat nur ein Professor begehn können“ (— womit etwa das Urtheil Karl Hillebrands in „Völker, Zeiten und Menschen“ zu vergleichen wäre, insgleichen das Unheil Bruno Bauers und ungefähr aller tieferen Naturen, die mir damals ihren Dank und ihre Verehrung ausgedrückt haben) Oder: „die kurzen Sprüche gerathen ihm am wenigsten“ (— und ich Esel habe mir eingebildet, daß seit Anfang der Welt Niemand eine solche Gewalt über den prägnanten Spruch gehabt hat wie ich: Zeugniß mein Zarathustra) Zuletzt findet Herr Spitteler gar vom Stile meiner Streitschrift, er sei das Gegentheil eines guten; ich würfe Alles auf’s Papier, wie es mir gerade durch den Kopf gienge, ohne mich auch nur zu besinnen. Es handelt sich um ein Attentat auf die Tugend (oder wie man’s nennen will); ich spreche mit einer leidenschaftlichen und schmerzlichen Kühnheit von dreien der schwersten Probleme, die es giebt und in denen ich am längsten zu Hause bin; ich schone dabei, wie es in solchen Fällen der höhere Anstand will, mich selbst so wenig als irgend was und wen; ich habe mir dazu eine neue Gebärde von Sprache erfunden für diese in jedem Betracht neuen Dinge — und mein Zuhörer hört wieder nichts als Stil, noch dazu schlechten Stil und bedauert am Ende, seine Hoffnung auf Nietzsche als Schriftsteller sei damit bedeutend gesunken. Mache ich denn „Litteratur“? — Er scheint selbst meinen Zarathustra nur als eine höhere Art von Stilübung zu betrachten (—das tiefste und entscheidendste Ereigniß — der Seele, mit Erlaubniß! — zwischen zwei Jahrtausenden, dem zweiten und dem dritten —)
Ein letztes Fragezeichen: warum ist mein „Jenseits“ verschwiegen? Ich weiß sehr wohl, daß dasselbe als verbotenes Buch gilt — aber trotzalledem enthält es den Schlüssel zu mir, wenn es einen giebt. Man muß es zuerst lesen. (Ich lege zwei Besprechungen dieses Buchs bei: die des Dr. Widmann und die der Nationalzeitung. Letztere, abgeneigt und unehrerbietig, wie sie ist, stellt trotzdem den Gedankengang des Buchs mit leidlicher Deutlichkeit hin)
Ihnen, werther Herr, zu Dank verpflichtet und, wie ich hoffe, nicht zum letzten Male
Friedrich Nietzsche
989. An Reinhart von Seydlitz in Cairo
Nizza, pension de Genève den 12. Februar 1888.
Lieber Freund,
das war kein „stolzes Schweigen“, das mir inzwischen den Mund fast gegen Jedermann verbunden hat, vielmehr ein sehr demüthiges, das eines Leidenden, der sich schämt zu verrathen, wie sehr er leidet. Ein Thier verkriecht sich in seine Höhle, wenn es krank ist; so thut es auch la bête philosophe. Es kommt so selten noch eine freundschaftliche Stimme zu mir. Ich bin jetzt allein, absurd allein; und in meinem unerbittlichen und unterirdischen Kampfe gegen Alles, was bisher von den Menschen verehrt und geliebt worden ist (— meine Formel dafür ist „Umwerthung aller Werthe“) ist unvermerkt aus mir selber etwas wie eine Höhle geworden — etwas Verborgenes, das man nicht mehr findet, selbst wenn man ausgienge, es zu suchen. Aber man geht nicht darauf aus… Unter uns gesagt, zu Dreien — es ist nicht unmöglich, daß ich der erste Philosoph des Zeitalters bin, ja vielleicht noch ein wenig mehr, irgend etwas Entscheidendes und Verhängnißvolles, das zwischen zwei Jahrtausenden steht. Eine solche absonderliche Stellung büßt man beständig ab — durch eine immer wachsende, immer eisigere, immer schneidendere Absonderung. Und unsre lieben Deutschen!.. In Deutschland hat man es, obwohl ich im 45.ten Lebensjahr stehe und ungefähr fünfzehn Werke herausgegeben habe (— darunter ein non plus ultra, den Zarathustra —) auch noch nicht zu einer einzigen auch nur mäßig achtbaren Besprechung auch nur eines meiner Bücher gebracht. Man hilft sich jetzt mit den Worten: „excentrisch“, „pathologisch“, „psychiatrisch“. Es fehlt nicht an schlechten und verleumderischen Winken in Bezug auf mich; es herrscht ein zügellos feindseliger Ton in den Zeitschriften, gelehrten und ungelehrten — aber wie kommt es, daß nie Jemand dagegen protestirt? daß nie Jemand sich beleidigt fühlt, wenn ich beschimpft werde? — Und Jahre lang kein Labsal, kein Tropfen Menschlichkeit, nicht ein Hauch von Liebe —
Unter diesen Umständen muß man in Nizza leben. Es wimmelt auch dies Mal von Nichtsthuern, Grecs und anderen Philosophen, es wimmelt von „Meinesgleichen“: und Gott läßt, mit dem ihm eigenen Cynismus, gerade über uns seine Sonne schöner scheinen als über das so viel achtbarere Europa des Herrn von Bismarck (— das mit fieberhafter Tugend an seiner Bewaffnung arbeitet und ganz und gar den Aspekt eines heroisch gestimmten Igels darbietet.) Die Tage kommen hier mit einer unverschämten Schönheit daher; es gab nie einen vollkommneren Winter. Und diesen Farben Nizza’s: ich möchte sie Dir schicken. Alle Farben mit einem leuchtenden Silbergrau durchgesiebt; geistige, geistreiche Farben; nicht ein Rest mehr von der Brutalität der Grundtöne. Der Vorzug dieses kleinen Stücks Küste zwischen Alassio und Nizza ist eine Erlaubniß zum Africanismus in Farbe, Pflanze und Lufttrockenheit: das kommt im übrigen Europa nicht vor.
Oh wie gern säße ich mit Dir und Deiner lieben verehrten Frau zusammen unter irgend einem homerisch-phäakischen Himmel… aber ich darf nicht mehr südlicher (— die Augen zwingen mich bald zu nördlicheren und stupideren Landschaften) Schreibe mir, bitte, noch einmal über die Zeit, wo Du wieder in München bist und vergieb mir diesen düsteren Brief!
Dein getreuer Freund Nietzsche.
Seltsam! Ich habe drei Tage Deine Ankunft hier im Hôtel erwartet. Es war Besuch aus München angemeldet, man wollte mir nicht sagen, wer; man machte zwei Plätze neben mir bei Tisch frei — Enttäuschung! Es waren alte Spieler und Montecarlisten, welche mir zuwider sind…
990. An Franz Overbeck in Basel (Entwurf)
<Nizza, um den 13. Februar 1888>
Hier nur drei Worte, um etwas Gutes zu melden. Große Ruhe und Erleichterung eingetreten; eine lange äußerst schmerzhafte Crisis, bei der meine ganze Sensibilität in Aufruhr war, scheint ad acta gelegt.
Als factum brutum ausgedrückt: die erste Niederschrift meiner „Umwerthung aller Werthe“ ist fertig. Die Gesammt-Conception dafür war bei weitem die längste Tortur, die ich erlebt habe, eine wirkliche Krankheit. Ihr andern „Erkennenden“, Ihr habt es besser, und nicht so unvernünftig! Ihr kennt die Wahrheit nicht als Etwas, das man sich Stück für Stück vom Herzen abreißt und bei dem jeder Sieg sich mit einer Niederlage rächt.
991. An Heinrich Köselitz in Venedig
Nizza, den 13. Februar 1888
Lieber Freund,
ich hätte Ihnen unter allen Umständen heute geschrieben und will mich am wenigsten dadurch abhalten lassen, daß eben, als schönster Morgengruß, Ihr Brief bei mir eingetreten ist. Das, was Sie mir zuerst erzählen, von einer Art Gemüths-Reconvalescenz, correspondirt angenehmer Weise mit einem eigenen inzwischen bewerkstelligten Fortschritte zur „Vernunft“: und sogar in Betreff der Art des Mittels ist unser Instinkt auf derselben Fährte gewesen. — Lieber Freund, ich sage mir jetzt in jedem gesunden Augenblick (— und dabei denke ich wenigstens so sehr an Sie als an mich): „es ist sehr Viel erreicht! Es ist trotzalledem sehr Viel erreicht! man soll bei sich den Muth zu diesem allerberechtigtsten Stolze aufrecht erhalten!“…
— In Wahrheit kommen Sie sogar, bei einer solchen Nachrechnung, was eigentlich erreicht ist, viel besser weg als ich. Ich selber bin über Versuche und Wagnisse, über Vorspiele und Versprechungen aller Art nicht hinausgekommen: aber so Etwas aus der Welt des Vollkommenen und Glücklichen, wie es Ihre ganze Oper ist, liegt ruhig in seinem eignen Lichte und winkt nicht, wie Alles bei mir, über sich hinweg —. Und was die „Idealität“ in der Musik betrifft, so habe ich noch von meinem letzten Venediger Besuche einen unauslöschlichen Geschmack von Etwas auf der Zunge zurückbehalten, für das ich gar keinen andern Namen habe als „Idealität“. Damals sagte ich mir „es steht so gut als es stehen kann mit dem Freunde Köselitz — er erfindet sich seine eignen Heilmittel und reinigt sich mit bains intérieurs von allem Unverdaulichen, das sein Leben in ihn geworfen hat (— Verzeihung für das allzu klinisch gerathene Gleichniß: eine der züchtigsten Damen Frankreichs, Madame Valmore bediente sich des Ausdrucks bains int<érieurs> in gewissen Fällen)
— Ich fand bei Plutarch, mit welchen Mitteln sich Cäsar gegen Kränklichkeit und Kopfschmerz vertheidigte: ungeheure Märsche, einfache Lebensweise, ununterbrochner Aufenthalt im Freien, Strapazen…
— Mein Einwand gegen Venedig liegt vor allem darin, daß es zu sehr einschließt: ich sollte glauben, man müsse eine Kur von Zeit zu Zeit gegen Venedigs Einfluß nöthig haben… Dann geht oder gienge es vielleicht.
— Ein Sprung in die Venediger Alpen? — Es ist erstaunlich, was die variatio sanat. Für fruchtbare und weibsartig periodische Wesen (wie es alle Künstler sind) scheint mir das brüske Einlegen von Zwischenakten, Contrasten beinahe unerläßlich. Vielleicht erwägen Sie, liebster Freund, alsbald das Problem Ihres nächsten Sommers — oder schon Frühjahrs? Die Luft in der Heimat Tizian’s vielleicht? Eine Fußreise dorthin? — Zuletzt wird Ihnen nichts übrig bleiben als sich ganz auf venetianischem Fuß einzurichten: aber dazu gehört, wie mir scheint, die Flucht vor Venedig, Land, Berg, Wald, die ganze in Venedig vergessene Welt.
Schließlich möchte ich eine Anfrage nicht unterlassen. Von welchem Orte (oder Menschen) aus glauben Sie jetzt am ersten noch, daß Etwas zu Gunsten Ihres Bekanntwerdens gethan werden könnte? Ist irgend ein Musikfest in Aussicht? (— ein Stuttgarter, erste Hälfte Juni, mit Brahms, Albert, Joachim ist das Einzige, von dem ich weiß) Haben Sie an Riedel vielleicht geschrieben? — Eben fällt mir Bologna ein: großes Fest im Mai. Ist es nicht möglich, Ihrerseits dazu etwas einzuschicken? zur Concert-Aufführung? —
— Über Spitteler werden Sie Recht haben. Die Sache ist mir verdrießlich. Fritzsch schweigt. — Mein Druck bei Naumann hat ca. 200 Thaler gekostet. — Ich habe die erste Niederschrift meines „Versuchs einer Umwerthung“ fertig: es war, Alles in Allem, eine Tortur, auch habe ich durchaus noch nicht den Muth dazu. Zehn Jahre später will ichs besser machen. —
Von Herzen
Ihr Freund Nietzsche.
(Schreiben Sie mir, bitte, etwas Genaues darüber, was und wieviel jetzt fertig geworden ist und woran Sie noch arbeiten…)
Vor der kleinen prätensiosen und absolut bis jetzt leeren Zeitschrift des Avenarius möchte ich eher warnen. Sie brauchen Athem, freien Raum.
992. An Josef Viktor Widmann in Bern (Postkarte)
<Nizza, d. 13. Febr. 1888.>
Hochgeehrter Herr Doctor,
ich schreibe Ihnen eine Kritik über „die Kritik“ ab, die mir eben von zuständigster Seite zugeht (— es steht Ihnen frei, dieselbe Herrn Spitteler zu übermitteln).
„Spitteler’s Aufsatz im „Bund“ scheint mir ein tolles Gemisch von richtiger Witterung und Oberflächlichkeit, von Achtung und Unverschämtheit, von Ernst und Trivialität zu sein. Er nimmt Sie beinahe nur von der litterarisch-artistischen Seite und schießt dabei Böcke, über die ich lachen mußte. Ueber Ihre philosophische Tendenz erhält der Leser keinen Wink; das Ganze ist noch vor einem wirklichen Eindringen in Ihre Welt geschrieben. Als Anzeige wirkt es jedoch stark, — ich habe mich gewöhnt, derartige Besprechungen endlich nur noch nach ihrem Einfluß auf den buchhändlerischen Vertrieb anzusehen.“
Hochachtungsvoll Ihr ergebenster
Prof. Dr. Nietzsche.
993. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig
Nizza, den 14 Febr. 1888 pension de Genève
Sehr geehrter Herr,
Sie haben mir noch nicht mitgetheilt, wie viel und welche Zeitschriften Ihnen Gesammtberichte über meine Litteratur versprochen haben. Was meine Bemühungen in dieser Hinsicht angeht, so ist der Gesammtbericht des „Bund“, auf welchen ich Sie hatte rechnen lassen, inzwischen erschienen, in der ersten Januar-Nummer: leider nicht, wie zu erwarten stand, aus der Feder seines vortrefflichen Redakteurs Dr. Widmann, sondern aus der eines geistreichen, aber oberflächlichen Herrn Spitteler, der sich mit der überaus schwierigen Aufgabe auf seine Weise abgefunden hat. Doch wirkt die Anzeige als Anzeige stark — und darauf kommt es allein an. Ich will mich daran gewöhnen, derartige Besprechungen nur noch nach ihrem Einfluß auf den buchhändlerischen Betrieb anzusehn
Was den berühmten Dänen Dr. Georg Brandes anbetrifft (Kopenhagen St. Anne-Platz 24 ist wieder seine Adresse) so nehme ich an, daß meine Schriften inzwischen in seine Hände gelangt sind. Ich habe durchaus kein Versprechen dafür, daß er über dieselben einen litterarischen Bericht abstattet, und ich würde mich schämen, je etwas Derartiges von ihm zu wollen. Was mich aber freut, das ist, ihn gründlich bemüht zu sehn, sich mir zu nähern und einen Zugang zu meiner so schwierigen Welt zu suchen. Dr. Brandes ist, nach seiner außerordentlichen Übung, die verwickelten Fälle des modernen Geistes zu analysiren, vielleicht noch am Ersten befähigt, sich über mich nicht zu vergreifen.
Ich habe insgleichen bei Herrn Dr. Carl Fuchs in Danzig eine bescheidene Anfrage gemacht, ob er seine intelligente und beredte Feder zu einer solchen Arbeit hergeben würde. Er ist mir sehr zugethan; aber vielleicht ist er anderweitig zu stark in Anspruch genommen. Trotzdem möchte eine diskrete Sondirung Ihrerseits hier nicht unangemessen sein.
Endlich gehört hierher ein Brief, der eben angelangt ist, und den ich beilege: er stammt von einem meiner Freunde von der Berliner Universität, dem Professor Dr. Paul Deussen. Diesen Brief bitte ich mir wieder zurück zu senden, zugleich mit einer Mittheilung über das, was Sie hinsichtlich der darin gemachten Vorschläge gethan haben.
Ist nirgendswo eine Besprechung meines „Hymnus“ erschienen? Mir sind von mehreren Orten Aufführungen in Aussicht gestellt z. B. von Mottl in Carlsruhe.
Ergebenst
Prof Dr Nietzsche
994. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
Nizza, pension de Genève den 14. Febr 1888.
Geehrtester Herr Verleger,
Ihren letzten Bericht habe ich mit großem Interesse gelesen: es ist mir lieb, zu hören, daß die „Streitschrift“ überhaupt in irgend welchem Maaße verlangt worden ist. Ich hatte das Gegentheil erwartet. Mir selber ist inzwischen der Zweifel gekommen, ob der Titel glücklich (ich meine im Sinne des buchhändlerischen Vertriebs glücklich) gewählt ist. Vielleicht wäre es rathsam gewesen, den Titel „Jenseits von Gut und Böse“ zu wiederholen und darüberzusetzen. Anhang. Drei Abhandlungen.
An dem leichtfertigen, im Einzelnen geistreichen Aufsatze des Schweizer Litteraten habe ich keine Freude gehabt. Trotzdem glaube ich, daß er als Anzeige meiner Gesammtlitteratur stark wirkt. Er war mir noch unbekannt; ersichtlich hatte der Redakteur nicht gewagt, mir ihn zu senden. Von der Schweiz her ist mir inzwischen eine gewisse Entrüstung von mehreren Seiten ausgedrückt worden, in Hinsicht auf die „Nullität und Unverschämtheit dieses Spitteler.“ —
Sie werden, wie ich annehme, mit Vergnügen hören, daß eine sorgfältigere Arbeit über mich in Berlin im Werke ist. Zu diesem Zwecke ersuche ich, meine zwei Bücher „Jenseits“ und die „Genealogie“ an diese Adresse abzusenden (mit dem Zettel „im Auftrage“ usw):
Herrn Lothar Volkmar, Rechtsanwalt
Berlin W. Leipziger Str. 135
Was die Berichtigung der eingesandten Rechnung „Herstellungskosten des Drucks“ betrifft: so habe ich umgehend einen Auftrag darüber nach Basel abgehn lassen; ich darf vielleicht voraussetzen, daß die Angelegenheit inzwischen schon erledigt ist.
Hochachtungsvoll Ihr
Prof. Dr. Nietzsche
Man beklagt sich bei mir, daß die „Genealogie“ schlecht geheftet ist, daß sie auseinanderfällt, daß das Umschlagpapier nicht Stand hält (—es ist viel dünner als das des „Jenseits“)
995. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Entwurf)
<Nizza, vermutlich 17. Februar 1888>
Dies Mal muß ich an m<eine Mutter> einen recht freundlichen und lieblichen Brief schreiben, nachdem ich sie das letzte Mal so arg erschreckt habe. Aber es steht wirklich diesen Winter schlimm mit mir; und wenn Du es aus der Nähe sähest, würdest Du mir gewiß einen solchen schmerzlichen Schrei verzeihen (wie es mein letzter Brief gewesen sein muß). Ich verliere mich mitunter ganz aus der Gewalt; und bin beinahe die Beute der düstersten Entschließungen. Leide ich etwa an der Galle? Ich habe Jahr aus Jahr ein zu viel Schlimmes hinunterschlucken müssen und sehe mich rückwärts blickend, vergebens nach auch nur Einem guten Erlebniß um. Jetzt bin ich von einer ganz und gar lächerlichen und erbärmlichen Verwundbarkeit, daß beinahe Alles, was von außen kommt, mich krank macht, und das Kleinste zu einem Unthier anwächst. Das Gefühl allein zu sein, der Mangel an Liebe, die allgemeine Undankbarkeit und selbst Schnödigkeit gegen mich — aber ich will nicht fortfahren in dieser Tonart. Die Wahrheit ist, daß Dein Sohn ein tapferes Thier ist und daß er Erstaunliches in dem letzten Jahre wieder durchgesetzt hat: aber warum muß jede meiner Thaten mir hinterdrein zur Niederlage werden? Warum fehlt mir jeder Zuspruch, jede tiefe Theilnahme, jede herzliche Verehrung?
Eine unerträgliche Spannung liegt Tag und Nacht auf mir hervorgebracht durch die Aufgabe, die auf mir liegt und die absolute Ungunst aller meiner sonstigen Verhältnisse zur Lösung einer solchen Aufgabe: das ist die Hauptsache
Meine Gesundheit hat sich unter der Gunst eines außerordentlich schönen Himmels und guter Nahrung (und stärk<enden> Spaziergehen<s>) ziemlich aufrecht erhalten: nichts ist krank, nur die liebe Seele. Ich fürchte mich geradezu vor dem Frühling: dies ist immer meine schwache Zeit. Andrerseits weiß ich keine Stelle mehr, wo ich M<enschen> habe, die mir jetzt nütze wären: und meine gute M<utter> ist zu weit weg.
Es thut mir wohl, was Du mir aus dem B<rief> vom Lama abschreibst: wirklich habe ich lauter häßliche Briefe an sie geschrieben und zuletzt hat man sich lieb, wie sehr man sich auch wehe gethan hat.
996. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Fragment)
<Nizza, vermutlich 17. Februar 1888>
[+ + +] Brief schreiben, nachdem ich sie das letzte Mal so arg erschreckt habe. Aber es steht wirklich diesen Winter schlimm mit mir; und wenn Du es aus der Nähe sähest, würdest Du mir gewiß einen solchen schmerzlichen Schrei, wie es mein letzter Brief war, verzeihen. Ich verliere [+ + +]
[+ + +] mir gestellt ist und die absolute Ungunst aller sonstigen Verhältnisse zur Lösung einer solchen Aufgabe: hier steckt jedenfalls die Hauptnoth. Das Gefühl, allein zu sein, der Mangel an Liebe, die allgemeine Undankbarkeit und selbst Schnödigkeit gegen mich [+ + +]
[+ + +] Entschließungen. Leide ich etwa an der Galle? Ich habe Jahr aus Jahr ein zu viel Schlimmes hinunter schlucken müssen und sehe mich, rückwärts blickend, vergebens nach auch nur Einem guten Erlebniß um. Das hat eine ganz und gar lächerliche und erbärmliche Verwundbarkeit schließlich hervorgebracht, Dank der beinahe Alles, was von außen an mich herankommt, mich krank macht, und das [+ + +]
[+ + +] tapferes Thier ist, daß er Erstaunliches auch wieder in dem letzten Jahre durchgesetzt hat: aber warum muß jede meiner Thaten hinterdrein zur Niederlage werden? Warum fehlt mir jeder Zuspruch, jede tiefe Theilnahme, jede herzliche Verehrung? —
Meine Gesundheit hat sich unter der Gunst eines außerordentlich schönen Winters, [+ + +]
[+ + +] <Auch will ich nicht> verschweigen, daß der Winter an geistigem Gewinn für meine Hauptsache sehr reich gewesen ist: also auch der Geist ist nicht krank, nichts ist krank, nur die liebe Seele.
Ich fürchte mich geradezu vor dem Frühling: [+ + +]
Ich möchte Dich um einen kleinen Dienst bitten. Schreib ein paar Worte an meinen Leipziger höchst taktlosen und abgeschmackten Verleger, mit dem ich beinahe am Ende bin, Herrn E. W. Fritzsch (Leipzig, Königsstrasse 6) Sage ungefähr [+ + +]
997. An Georg Brandes in Kopenhagen
Nizza den 19. Febr. 1888.
Verehrter Herr,
Sie haben mich auf das Angenehmste mit Ihrem Beitrag zum Begriff „Modernität“ verpflichtet: denn gerade diesen Winter ziehe ich in weiten Kreisen um diese Werthfrage ersten Ranges herum, sehr oberhalb, sehr vogelmäßig und mit dem besten Willen, so unmodern wie möglich aufs Moderne herunterzublicken… Ich bewundere — daß ich es Ihnen gestehe! — Ihre Toleranz im Unheil ebensosehr wie Ihre Zurückhaltung im Urtheil. Wie Sie alle diesen „Kindlein“ zu sich kommen lassen! Sogar Heyse! —
Ich habe mir für meine nächste Reise nach Deutschland vorgesetzt, mich mit dem psychologischen Problem Kierkegaard zu beschäftigen, insgleichen die Bekanntschaft mit Ihrer älteren Litteratur zu erneuern. Dies wird für mich, im besten Sinn des Worts, von Nutzen sein, — und wird dazu dienen, mir meine eigne Härte und Anmaaßung im Urtheil „zu Gemüthe zu führen“. —
Gestern telegraphirte mir mein Verleger, daß die Bücher an Sie abgegangen sind. Ich will Sie und mich mit der Erzählung verschonen, warum dies so spät geschehen ist. Machen Sie, ich bitte Sie, verehrter Herr, eine gute Miene zu dem „bösen Spiel“, ich meine, zu dieser Nietzsche’schen Litteratur.
Ich selber bilde mir ein, den „neuen“ Deutschen die reichsten, erlebtesten und unabhängigsten Bücher gegeben zu haben, die sie überhaupt besitzen; ebenfalls selber für meine Person ein capitales Ereigniß in der Krisis der Werthurtheile zu sein. Aber das könnte ein Irrthum sein; und außerdem noch eine Dummheit —: ich wünsche, über mich nichts glauben zu müssen. Ein paar Bemerkungen noch: sie beziehen sich auf meine Erstlinge (— die Juvenilia und Juvenalia)
Die Schrift gegen Strauß, das böse Gelächter eines „sehr freien Geistes“ über einen solchen, der sich dafür hielt, gab einen ungeheuren Skandal ab: ich war damals schon Prof. ordin. trotz meinen 24 Jahren, somit eine Art von Autorität und etwas Bewiesenes. Das Unbefangenste über diesen Vorgang, wo beinahe jede „Notabilität“ Partei für oder gegen mich nahm und eine unsinnige Masse von Papier bedruckt worden ist, steht in Carl Hillebrand’s „Völker, Zeiten und Menschen“ Band 2. Daß ich das altersmüde Machwerk jenes außerordentlichen Kritikers verspottete, war nicht das Ereigniß, sondern daß ich den deutschen Geschmack bei einer compromittirenden Geschmacklosigkeit in flagranti ertappte: er hatte Straußens „alten und neuen Glauben“ einmüthig, trotz aller religiös-theologischen Partei-Verschiedenheit, als ein Meisterstück von Freiheit und Feinheit des Geistes (auch des Stils!) bewundert. Meine Schrift war das erste Attentat auf die deutsche Bildung (— jene „Bildung“, welche, wie man rühmte, über Frankreich den Sieg errungen habe —); das von mir formulirte Wort „Bildungsphilister“ ist aus dem wüthenden Hinundher der Polemik in der Sprache zurückgeblieben. —
Die beiden Schriften über Schopenhauer und Richard Wagner stellen, wie mir heute scheint, mehr Selbstbekenntnisse, vor allem Selbstgelöbnisse über mich dar als etwa eine wirkliche Psychologie jener mir ebenso tief verwandten als antagonistischen Meister. (— ich war der Erste, der aus Beiden eine Art Einheit destillirte: jetzt ist dieser Aberglaube sehr im Vordergrunde der deutschen Cultur: alle Wagnerianer sind Anhänger Schopenhauers. Dies war anders als ich jung war: damals waren es die letzten Hegelinge, die zu Wagner hielten, und „Wagner und Hegel“ lautete die Parole in den fünfziger Jahren noch.)
Zwischen den „unzeitgemäßen Betrachtungen“ und „Menschliches, Allzumenschliches“ liegt eine Krisis und Häutung. Auch leiblich: ich lebte Jahre lang in der nächsten Nachbarschaft des Todes. Dies war mein größtes Glück: ich vergaß mich, ich überlebte mich… Das gleiche Kunststück habe ich noch einmal gemacht. —
— So haben wir also einander Geschenke überreicht: ich denke, wie zwei Wanderer, die sich freuen, einander begegnet zu sein? —
Ich verbleibe Ihr ergebenster
Nietzsche
998. An Franz Overbeck in Dresden
Nizza, den 22. Febr. 1888.
Lieber Freund,
es betrübt mich sehr, daß Du aus solchen Gründen hast nach Deutschland verreisen müssen. So hat der an sich schon so düstere Winter Dir auch diesen Schlag und Schmerz noch gebracht! Zwar muß ich nach Allem, was ich von Dir höre, annehmen, daß es sich in diesem Falle um eine wirkliche Erlösung gehandelt hat, die eher zu spät als zu früh eingetreten ist; und so wünsche ich von Herzen, daß etwas recht Erquickliches und Gutes Dir zum Entgelt zu Theil werde, und so Deine Wunde wieder heile. Zuletzt: Du bist nicht allein. Ich erschreckte bei der Vorstellung, wie wenig ein Einsiedler mit einem solchen Ereigniß anzufangen wüßte.
Von mir will ich heute nur soviel sagen, daß es wieder besser geht, und daß die schmerzhafte Spannung und Melancholie, unter der ich noch meinen letzten Brief an Dich geschrieben habe, überwunden erscheint. Einstweilen bin ich, was Dich überraschen wird, ganz unter dem Eindrucke der Nachrichten aus San Remo: welche mir, durch einen seltsamen Zufall, in ganz andrer Weise zu Gebote stehn als den Zeitungen (so daß ich die intima intimissima dieser schauerlichen und nicht ganz mittheilbaren Geschichte kenne) Vielleicht ist auch hier die Erlösung in der Nähe.
Von Herzen theilnehmend
Dein Freund
Nietzsche
999. An Hermann Credner in Leipzig (Entwurf)
<Nizza, den 25. Februar 1888>
Dies Mal ist es nicht für mich, sondern für einen Anderen, einen beinahe unversehens entdeckten geistreichen und originellen <Kopf,> daß ich an Sie die Anfrage richte, ob Sie Lust haben, ein gutes Buch in Verlag zu nehmen. Dasselbe soll eine Sammlung Aesthetica enthalten: um irgend einen Geschmack, davon zu geben, sende ich Ihnen einen Aufsatz, der zufällig im Bund abgedruckt worden ist und der im Kreise mir befreundeter Musiker und Musikliebhaber lebhaft diskutirt worden ist. Ich kenne vom gleichen Verfasser eine sehr merkwürdige Kritik einiger Theater-Vorurtheile: das Unabhängigste und Radikalste, was ich über das Problem des modernen Dramas gelesen habe.
Herr Prof. Spitteler ist, wie Sie es aus der kleinen Probe errathen werden, ein Mann von Geist und Witz, reich an neuen Gesichtspunkten und Wagnissen des Gedankens, er scheint wie nur Wenige, über Form- und Stilfragen mitzureden.
Der genannte Herr ist bisjetzt unter dem Namen Felix Tandem litterarisch bekannt geworden (Prometheus 1882. Extramundana 1883) — Ich bemerke ausdrücklich, daß er mir nicht persönlich bekannt ist; insgleichen daß er meiner eignen Denkweise und Philosophie fremd gegenüber steht. Ich wünsche Ihnen einen originellen Kopf empfohlen zu haben, nicht einen Anhänger oder Jünger.
1000. An Heinrich Köselitz in Venedig
Nice, pension de Genève 26. Febr. 1888.
Lieber Freund,
trübes Wetter, Sonntag Nachmittag, große Einsamkeit: ich weiß nichts Angenehmeres mir zu erfinden als etwas zu und mit Ihnen reden. Eben merke ich, daß die Finger blau sind: meine Schrift wird nur dem erräthlich sein, der die Gedanken erräth…
Was Sie über den Stil Wagner in Ihrem Briefe sagen, erinnert mich an eine eigne irgendwo geschriebene Auslassung darüber: wie sein „dramatischer Stil“ nichts weiter ist als eine Species des schlechten Stils, ja sogar des Nicht-Stils in der Musik. Aber unsre Musiker sehn darin einen Fortschritt…
Eigentlich ist Alles ungesagt, ja wie ich argwöhne, fast ungedacht auf diesem Bereiche von Wahrheiten: Wagner selber, als Mensch, als Thier, als Gott und Künstler geht tausendfach über den Verstand und Unverstand unsrer Deutschen hinaus. Ob auch über den der Franzosen? — Ich hatte heute das Vergnügen, mit einer Antwort Recht zu bekommen, wo schon die Frage außerordentlich hazardirt scheinen konnte: nämlich — „wer war bisher am besten vorbereitet für Wagner? wer war am Naturgemäßesten und Innerlichsten Wagnerisch, trotz und ohne Wagner?“ — Darauf hatte ich mir seit lange gesagt: das war jener bizarre Dreiviertels-Narr Baudelaire, der Dichter der Fleurs du Mal. Ich hatte es bedauert, daß dieser grundverwandte Geist W<agner>n nicht bei Lebzeiten entdeckt habe; ich habe mir die Stellen seiner Gedichte angestrichen, in denen eine Art Wagnerscher Sensibilität ist, welche sonst in der Poesie keine Form gefunden hat (— Baudelaire ist libertin, mystisch, „satanisch“, aber vor allem Wagnerisch) Und was muß ich heute erleben! Ich blättere in einer jüngst erschienenen Sammlung von Œuvres posthumes dieses in Frankreich auf’s Tiefste geschätzten und selbst geliebten Genies: und da, mitten unter unschätzbaren Psychologicis der décadence („mon cœur mis à nu“ von der Art, wie man sie im Falle Schopenhauers und Byrons verbrannt hat) springt mir ein unedirter Brief Wagners in die Augen, bezüglich auf eine Abhandlung Baudelaire’s in der Revue européenne, avril 1861. Ich schreibe ihn ab: Mon cher Monsieur Baudelaire, j’étais plusieurs fois chez vous sans vous trouver. Vous croyez bien, combien je suis désireux de vous dire quelle immense satisfaction vous m’avez préparée par votre article qui m’honore et qui m’encourage plus que tout ce qu’on a jamais dit sur mon pauvre talent. Ne serait-il pas possible de vous dire bientôt, à haute voix, comment je m’ai senti enivré en lisant ces belles pages qui me racontaient — comme le fait le meilleur poème — les impressions que je me dois vanter d’avoir produites sur une organisation si supérieure que la vôtre? Soyez mille fois remercié de ce bienfait que vous m’avez procuré, et croyez-moi bien fier de vous pouvoir nommer ami. — A bientôt, n’est-ce pas? Tout à vous
Richard Wagner
(Wagner war damals 48 Jahre alt, Baudelaire 40: der Brief ist rührend, obschon in miserablem Französisch.)
Im selben Buche finden sich Skizzen Baudelaires, in denen er auf eine leidenschaftliche Weise Heinrich Heine gegen französische Kritik (Jules Janin) in Schutz nimmt. — Man hat, in der letzten Zeit seines Lebens noch, wo er halb irre war und langsam zu Grunde gieng, Wagnersche Musik wie Medizin an ihm angewandt; und selbst wenn man nur Wagner’s Namen nannte, „il a souri d’allégresse“. (— Einen Brief dieser Art Dankbarkeit und selbst Enthusiasmus hat, wenn mich nicht Alles trügt, Wagner nur noch einmal geschrieben: nach dem Empfang der Geburt der Tragödie.)
— Wie geht es jetzt, lieber Freund? Ich habe mir geschworen, eine Zeit lang nichts mehr ernst zu nehmen. Auch dürfen Sie ja nicht glauben, daß ich wieder „Litteratur“ gemacht hätte: diesen Niederschrift war für mich; ich will alle Winter von jetzt ab hintereinander eine solche Niederschrift für mich machen — der Gedanke an „Publicität“ ist eigentlich ausgeschlossen. — Der Fall Fritzsch ist telegraphisch in Ordnung gebracht. — Herr Spitteler hat geschrieben, nicht übel, sich für seine „Unverschämtheit“ (— so sagt er selbst) entschuldigend. — Der Winter ist hart; es fehlt mir aber augenblicklich Nichts, es wäre denn eine göttliche und stille Musik, Ihre Musik, lieber Freund!
Ihr N.
Die Zeitungen und Zeitschriften, welchen Fritzsch durch ein artiges Circular letzten Herbst ein Gesammt-Exemplar meiner Schriften angeboten hatte, zum Zweck einer Besprechung, haben ihm sammt und sonders nicht geantwortet —
Overbecks Vater ist gestorben, 84 Jahr alt. Overbeck selbst ist dazu nach Dresden gereist: wie ich fürchte, zum Nachtheil seiner eigenen Gesundheit, die diesen Winter wieder Schwierigkeiten macht. — Schneestürme überall, Eisbär-Humanität.
Aus einem Briefe B<audelaire>s: „ich wage nicht mehr von W<agner> zu reden: man hat sich zu sehr über mich lustig gemacht. Diese Musik ist eine der ganz großen Freuden meines Daseins gewesen: ich habe gut fünfzehn Jahre keine solche Erhebung (vielmehr enlèvement) gefühlt.“.
1001. An Franz Overbeck in Basel
Nice, pension de Genève den 3. März 1888.
Lieber Freund,
vergieb mir, daß ich, eben im Besitz Deines guten Briefes, sofort Dich wieder mit meinen Angelegenheiten behelligen muß. Die Rechnung Lorenzens ist durchaus bedenkeneinflößend: ich kann nur einen einzigen Posten anerkennen. Die sechs ersten Posten habe ich bei meiner letzten Abreise von Leipzig bezahlt, den siebenten und achten (Dionys. und Apollodor) weder erhalten, noch je zu erhalten verlangt. Doch darüber will ich mit Lorenz selbst verhandeln. —
Dagegen beunruhigt es mich, daß Du nichts über die Bezahlung meiner Druckrechnung bei C. G. Naumann bis jetzt mir gemeldet hast. Ich habe die Rechnung in meinem vorletzten Briefe beigelegt: — muß ich fürchten, daß der Brief mit der Rechnung verloren gegangen ist? — in diesem Winter der Lawinen und Eisenbahn-Störungen scheint Viel verloren zu gehn..
Ich wundere mich seit Wochen, daß C. G. Naumann mir nicht den Empfang des Geldes signalisirt. —
Die Druckkosten der „Genealogie“ betrugen: 588 Mark 65 Pfennige.
Was den gegen Ende des Monats fällig werdenden Gehalt angeht, so bitte ich mir denselben hierher noch aus. Doch wäre ich dankbar für jeden Tag, den er früher kommt; im Grunde ist meine Zeit für Nizza abgelaufen — der Glanz der Sonne (bei übrigens kaltem Wetter) ist für meine Augen jetzt schon zu intensiv. — Sonst geht es wieder besser; auch bin ich mit meinem Winter, der lauter radikalen Problemen und Entscheidungen geweiht war, nicht übel zufrieden. — Sende einfach Basler Papier, bitte. — Der Ofen war de rigueur, Du hast Recht. Namentlich für mein Nordzimmer. Ich begreife übrigens absolut nicht, wie ich einen nordischen Winter aushielte: so sehr ich es wünschen muß, aus den allerletzten Gründen. Aber es ist selbst hier jeder eigentliche düstere und winterliche Tag, an dem die Sonne fehlt, für mich eine wahre Tortur: ich bin krank und in einer kaum glaublichen Weise gedrückt, leiblich und geistig. Dieser absurde Grad von Dependenz hat etwas Demüthigendes; aber es hilft nichts, ich muß mit diesem Faktor rechnen. Engadin und Nizza sind nicht eigentlich mehr in Frage zu ziehn: sie sind das einzig Bewiesene. Das Frühjahr macht mir Furcht; es ist mir an jedem Orte bisher mißrathen. — Das vergangene Jahrzehend mit meiner habituellen Schwäche und Reizbarkeit an Kopf und Nerven, die aus den geringsten Zufällen und Unfällen wahre Katastrophen schuf, sollte schlechterdings aus meiner Erinnerung ausgewischt werden. Aber einstweilen muß ich schon mit Tagen und Wochen zufrieden sein, wo ich es vergesse. Dieser Grad von menschlicher décrépitude, der meiner ganzen Denkweise so unangemessen wie möglich ist, hat, wie ich mir nicht verberge, meinen Stolz etwas exasperirt: schlimm genug, aber man hält die Misère nur um diesen Preis aus. — Mir ist zu Muthe, wie einem Troglodyten, dem es Mühe macht, an das Licht zu glauben; man wird extrem mißtrauisch; man wird problematisch.
Lieber Freund, es scheint mir nicht unmöglich, daß ich Dich dieses Jahr einmal wieder in Basel begrüße: obwohl ich es heute noch nicht versprechen will. Mit den herzlichsten Wünschen für Dich und Deine liebe Frau Dein
Nietzsche.
(Die Straße pet. rue St. Etienne ist jetzt umgetauft: rue Rossini)
1002. An Carl Spitteler in Basel
Nizza den 4. März 1888
Werther Herr Spitteler,
heute, statt aller Antwort, eine gute Nachricht. Es ist mir, nach vielfachen Fehlversuchen und Entmuthigungen, zuallerletzt doch noch gelungen, einen Verleger für die Herausgabe Ihrer Aesthetica zu interessiren. So eben schrieb mir der Chef eines der angesehensten Leipziger Häuser (Firma Veit und Co), Herr Hermann Credner, in einer Weise, die nicht anders als entgegenkommend genannt werden kann: er verspricht diese Angelegenheit im Auge zu behalten. Ich hatte ihm Ihre Kritik des modernen Orchesters übersandt, zugleich mit einem längeren Briefe: er sagt, daß er diese Kritik „mit Spannung und Genuß“ gelesen habe. Insgleichen sprach ich ihm von einer früheren Abhandlung, die im Bund erschienen ist, dramaturgische Fragen behandelnd. (Diese beiden Aufsätze werden, wie ich voraussetze, jener Sammlung von Aestheticis einverleibt? Wenigstens habe ich dies zu verstehen gegeben) — Die Frage der Ausstattung, ebenso wie die des Honorars ist natürlich nicht berührt worden: darüber Vorschläge zu machen steht bei Ihnen. Zunächst aber thut es Noth, genau zu formulieren, was der Band enthalten soll; insgleichen seine ungefähre Ausdehnung und Bogenzahl.
— Und seien Sie, im Verkehre mit diesem etwas verwöhnten und anspruchsvollen Verleger (der aus einer alten Leipziger Professoren-Familie stammt und überdies der Verleger des deutschen Reichsgerichts ist) nicht zu „schweizerisch“!…
— Mit dem Wunsch, Ihnen auch fürderhin einen Dienst erweisen zu können
Ihr Dr. Nietzsche Prof
(Credner gehört, nach seinem eignen Ausdruck, zu den amateurs meiner Litteratur)
Adresse: Herrn Hermann Credner (Veit & Co) Leipzig (Johannisgasse)
1003. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Nizza, den 5. März 1888.
Meine liebe gute Mutter,
heute morgen hätte ich Dir ohne Zweifel einen kleinen Brief geschrieben, selbst wenn nicht Deine herzliche Mahnung bei mir angelangt wäre. Es lag Alles schon bereit dazu. Außerdem hat sich mein Zustand wirklich verbessert und die bösen Wochen der Melancholie sind wieder überwunden. Es betrübt mich, daß ich zwei so düstere Briefe an Dich abgesandt habe: aber es giebt Zeiten, wo man nicht mehr Herr über sich ist und Dinge thut, die man beim ersten Sonnenstrahle kaum mehr begreift. Der Winter war übrigens für alle Welt hart und traurig machend: und für eine solch delikate und krankhafte Maschinerie, wie ich es bin, besonders. Die Nachrichten von San Remo haben auch nichts Wohlthuendes: dies System von Lüge und willkürlicher Entstellung der Fakten, wie es diese Engländerin, im Bunde mit einem nichtswürdigen englischen Arzte, von einem Monat in den andern fortsetzt, hat sogar die Ausländer empört, gar nicht zu reden von dem deutschen Arzte, von der ganzen kaiserlichen Familie, von Bismarck. Ich bin durch einen Zufall sehr gut, zu gut über die intima intimissima dieser schauerlichen Geschichte unterrichtet. — Wir haben übrigens, seit dem 1. März, hier den großen Zollkrieg zwischen Italien und Frankreich: unsre Provinz ist am stärksten durch denselben betroffen. Nizza bezog Alles, was man zur Ernährung nöthig hat, aus Italien: — Fleisch, Eier, Butter, Gemüse, Wein, Oel. Der Zollkrieg, mit seinen unerhörten Taxen, macht einfach einen Schnitt zwischen den beiden Ländern: so daß die ganze Küste versuchen muß, sich anderswoher ihre Nahrungsmittel zu schaffen. Man will eine direkte Dampfschiffverbindung zwischen Nizza und Algier herstellen, dieser Tage schon: 42 Stunden Fahrt zwischen hier und Afrika. —
Trotzdem: wie gut, daß man in Europa ist, sei es nun in Naumburg, oder in Nizza — und nicht in diesem erstaunlich unanmuthigen Paraguay! Der Bericht ist sehr ehrlich, ich glaube wirklich nicht, daß er irgendwelche gute Seite verschweigt. Offenbar ist das Leben in der Hauptstadt und das Leben in dieser Wald- und Wüsten-Wildniß etwas recht Verschiedenes; in der ersteren wird man immer noch glauben, in Europa zu sein. Nichts für uns! meine gute Mutter! —
Fritzsch hat telegraphisch die Sache in Ordnung gebracht; auch einen entschuldigenden Brief geschickt. Ich danke sehr für den kleinen Hochdruck, den Dein Brief ausgeübt hat.
Inzwischen ist Overbecks Vater in Dresden gestorben; insgleichen Köselitzens Leipziger Schwester. Man hat überall zu tragen und zu überwinden. — Deine freundliche und liebe Einladung, den Frühling in Naumburg zu verbringen, stimmt leider in keinem Punkte jetzt zu dem, was meine absurde Gesundheit verlangt. Erstens: ich darf nicht weit reisen, ich halte es nicht aus. Zweitens: ich habe das größte Mißtrauen gerade gegen den deutschen Frühling und denke mit Schrecken an das Gefühl von Schwäche und Entmuthigung, das der letzte Frühling in Naumburg und Leipzig bei mir hervorgebracht hat. Es steht noch nicht fest, wohin ich gehe; aber nicht gar weit, und etwas in die Berge, wo eine kräftige Luft weht; und so daß ich den Zugang zum Engadin im Auge behalte (für Mitte Juni: eher kann man nicht hinauf)
Zuletzt, meine gute Mutter, macht es Dir etwas, mir die 96 Mark hierher, nach Nizza, zu schicken? Oder hast Du gerade jetzt kein Geld? Ich bin nämlich in einiger Verlegenheit, und wäre dankbar, jetzt Geld geschickt zu bekommen. Paßt es Dir nicht, so würde ich Hrn. Kürbitz darum angehn. (Am einfachsten ein Hundert-Mark-Schein. Der Brief recommandirt, aber das Geld nicht darauf bezeichnet. Oder auch ein Hundert-Franken-Schein (96 Mark = 115 frs.) dies vorzuziehen.
In herzlicher Liebe und Dankbarkeit
Dein altes Geschöpf
1004. An M. Pfyffer in Viznau (Entwurf)
<Nizza, Mitte März 1888>
Sehr geehrter Herr
Ich möchte gern mich mit Ihnen für den Fall verständigen, daß ich Ende dieses Monats zu einem langen Aufenthalt bei Ihnen eintreffe. Eine Schweizerin, die Sie kennen und deren freundliche Grüße ich Ihnen auszurichten habe, Frau Fäsi aus Zürich, macht es mir wahrscheinlich, daß ich in Ihrem Hause das finden könnte, was ich vor allem nöthig habe, sei es für meine Gesundheit, sei es für meine Arbeiten: Ruhe. Ein Südzimmer, eingerichtet für den Gebrauch eines Gelehrten, ein Bett mit einer guten festen Matratze, eine Chaise longue — das würde ebenfalls zu schaffen sein.
Ich setze voraus, daß wir uns über einen Tagespreis der Pension von 4 1/2 frs. tout compris arrangiren werden: wobei ich ausdrücklich bemerke, daß ich mir frühmorgens meinen Thee selbst bereite, nach alter Gewohnheit, somit in den Pensionspreis nur die zwei Haupt-Mahlzeiten, das Zimmer und die Bedienung einbegriffen sind. Man lobt mir Ihre Küche.
Es wäre mir werthvoll, für mich einen guten Zwischenaufenthalt für den Frühling ausfindig zu machen: meine Versuche in den letzten Jahren sind mir nicht zum Besten meiner Gesundheit ausgeschlagen.
1005. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Nice d. 20. März 1888.
Meine liebe Mutter
Du hast mir mit Deiner Sendung und dem sie begleitenden Briefe eine große Freude gemacht: beinahe als ob Du mir ein Geschenk gemacht hättest. Ich war gerade etwas knapp daran mit Finanzen; und vielleicht habe ich schon geschrieben, daß diesen Winter mein Leben im Hôtel sich vertheuert hat. Trotzdem sind auch jetzt noch die Bedingungen, unter denen ich hier lebe, bedeutend unter den durchschnittlichen, die Jedermann hier im Hause zu zahlen hat; und andrerseits habe ich auch diesen Winter etwas, das ich sonst nicht hatte: ein Zimmer, das mir gefällt, hoch, mit einem ausgezeichneten Lichte für meine Augen, neu hergerichtet, mit großem schwerem Tisch, chaise longue, Bücherschrank und mit dunklen roth-braunen Tapeten, die ich selbst ausgewählt habe. Es scheint mir immer noch, daß ich an Nizza festzuhalten habe: sein klimatischer Einfluß ist so wohlthätig wie kein andrer auf mich. Ich kann hier gerade noch einmal so viel Gebrauch von meinen Augen machen als anderswo. Der Kopf ist unter diesem Himmel freier geworden, von Jahr zu Jahr; die unheimlichen Folgen jahrelangen Siechthums in der Nähe und Erwartung des Todes treten hier milder auf. Ich will nicht vergessen, daß auch meine Verdauung hier besser ist als sonst wo; vor allem aber, mein Geist fühlt sich hier aufgeweckter und trägt im Allgemeinen seine Bürde leichter — ich meine die Bürde eines Lebenslooses, zu dem ein Philosoph einmal verurtheilt ist. Ich gehe Vormittags eine Stunde, Nachmittags drei Stunden durchschnittlich spazieren, in scharfem Schritte — Tag für Tag den gleichen Weg: er ist schön genug dazu. Nach dem Abendessen sitze ich noch bis 9 Uhr im Salon, unter fast lauter Engländern und Engländerinnen, bei einer Lampe mit Lampenschirm an meinem Tische. Ich stehe halb sieben auf und mache mir meinen Thee selbst: dazu einige Zwiebäcke. Um 12 Uhr das Frühstück; um 6 Uhr die Hauptmahlzeit. Kein Wein, kein Bier, keine Spirituosen, kein Kaffe: größte Gleichmäßigkeit in der Lebens- und Ernährungsweise. Seit vorigem Sommer habe ich mich an Wassertrinken gewöhnt: ein gutes Zeichen, ein Fortschritt. Übrigens war ich gerade jetzt drei Tage krank: doch ist heute wieder Alles in Ordnung. Für Ende März denke ich Nizza zu verlassen: der Lichtglanz ist mir bereits zu stark, auch die Luft schon zu weich, zu frühlingsmäßig. Es ist möglich, daß ich noch Besuch bekomme: nämlich Seydlitz, der auf seiner Rückreise von Aegypten „mit Weib, Mutter, Hund und Diener“ bei mir eintreffen will. Auch der alte Freund Gersdorff schrieb wieder guter Dinge: er hatte gerade seinen Monat Dienst in Berlin hinter sich (— er ist Kammerherr der alten Kaiserin) Aber das Schönste war ein langer Brief vom Lama: acht Seiten voll lauter herzlicher und sogar gescheuter Dinge. Noch in Asuncion geschrieben; aber voll guten Muths („gewiß, ich habe ein Lebensloos, zu dem ich passe, das ist eine schöne Sache“ —) Doch drückt sie Besorgniß aus, daß es die nächste Zeit zu viel zu thun giebt: weil eine Unmasse neuer Colonisten angemeldet sind, und vielleicht noch nicht genug dazu vorbereitet ist. — Ich vergaß zu erzählen, daß ein alter Schulkamerad (mein „Unterer“), der Lieutenant Geest hier in Pflege der Diakonissen vom rothen Kreuz ist: ich gehe zuweilen hin. Sehr norddeutsche Atmosphäre: Frau von Münchow, Frl. von Diethfurth usw. Meine Tischnachbarin ist auch diesen Winter wieder die Baronin Plänckner, eine geb. Seckendorf<f>: und als solche mit allen Seckendorf<f>s am Hofe und in der Armee in allernächstem Verkehr (z. B. mit dem Grafen Seckendorf<f>, der, wie bekannt bei der neuen Kaiserin die „rechte Hand“ ist — und noch etwas mehr!) Auch ist sie mit dem Geheimrath von Bergmann nahe befreundet und selbst in seiner Kur: so daß ich über die Dinge in San Remo sehr gut unterrichtet war. Ich habe sogar Blätter, die der Kronprinz ein Paar Tage vor seiner Abreise geschrieben hat, in den Händen gehabt. - - -
So viel, meine liebe gute Mutter! Es umarmt Dich in Dankbarkeit
Dein altes Geschöpf.
Ich möchte Dir gerne eine förmliche Quittung über die Zahlung der ersten Jahres-Zinsen ausstellen: denn so ist es in der Ordnung. Nun bitte ich mir erst zu sagen, was ich schreiben soll.
Grüße, mit herzlicher Antheilnahme, Herrn und Frau Rektor Volkmann von mir. Was macht Heinze? Fast habe ich ihn erwartet. Übrigens war ein Leipziger Professor zwei Tage hier im Hause.
1006. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig
Nice (France) pension de Genève 21. März 1888
Werthester Herr Fritzsch,
inzwischen ist mir noch Jemand bekannt geworden, der auf eine intelligente Weise das Bekanntwerden meiner Schriften fördert: das ist Herr P. Michaelis, Domhülfsprediger in Bremen. Derselbe ist für die Nationalzeitung thätig: welche in den letzten zwei Jahren bereits zwei Mal über mich (resp. über Bücher von mir) Aufsätze gebracht hat. Ersichtlich kennt er die „Morgenröthe“ und die „fröhliche Wissenschaft“ nicht: ich würde Ihnen vorschlagen, diese beiden Bücher ihm zu übersenden zugleich mit der beiliegenden Karte von meiner Seite.
Adresse: Bremen. Am Deich 55.
Der ausgezeichnete Däne, Dr Brandes, hat seit dem Empfang der Schriften schon zwei Mal wieder geschrieben, jedes Mal sich unterzeichnend „Ihr aufmerksamer und dankbarer Leser“
Mich bestens empfehlend und mit angelegentlichem Glückwunsche zu dem bevorstehenden Familien-Feste
Ihr ergebenster
Prof. D. Nietzsche.
1007. An Heinrich Köselitz in Venedig
Nice, pension de Genève (rue Rossini)21. März 1888
Lieber Freund
inzwischen hat die Gesundheit viel Störung gegeben: sonst hätten Sie längst einen Dankesbrief erhalten. Ich war durch Alles, was Sie mir das letzte Mal in puncto Wagneri schrieben, geradezu erbaut. Sie sind heute der Einzige, der solche Geschmacks-finesses nicht nur haben, sondern auch begründen kann: während ich umgekehrt mich in meiner absurderen Weise zum bloßen Tasten und Tappen verurtheilt fühle. Ich kenne nichts mehr, ich höre nichts mehr, ich lese nichts mehr: und trotzalledem giebt es Nichts, was mich eigentlich mehr angienge als das Schicksal der Musik.
Nicht zu vergessen: ich habe doch etwas gehört — drei Sachen von Offenbach (la Pericholle, la grande Duchesse, la fille du tambour-major) — und war entzückt. Vier, fünf Mal in jedem Werke erreicht er einen Zustand übermüthigster Bouffonerie, aber in der Form des klassischen Geschmacks, absolut logisch — und dabei noch wunderbar Pariserisch!.. Dabei hat dieses verwöhnte Menschenkind das Glück gehabt, die geistreichsten Franzosen zu Librettisten zu haben: Halévi, der jüngst wegen dieser Geniestreiche la belle Helène etc. in die Akademie aufgenommen worden ist, Meilhac und Andere. Die Texte Offenbachs haben etwas Bezauberndes und sind wahrscheinlich das Einzige, was die Oper zu Gunsten der Poesie bisher gewirkt hat. —
Mottl, nach dem Sie fragten, hat nichts mehr von sich hören lassen. Ich notiere Ihnen noch ein Wort Seydlitzens, der jüngst aus Aegypten schrieb und wahrscheinlich mir, „zusammen mit Weib, Mutter, Hund und Diener“ auf seiner Rückreise einen Besuch abstatten wird. Er beklagt sich über den dort wehenden Chamsin „der einer ins Meteorologische übersetzten Brahmsschen Symphonie gleicht: rücksichtslos, sandig, trocken, unbegreiflich, nervenzerrüttend, etwa ein zehnfacher scirocco“. — Auch der alte Freund Gersdorff hat wieder geschrieben, mit vieler und herzlicher Erinnerung auch an Sie („— ich denke mit Vergnügen an die guten Stunden, die ich mit ihm und durch ihn erlebte und die nur durch Nerina und Rascovicz getrübt wurden) Auch sagt er „wie viel Kraft und Muth muß man haben, um heute gute Musik zu machen. Es giebt heute kaum einen Menschen, dem Wagner nicht das Concept verrückt hätte“. Gersdorff hatte eben seinen Hofdienst wieder hinter sich: er ist, wie Sie wissen werden, Kammerherr der alten Kaiserin. —
Etwas ist mir gelungen, worüber Sie lachen werden: ich habe jenem Spitteler (unangenehmen Angedenkens), unaufgefordert, aber im Bewußtsein, daß sonst Niemand etwas für ihn thut, einen Verleger für einen dicken Band Aesthetica verschafft: Firma Veit & Co (Hermann Credner in Leipzig, ein „amateur“ meiner Litteratur) Sp<itteler> hat sich gehütet, mir dafür zu danken. —
Von Kopenhagen kommen öfters Briefe, immer sehr intelligent, aber auch voll vieler Zeichen einer leidenden Existenz: B<randes> ist dermaaßen im Krieg und allein, daß er Jemanden nöthig zu haben scheint, zu dem er persönlich redet. Das Angenehmste war ein langer Brief meiner Schwester, deren Unternehmung überraschend für sie selber geräth: sie haben jetzt 80 Deutsche und 3 Schweizer auf der Colonie „Nueva Germania“, und es sind so Viele für die nächsten Monate angekündigt, daß man fürchtet, nicht genug vorbereitet zu sein. —
Eben traf eine intelligente und nicht unsympathische Besprechung meiner „Genealogie“ in der Nationalzeitung ein: abgesandt von dem Verfasser, P. Michaelis, Domhülfsprediger in Bremen. „Nietzsche ist grob, aber —“
So viel, lieber Freund: es ist wenig genug. Nun stehe ich wieder vor der widerlichen Erwägung, was ich mit mir die nächsten Monate anfangen soll, bis ich wieder hinauf kann .. Es ist eine schlechte Zeit, es sind alle Versuche und Orte eigentlich mißrathen — noch vom letzten Jahr her habe ich den greulichsten Nachgeschmack von dieser Zwischenzeit, die mich schwach macht und entnervt. Wohin?.. Denn mit Nizza ist es wieder vorbei; der Lichtglanz ist zu stark, die Luft schon zu weich. Zürich? Nimmermehr! Die italiänischen Seen? — drückend, herabstimmend! Die Schweiz? noch zu winterlich, wolkig, nebelig. Ich habe diese ganze Nacht gewacht in der Unruhe solcher Fragen. —
Mein alter Freund und maestro, es wünscht Ihnen einen guten Morgen
Ihr
Nietzsche
Verzeihung, daß der Brief endet, wie er nicht enden sollte, — ich thue so viel Verkehrtes.
1008. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
Nice 22. März 1888.
Lieber Freund, die Recrudescenz des Winters macht mich anders über die nächste Zukunft denken; insbesondere scheint es mir noch lange nicht erlaubt, in die Schweiz zu reisen. Unter diesen Umständen würde ich Dich bitten, einen Theil des zu erwartenden Gehalts in italiänischem Papier mir zu übermitteln (vielleicht 300 frs.)
Deine Mittheilung, daß das Haus wieder verkauft ist, hat mich geradezu erschreckt. Bist Du denn von einem besonderen noch unentdeckten Dämon heimgesucht, einem deus ignotus Basileensis? Ich bedaure Dich und Deine liebe Frau aufs Höchste.
N.
(Die Gesundheit wieder rückwärts.)
Lorenz hat die Rechnung annullirt und sich sehr entschuldigt. —
1009. An Georg Brandes in Kopenhagen
Nizza den 27. März 1888
Verehrter Herr,
ich wünschte sehr, Ihnen für einen so reichen und nachdenklichen Brief schon früher gedankt zu haben: aber es gab Schwierigkeiten mit meiner Gesundheit, so daß ich in allen guten Dingen arg verzögert bin. An meinen Augen, anbei gesagt, habe ich einen Dynamometer meines Gesammtbefindens: sie sind, nachdem es in der Hauptsache wieder vorwärts, aufwärts geht, dauerhafter geworden, als ich sie je geglaubt habe, — sie haben die Prophezeiungen der allerbesten deutschen Augenärzte zu Schanden gemacht. Wenn die Herren Gräfe et hoc genus omne Recht behalten hätten, so wäre ich schon lange blind. So bin ich — schlimm genug! — bei Nr. 3 der Brille angelangt, aber ich sehe noch. Ich spreche von dieser Misère, weil Sie die Theilnahme zeigten, mich darnach zu fragen, und weil die Augen in den letzten Wochen besonders schwach und reizbar waren. —
Sie dauern mich in Ihrem dies Mal besonders winterlichen und düsteren Norden: wie hält man da eigentlich seine Seele aufrecht! Ich bewundere beinahe Jedermann, der unter einem bedeckten Himmel den Glauben an sich nicht verliert, gar nicht zu reden vom Glauben an die „Menschheit“, an die „Ehe“, an das „Eigenthum“, an den „Staat“…
In Petersburg wäre ich Nihilist: hier glaube ich, wie eine Pflanze glaubt, an die Sonne. Die Sonne Nizza’s — das ist wirklich kein Vorurtheil. Wir haben sie gehabt, auf Unkosten vom ganzen Reste Europa’s. Gott läßt sie mit dem ihm eigenen Cynismus über uns Nichtsthuer, „Philosophen“ und Grecs schöner leuchten als über dem so viel würdigeren militärisch-heroischen „Vaterlande“ —
Zuletzt haben auch Sie, mit dem Instinkte des Nordländers, das stärkste Stimulans gewählt, das es giebt, um das Leben im Norden auszuhalten, den Krieg, den aggressiven Affekt, den Wikinger-Streifzug. Ich errathe aus Ihren Schriften den geübten Soldaten; und nicht nur die „Mittelmäßigkeit“, noch mehr vielleicht die Art der selbständigeren und eigeneren Naturen des nordischen Geistes mag Sie beständig zum Kampfe herausfordern. Wie viel „Pfarrer“, wie viel Theologie ist in all diesem Idealismus noch rückständig!… Dies wäre für mich schlimmer noch als bedeckter Himmel, sich über Dinge entrüsten zu müssen, die Einen nichts angehn! —
Ihr Erlebniß mit dem Leipziger Verleger Herrn Hermann Credner verstehe ich nur zu gut. Auch ich war vor zwei Jahren tief mit ihm engagirt, habe aber bei dem ersten Anzeichen seiner absurden Verleger-Selbstherrlichkeit einen solchen Schreck gehabt, daß ich brüsk mein Manuscript telegraphisch zurückforderte. Er ist voriges Jahr gerichtlich verurtheilt worden, weil er sich erlaubt hatte, in einer Geschichte der neueren deutschen Politik hinter dem Rücken des Autors durch eine heimtückische Nachcorrektur die ganze Tendenz des Werkes umzudrehn! — Er ist der Verleger des deutschen Reichsgerichts. —
So viel für dies Mal: es ist wenig genug. Ihre „deutsche Romantik“ hat mich darüber nachdenken machen, wie diese ganze Bewegung eigentlich nur als Musik zum Ziel gekommen ist (Schumann, Mendelsohn, Weber, Wagner, Brahms): als Litteratur blieb sie ein großes Versprechen. Die Franzosen waren glücklicher. — Ich fürchte, ich bin zu sehr Musiker, um nicht Romantiker zu sein. Ohne Musik wäre mir das Leben ein Irrthum. — Es grüßt Sie, verehrter Herr, herzlich und dankbar
Ihr
Nietzsche
1010. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Nizza, 31. März 1888>
Lieber Freund,
so weit ist Alles vorbereitet, daß ich übermorgen früh nach Turin abreise. Ich glaube mich zu erinnern, daß Sie selbst mir einmal zu diesem Versuche gerathen haben. Meine Absicht ist, daselbst zwei Monate zu bleiben, um dann direkt in’s Engadin zu gehn. Man rühmt mir die trockne Luft, die stillen Straßen, die außerordentliche Ausdehnung der Stadt, so daß ich, ohne mich dem Sonnenlicht auszusetzen, große Wege machen kann. Hier gieng es nicht zum Besten. — Wie mag es in Ihrem Venedig sein? Ich bin öfters darnach gefragt worden, da die vortrefflichen Köchlin’s dorthin verreisen wollen. Der Winter ist ein hartnäckiger Gesell, überall: nur hier nicht, scheint es. Meine Tischnachbarin, die Baronin Plänckner reist nach Corte ab: es geräth mir immer, Andre zu dem zu verführen, wozu ich selbst nicht den Muth habe.
Ihnen von Herzen zugethan
N.
Adresse: Torino, ferma in posta.
1011. An Elisabeth Förster in Nueva Germania
Nizza, Sonnabend vor Ostern <31. März> 1888
Dies Mal, mein liebes Lama, bekommst Du auch den letzten Brief, den ich in Nizza schreibe, wie Du den ersten von diesem Winter bekommen hast. Es macht mir großes Vergnügen zu denken, daß er Dich in Deiner neuen und selbstgeschaffenen Heimat begrüßen wird — und er soll Dir und Deinem Bernhard meine allerherzlichsten Glückwünsche an der Schwelle dieses neuen Daseins zu Füßen legen. Nach Allem, was Du schreibst, zieht die Hoffnung zugleich mit Euch dort ein: und wenn wahrscheinlich das Leben etwas streng und arbeitsam sein wird, so dürft Ihr Euch mit dem Dichter trösten, der ungefähr gesagt hat: „nur der verdient die Freiheit und das Leben in Nueva Germania, der täglich sie erobern muß“ …
Was Du vom „Lebensloose“ sagst und „daß es eine schöne Sache sei, dazu zu passen“, scheint mir wirklich in Deinem Falle keine Selbsttäuschung. Es ist alles überraschend gut vorwärts gegangen: so daß es mir mitunter beikommt, Deine Attitüde nachzuahmen, von der Du schreibst und „mich auf den Rücken zu legen“. Auch dürft Ihr in jedem Sinn damit zufrieden sein, im lieben Europa zu fehlen: dieses starrt heute mit dem Heroismus eines Igels in Waffen und hat alle Sorten von Damokles-Schwertern über sich aufgehängt. Ich rede noch nicht einmal vom Winter, vom härtesten Winter, von dem die berühmten „ältesten Leute“ wissen: der gebildete Europäer ist im Kampfe mit allen Elementen — und, wie bekannt „die Elemente hassen den gebildeten Europäer“. Zum Mindesten glaubte Schiller so etwas Ähnliches. —
Wir hier in Nizza sind nicht schlecht dabei weggekommen: Gott läßt, wie es scheint, mit einem an ihm nicht ungewöhnlichen Cynismus, die Sonne über Deinen philosophisch-nihilistischen Nichtsnutz von Bruder schöner leuchten als über Herrn von Bismarck und die deutsche reichsfromme Tugend. Ich wollte, ich hätte selber diesen Winter etwas mehr „geleuchtet“: aber es gab düstere Wochen, wo ich wie ein verdrossener Bär in der Höhle saß. Trotzdem glaube ich, daß es in der Hauptsache vorwärts gegangen ist und daß ich einen Schritt mehr aus der vieljährigen Misère und Décadence herausgetreten bin. Auch erleichtert es mich, meine „Litteratur“ abgethan zu haben: ich bin sogar gebildet genug, sie nicht mehr zu mögen. Man schreibt keine Meisterwerke im Zustande der décadence: das gienge gegen die Naturgeschichte! —
Wie sehr ich eigentlich krank gewesen bin, das weiß im Grunde Niemand. Und es ist gut so. —
Übermorgen früh geht es nach Torino: das ist ein neuer Versuch, die Zwischenzeit bis zum Engadin (c. 10. Juni) auszuhalten, nachdem mir alle bisherigen Versuche schmählich und schmerzlich mißrathen sind. Der Frühling ist meine schwache Zeit. Turin hat eine energische Luft, sagt man mir, die trocken ist: es ist reinlich, großstädtisch, ruhig, sehr ausgedehnt, so daß es mir erlaubt, lange Wege im Schatten zu machen: während die Reizbarkeit meiner Augen gerade in den Frühlingsmonaten besonders groß ist. Auch bin ich der Schweizer etwas satt: zu viereckig und unbeholfen, wie auch der Schweizer Städte. — Nach dem Engadin ein Monat (c. 20. Sept. — 20. Okt.) Venedig: um den ersten Musiker, der jetzt lebt, zu erheitern und mich durch ihn. Dann, wahrscheinlich, wieder Nizza. — Es fehlen mir alle Wünsche. Wozu sollte Irgend-Etwas anders werden?… Nur brauche ich eine Art von Besinnung und Concentration, die nicht ihres Gleichen hat — von wegen der berühmten „Lebensaufgabe“, zu der ich bisher, wie ich fürchte, gar nicht gepaßt habe.
Mein liebes Lama, es umarmt Dich und Deinen „conquistadore da Nueva Germania“ viele Male
Dein Fritz
1012. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Nizza, Sonnabend vor Ostern <31. März 1888>
Eben, meine liebe Mutter, ist Dein so herzlicher Brief eingetroffen: ich beantworte ihn sofort, weil es der letzte Augenblick ist, noch ein paar Worte zu schreiben und weil ich Dir für die nächsten Monate meine Adresse geben muß. Ich reise Montag Morgen ab, nach Turin dies Mal: ein neuer Versuch, die für mich so bedenkliche und schädliche Zeit den Frühling auszuhalten. Turin wird von Nizza in Einem Tage erreicht: Morgens um 6 Uhr fort, Abends um 1/2 7 Ankunft. Turin ist eine große Stadt, mit prachtvollem Pflaster und weiten stillen Straßen: da kann ich Stunden lang, geschützt vor der Sonne spazierengehn, und in einem kräftigen Clima: denn die Alpen sind nicht weit davon, und die Winde kommen von dort. Auch liegt es etwas hoch. Hoffentlich mißräth der Versuch nicht. Mein Wunsch ist, die Monate April und Mai dort zuzubringen und dann direkt ins Engadin zu gehn. Es ist Alles nicht zu sehr von einander abseits. — Hier hatten wir ein sehr unruhiges Wetter, mitunter unausstehlich schwül, mächtige Gewitter, sehr frühlingsmäßig und den Nerven unzuträglich. Ich mußte meine Spaziergänge aufgeben. Auch der Wind weht jetzt am Tage ganz unangenehm gewaltsam. —
Das Hôtel ist immer noch voll; die Wintersaison zieht sich dies Mal sehr in die Länge. Daß ich „lebe wie ein Graf“, wie Du schreibst, hat mich lachen gemacht: oh, es steht nicht gerade so mit mir, daß ich hier zu beneiden wäre. —
Anbei in der Form, die Du vorschlägst, das Quittungsbüchlein.
Von Herzen Dich umarmend
Dein altes Geschöpf.
Ich schreibe eben auch an’s Lama. Dies Mal bekommt es den letzten Brief aus Nizza, wie ich ihr den ersten diesen Winter geschrieben habe. —
Adresse Al Sigre illustmo Signore Dottore Nietzsche ferma in posta Torino Italia
1013. An Heinrich Köselitz in Venedig
Turin, den 7. April 1888.
Lieber Freund,
wie hat mir das wohlgethan! Der erste Gruß, der mich hier empfieng, war von Ihnen; und der letzte, der mich in Nizza erreichte, war auch von Ihnen. Und wie gute seltsame Dinge meldeten Sie! Daß Ihr Quartett in irgend welcher kalligraphischen Vollkommenheit vor Ihnen liegt und daß Sie seinethalben nun auch diesen Winter segnen! Im Grunde wird man eine sehr anspruchsvolle Art Mensch, wenn man bei sich sein Leben durch Werke sanktionirt: namentlich verlernt man damit, den Menschen zu gefallen. Man ist zu ernst, sie spüren das: es ist ein teufelsmäßiger Ernst hinter einem Menschen, der vor seinem Werke Respekt haben will..
Lieber Freund, ich benutze die erste Windstille einer sehr stürmischen Fahrt, um an Sie zu schreiben. Vielleicht giebt mir dies einige Ruhe und Haltung: denn ich war bisher außer Rand und Band und bin noch nie unter so ungünstigen Verhältnissen gereist. Ist es möglich, zwischen Montag und Samstag so viel absurde Dinge zu erleben! Es mißrieth Alles, von Anfang; ich lag zwei Tage krank, wo? — in Sampierdarena. Glauben Sie ja nicht, daß ich dahin habe reisen wollen. Nur mein Koffer hatte die ursprüngliche Intention nach Turin festgehalten; wir Andern, nämlich mein Handgepäck und ich, giengen in verschiednen Richtungen auseinander. Und wie theuer war die Reise! Wie bereicherte man sich an meiner Armut! Ich bin wirklich nicht gemacht mehr zum Alleinreisen: es regt mich zu sehr auf, so daß ich Alles dumm anfange. Auch hier gieng es zunächst drunter und drüber. Nachts schlaflos, erstaunt, nicht begreifend, was der Tag Alles gebracht hatte. — Wenn ich Sie einmal wieder sehe, will ich Ihnen eine Scene in Savona beschreiben, die einfach in die fliegenden Blätter gehörte. Nur machte sie mich krank. —
In Genua bin ich herumgegangen wie ein Schatten unter lauter Erinnerungen. Was ich einstmals dort liebte, fünf sechs ausgesuchte Punkte, gefiel mir jetzt noch mehr: es schien mir von unvergleichlicher bleicher noblesse und hoch über Allem, was die Riviera bietet. Ich danke meinem Schicksal, daß es mich in diesen harte und düstre Stadt in den Jahren der décadence verurtheilt hatte: geht man aus ihr heraus, so ist man auch jedes Mal aus sich heraus gegangen — der Wille weitet sich wieder, man hat nicht den Muth mehr, feige zu sein. Ich war nie dankbarer als bei dieser Eremitage bei Genua. —
Aber Turin! Lieber Freund, seien Sie beglückwünscht! Sie rathen mir nach dem Herzen! Das ist wirklich die Stadt, die ich jetzt brauchen kann! Dies ist handgreiflich für mich und war es fast vom ersten Augenblick an: wie schauderhaft auch die Umstände meiner ersten Tage waren. Vor allem miserables Regenwetter, eisig, unbeständig, auf die Nerven drückend, mit schwülen halben Stunden dazwischen. Aber was für eine würdige und ernste Stadt! Gar nicht Großstadt, gar nicht modern, wie ich gefürchtet hatte: sondern eine Residenz des 17 Jhs. welche nur Einen commandirten Geschmack in Allem hatte, den Hof und die noblesse. Es ist die aristokratische Ruhe in Allem festgehalten: es giebt keine mesquinen Vorstädte; eine Einheit des Geschmacks, die bis auf die Farbe geht (die ganze Stadt ist gelb, oder rothbraun) Und für die Füße wie für die Augen ein klassischer Ort! Was für Sicherheit, was für Pflaster, gar nicht zu reden von den Omnibus und trams, deren Einrichtung hier bis ins Wunderbare gesteigert ist! Man lebt, scheint es, billiger hier als in den andern großen Städten Italiens, die ich kenne; auch hat mich noch Niemand betrogen. Man hält mich für einen „ufficiale tedesco“ (während ich diesen Winter im offiziellen Fremden-Verzeichniß Nizza’s comme Polonais figurirte) Nein, was für ernste und feierliche Plätze! Und der Palaststil ohne Prätension; die Straßen sauber und ernst — und Alles viel würdiger als ich es erwartet hatte! Die schönsten Cafés, die ich sah. Diese Arkaden haben bei einem solchen Wechsel-Clima etwas Nothwendiges: nur sind sie großräumig, sie drücken nicht. Abends auf der Pobrücke: herrlich! Jenseits von Gut und Böse!!
Das Problem bleibt das Wetter Turins. Ich habe außerordentlich bisher unter ihm gelitten: ich erkannte mich kaum wieder. — Es grüßt Sie in dankbarer Ergebenheit Ihr Freund
Nietzsche
1014. An Georg Brandes in Kopenhagen
Torino (Italia) ferma in posta den 10. April 1888.
Aber, verehrter Herr, was ist das für eine Überraschung! — Wo haben Sie den Muth hergenommen, von einem vir obscurissimus öffentlich reden zu wollen!.. Denken Sie vielleicht, daß ich im lieben Vaterlande bekannt bin? Man behandelt mich daselbst, als ob ich etwas Absonderliches und Absurdes wäre, etwas, das man einstweilen nicht nöthig hat, ernst zu nehmen… Offenbar wittern sie, daß auch ich sie nicht ernst nehme: und wie sollte ichs auch, heute, wo „deutscher Geist“ ein contradictio in adjecto geworden ist! —
Für die Photographie bedanke ich mich auf das Verbindlichste. Leider giebt es nichts dergleichen auf meiner Seite: die letzten Bilder, die ich besaß, hat meine Schwester, die in Südamerika verheirathet ist, mit davon genommen.
Anbei folgt eine kleine vita, die erste, die ich geschrieben habe. Was die Abfassungszeiten der einzelnen Bücher betrifft, so stehen sie auf dem Titel-Rückblatt von „Jenseits von Gut und Böse“. Vielleicht haben Sie das Blatt nicht mehr.
„Die Geburt der Tragödie“ wurde zwischen Sommer 1870 und Winter 1871 abgefaßt (beendet in Lugano, wo ich zusammen mit der Familie des Feldmarschall Moltke lebte)
Die „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ zwischen 1872 und Sommer 1875 (es sollten 13 werden: die Gesundheit sagte glücklicher Weise Nein!)
— Was Sie über „Schopenhauer als Erzieher“ sagen, macht mir große Freude. Diese kleine Schrift dient mir als Erkennungszeichen: wem sie nichts Persönliches erzählt, der hat wahrscheinlich auch sonst nichts mit mir zu thun. Im Grunde steht das Schema darin, nach dem ich bisher gelebt habe: sie ist ein strenges Versprechen.
„Menschliches, Allzumenschliches“ sammt seinen zwei Fortsetzungen Sommer 1876—1879. Die „Morgenröthe“ 1880. Die „fröhliche Wissenschaft“ Januar 1882. Zarathustra 1883 — 85 (jeder Theil in ungefähr zehn Tagen. Vollkommener Zustand eines „Inspirirten“, Alles unterwegs, auf starken Märschen concipirt: absolute Gewißheit, als ob jeder Satz Einem zugerufen wäre. Gleichzeitig mit dem Gefühl größter körperlicher Elasticität und Fülle —)
„Jenseits von Gut; und Böse“, Sommer 1885 im Oberengadin u. den folg. Winter in Nizza.
Die „Genealogie“, zwischen dem 10. und 30. Juli 1887 beschlossen, durchgeführt und druckfertig an die Leipziger Druckerei geschickt.
(Natürlich giebt es auch Philologica von mir. Das geht aber uns Beide nichts mehr an.)
Ich mache eben einen Versuch mit Turin, ich will hier bis zum 5ten Juni bleiben, um dann ins Engadin zu gehn. Winterlich, hart, böse bis jetzt. Aber die Stadt superb ruhig und meinen Instinkten schmeichelnd. Das schönste Pflaster der Welt.
Es grüßt Sie Ihr dankbar ergebener
Nietzsche
Ein Jammer, daß ich weder Dänisch noch Schwedisch verstehe! —
Vita. — Ich bin am 15. Okt. 1844 geboren, auf dem Schlachtfelde von Lützen. Der erste Name, den ich hörte, war der Gustav Adolfs. Meine Vorfahren waren polnische Edelleute (Niëzky); es scheint, daß der Typus gut erhalten ist, trotz dreier deutscher „Mütter“. Im Auslande gelte ich gewöhnlich als Pole; noch diesen Winter verzeichnete mich die Fremdenliste Nizza’s comme Polonais. Man sagt mir, daß mein Kopf auf Bildern Matej<k>o’s vorkomme. Meine Großmutter gehörte zu dem Schiller-Goethe’schen Kreise Weimars; ihr Bruder wurde der Nachfolger Herders in der Stellung des Generalsuperintendenten Weimars. Ich hatte das Glück, Schüler der ehrwürdigen Schulpforta zu sein, aus der so Viele (Klopstock, Fichte, Schlegel, Ranke usw usw), die in der deutschen Litteratur in Betracht kommen, hervorgegangen sind. Wir hatten Lehrer, die jeder Universität Ehre gemacht hätten (oder haben —) Ich studirte in Bonn, später in Leipzig; der alte Ritschl, damals der erste Philolog Deutschlands, zeichnete mich fast von Anfang an aus. Ich war mit 22 Jahren Mitarbeiter des „litterarischen Centralblattes“ (Zarncke) Die Gründung eines philologischen Vereins in Leipzig, der jetzt noch besteht, geht auf mich zurück. Im Winter 1868—69 trug mir die Universität Basel eine Professur an; ich war noch nicht einmal Doktor. Die Universität Leipzig hat mir die Doktorwürde hinterdrein gegeben, auf eine sehr ehrenvolle Weise, ohne jedwede Prüfung, selbst ohne eine Dissertation. Von Ostern 1869—1879 war ich in Basel; ich hatte nöthig, mein deutsches Heimatsrecht aufzugeben, da ich als Offizier („reitender Artillerist“) zu oft einberufen und in meinen akademischen Funktionen gestört worden wäre. Ich verstehe mich, nichtsdestoweniger, auf zwei Waffen: Säbel und Kanonen — und, vielleicht, noch auf eine dritte… Es gieng Alles sehr gut in Basel, trotz meiner Jugend; es kam vor, bei Doktorpromotionen namentlich, daß der Examinand älter war als der Examinator. Eine große Gunst wurde mir dadurch zu Theil, daß zwischen Jakob Burckhardt und mir eine herzliche Annäherung zu Stande kam: etwas Ungewöhnliches bei diesem sehr einsiedlerischen und abseits lebenden Denker. Eine noch größere Gunst, daß ich vom Anfang meiner Basler Existenz an in eine unbeschreiblich nahe Intimität mit Richard und Cosima Wagner gerieth, die damals auf ihrem Landgute Tribschen bei Luzern wie auf einer Insel und wie abgelöst von allen früheren Beziehungen lebten. Wir haben einige Jahre alles Große und Kleine gemeinsam gehabt: es gab ein Vertrauen ohne Grenzen. (Sie finden in den gesammelten Schriften Wagners (Band 7) ein „Sendschreiben“ desselben an mich abgedruckt, bei Gelegenheit der „Geburt der Tragoedie“) Von jenen Beziehungen aus habe ich einen großen Kreis interessanter Menschen (und „Menschinnen“) kennen gelernt, im Grunde fast Alles, was zwischen Paris und Petersburg wächst. Gegen 1876 verschlimmerte sich meine Gesundheit. Ich brachte damals einen Winter in Sorrent zu, mit meiner alten Freundin der Baronin Meysenbug („Memoiren einer Idealistin“) und dem sympathischen Dr. Rée. Es wurde nicht besser. Ein äußerst schmerzhaftes und zähes Kopfleiden stellte sich heraus, das alle meine Kräfte erschöpfte. Es steigerte sich in langen Jahren bis zu einem Höhepunkt habitueller Schmerzhaftigkeit, so daß das Jahr damals für mich 200 Schmerzenstage hatte. Das Übel muß ganz und gar lokale Ursachen gehabt haben: es fehlt jedwede neuropathologische Grundlage. Ich habe nie ein Symptom von geistiger Störung gehabt; selbst kein Fieber, keine Ohnmacht. Mein Puls war damals so langsam wie der des ersten Napoleons (= 60) Meine Spezialität war, den extremen Schmerz cru, vert mit vollkommener Klarheit zwei bis drei Tage hintereinander auszuhalten, unter fortdauerndem Schleim-Erbrechen. Man hat das Gerücht verbreitet, als ob ich im Irrenhause gewesen sei (oder gar darin gestorben sei) Nichts ist irrthümlicher. Mein Geist wurde sogar in dieser fürchterlichen Zeit erst reif: Zeugniß die „Morgenröthe“, die ich in einem Winter von unglaublichem Elend in Genua, abseits von Ärzten, Freunden und Verwandten, geschrieben habe. Dies Buch ist eine Art „Dynamometer“ für mich: ich habe es mit einem Minimum von Kraft und Gesundheit verfaßt. Von 1882 an ging es, sehr langsam freilich, wieder aufwärts: die Krisis schien überwunden (— mein Vater ist sehr jung gestorben, exakt in dem Lebensjahr, in dem ich selbst dem Tode am nächsten war) Ich habe auch heute noch eine extreme Vorsicht nöthig; ein paar Bedingungen klimatischer und meteorologischer Art sind unerläßlich. Es ist nicht Wahl, sondern Zwang, daß ich die Sommer im Oberengadin, die Winter an der riviera zubringe … Zuletzt hat mir die Krankheit den allergrößten Nutzen gebracht: sie hat mich heraus gelöst, sie hat mir den Muth zu mir selbst zurückgegeben… Auch bin ich, meinen Instinkten nach, ein tapferes Thier, selbst ein militärisches: der lange Widerstand hat meinen Stolz ein wenig exasperirt. — Ob ich ein Philosoph bin? — Aber was liegt daran!..
1015. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig (Postkarte)
Turin, 10. April 1888.
Werthester Herr Verleger, es wird Ihnen von Interesse sein, zu hören, daß der ausgezeichnete Däne, Dr. Georg Brandes an der Kopenhagener Universität einen Cyklus öffentlicher Vorlesungen „über den deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche“ veranstaltet. Können Sie dieser Notiz nicht einige Verbreitung verschaffen? (— es würde mir Vergnügen machen, wenn Sie dieselbe zum Beispiel in das Leipziger Tageblatt einschmuggeln könnten) Adresse bis Juni: Torino (Italia) ferma in posta
N.
1016. An Franz Overbeck in Basel
Torino (Italia) ferma in posta 10 April 1888.
Lieber Freund,
ich argwöhne, daß Du mit Deinem kleinen Sprung nach dem Süden dem bösen Wetter nicht entsprungen bist. Es muß ungefähr überall abscheulich gewesen sein. Auch mir hat es arg zugesetzt. Die Reise von Nizza bis Turin, anscheinend eine kleine Sache, war vielleicht die unglücklichste Reise, die ich gemacht habe. Eine tiefe Schwäche überfiel mich unterwegs: so daß ich Alles falsch und dumm machte. Es wurde mir ad oculos (— und leider auch ad saccum „Geldbeutel“ demonstrirt, daß ich das Allein-Reisen nicht mehr riskiren sollte. Schließlich lag ich zwei Tage in einem affreusen Zustande krank — wo? in Sampi di Arena! Obwohl ich ein Billet nach Turin hatte! Aber siehe da, beim Umsteigen aus einem Zuge in den andern, war ich in Etwas Falsches gestiegen…
Der Coffer hat in braver Weise den Grundgedanken der Reise aufrecht erhalten; das Handgepäck hatte sich zerstreut, so daß es Mühe gab, es wieder zusammen zu telegraphiren. —
Ich mache einen sehr erwogenen Versuch mit Turin. Mein Wunsch ist, hier bis zu Anfang Juni auszuhalten, um direkt dann ins Engadin zu gehn. —
Die Stadt ist mir auf eine unbeschreibliche Weise sympathisch; Turin ist die einzige Großstadt, die ich gern habe. Irgend etwas Ruhiges und Zurückgebliebenes schmeichelt meinen Instinkten. Ich gehe diese würdigen Straßen mit Entzücken. Und wo giebt es solch ein Pflaster! Ein Paradis für die Füße, auch für meine Augen!… Der Frühling ist meine böse Jahreszeit, gerade die Augen pflegen absurd reizbar zu sein. Ich rechne hier auf eine gewisse Energie der Luft, bedingt durch die nahen Alpen: bis jetzt habe ich mich nicht verrechnet. Die Einwohner sind mir angenehm, ich bin wie zu Hause. Man nimmt mich come un uffiziale tedesco: durchaus kein übler Eindruck unter den jetzigen politischen Verhältnissen! — Auch lebe ich billiger hier als in Nizza, Venedig, Schweiz. Ein Zimmer, an der süperben piazza Carlo Alberto, 25 frs. den Monat, mit Bedienung. Ich esse in einem sehr guten Restaurant; da ich aber wenig esse (immer nur eine minestra und ein Fleisch), so halte ich diesen Luxus aus (— unter uns, ich wurde fast krank vor Degout an den gewöhnlicheren trattorie)
Auch bin ich wieder in voller Arbeit; und Augen und Kopf sind gutwillig: — was in Nizza nicht mehr der Fall war. — Köselitz meldet zu meiner großen Erbauung, daß sein Quartett fertig geworden ist. Seydlitz schrieb allerliebst aus Aegypten (wohin er „Weib, Mutter, Hund und Diener“ mitgenommen hat) Aus Dänemark langte ein Zeitungsausschnitt an, der mich unterrichtete, daß Dr. Brandes an der Kopenhagener Universität einen Cyklus öffentl. Vorlesungen „om den tyske Filosof Friedrich Nietzsche“ hält.
Mit dem herzlichsten Wunsche für Dich und Deine Gesundheit, und mich angelegentlich Deiner lieben Frau zu Gnaden empfehlend
Dein Freund
Nietzsche
1017. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Turin,> 11. April 1888
Heute nur die Nachricht, meine liebe Mutter, daß ich wenn auch nicht glücklich, so doch mit Haut und Haar in Turin eingetroffen bin. Die Reise war böse; ich lag unterwegs zwei Tage krank. Turin selbst gefällt mir ausnehmend; mein Lebensmuth ist wieder im Wachsen.
Herrn Köselitz hast Du sehr glücklich durch einen Brief gemacht; er hat mir mit wahrer Rührung darüber geschrieben. —
Eine Nachricht, die Dich vielleicht erbauen wird. An der Universität Kopenhagen hält der geistreichste dänische Gelehrte, Dr. Brandes einen Cyklus öffentlicher Vorlesungen über Dein altes Geschöpf. Unter dem Titel „Der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche“.
Adresse: Torino (Italia) ferma in posta.
1018. An Carl Fuchs in Danzig
Turin, den 14. April 1888.
Lieber und werther Herr Doktor,
ich habe auch hier wie in Nizza Ihr Bild vor mir auf dem Tische: was Wunders, wenn mich gar nicht selten die Lust ankommt, mit Ihnen zu reden? Und daß ich’s thue? — Wozu, frage ich mich, diesen absurde Entfremdung durch den Raum (durch jenen Raum, von dem die Philosophen sagen, er sei von uns erfunden —), diese Lücke zwischen den wenigen Menschen, die sich etwas zu sagen hätten! — —
Kennen Sie Turin? Das ist eine Stadt nach meinem Herzen. Sogar die einzige. Ruhig, fast feierlich. Klassisches Land für Fuß und Auge (durch ein süperbes Pflaster und einen Farbenton von gelb und braunroth, in dem Alles eins wird). Ein Hauch gutes achtzehntes Jahrhundert. Paläste, wie sie uns zu Sinnen reden: nicht Renaissance-Burgen. Und daß man mitten in der Stadt die Schnee-Alpen sieht! Daß die Straßen schnurgerade in sie hineinzulaufen scheinen! Die Luft trocken, sublim-klar. Ich glaubte nie, daß eine Stadt durch Licht so schön werden könnte.
Fünfzig Schritt von mir der palazzo Carignano (1670): mein grandioses Vis-à-Vis. Noch einmal fünfzig Schritt das teatro Carignano, wo man gerade sehr achtungswürdig „Carmen“ präsentirt. Man kann halbe Stunden in Einem Athem durch hohe Bogengänge gehn. Hier ist Alles frei und weit gerathen, zumal die Plätze, so daß man mitten in der Stadt ein stolzes Gefühl von Freiheit hat.
Hierher habe ich mein Huckepack von Sorgen und Philosophie geschleppt. Bis zum Juni wird es gehn, ohne daß die Hitze mich quält. Die Nähe der Berge garantirt eine gewisse Energie, selbst Rauhigkeit. Dann kommt meine alte Sommer-Residenz Sils-Maria an die Reihe: das Oberengadin, meine Landschaft, so fern vom Leben, so metaphysisch.. Und dann ein Monat Venedig: ein geweihter Ort für mein Gefühl, als Sitz (Gefängniß, wenn man will) des einzigen Musikers, der mir Musik macht, wie sie heute unmöglich erscheint: tief, sonnig, liebevoll, in vollkommener Freiheit unter dem Gesetz —
Irgendwo und irgendwann las ich, daß man nur in wenig Städten Deutschlands Schopenhauer’s Gedächtniß gefeiert habe. Man hob Danzig hervor. Dabei gedachte ich Ihrer.
Wie Alles davon läuft! Wie Alles auseinander läuft! Wie still das Leben wird! Kein Mensch, der mich kennte, weit und breit. Meine Schwester in Südamerika. Briefe immer seltner. Und man ist noch nicht einmal alt!!!! Nur Philosoph! Nur abseits! Nur compromittirend abseits! —
Ein curiosum: eben trifft ein Zeitungsblatt aus Dänemark ein. Daraus lerne ich, daß an der Kopenhagener Universität ein Cyklus öffentlicher Vorlesungen „om den tüske filosof Friedrich Nietzsche“ gehalten wird. Der Vortragende ist der Privatdozent Dr. Georg Brandes. —
Erzählen Sie mir ein wenig von Ihrem Schicksale, werther Freund! Wohin treibt jetzt das Schiff? Und warum liest man nicht Ihre gesammelten Critica? Ich hörte von Niemanden lieber Werthurtheile de rebus musicis et musicantibus.
Treulich der Ihre
Nietzsche.
(Torino, ferma in posta
1019. An Resa von Schirnhofer in Zürich
Torino, den 14. April 1888.
Mein sehr liebes Fräulein Resa,
aber das ist hübsch und sogar mehr als hübsch, daß Sie mir dies schreiben. Nur muß man nach Turin kommen, um mich jetzt zu haben. Der Frühling hat mir bisher überall erbärmlich zugesetzt, am schlimmsten in Ihrem Zürich; ich habe es verschworen, diesen Fehler zu wiederholen. Turin ist eine süperbe Stadt; die Winde des Hochgebirges reinigen sie von allem Weichlichen und Feuchten. Es gab bereits Tage, die in Licht, Klarheit und Trockenheit vollkommen des Engadins würdig waren. Ich will hier bis zum 5ten Juni bleiben und dann direkt — Mailand, Como, Chiavenna — nach meiner Sommer-Residenz Sils-Maria übersiedeln. Es würde mich freuen, wenn Ihre Pläne sich irgend wie mit den meinen zusammenfädeln ließen: machen Sie einen kleinen Versuch Parze zu spielen!…
Ich wohne hier gegenüber dem grandiosen palazzo Carignano (in dem Vittore Emanuele geboren ist), „werthe Werthe um“ — hoffentlich verstehn Sie diesen Tropus? — und ergötze mich Abends bald an vorzüglichem gelato, bald an einer guten Aufführung von Carmen, — Alles fünf Schritte weit von mir. Eigentlich giebt es keine so honnette und vornehme Stadt wie dies Turin: klassisches Pflaster, sublime portici und der Ernst feierlicher Plätze. Dabei still. Die Schneealpen mitten in der Stadt sichtbar. Man glaubt, daß die Straßen direkt sich in sie verlaufen.
— Ich wohne via Carlo Alberto Nr. 6, piano quarto. —
Es grüßt Sie, verehrtes Fräulein so herzlich wie möglich
der alte Philosoph
Brummbär und Immoralist
Nietzsche.
1020. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig
<Turin, kurz nach dem 14. April 1888>
Lieber Herr Fritzsch,
mit beiliegendem Briefe, den ich zu lesen bitte, meldet sich ein in New York lebender Bewunderer meines Zarathustra, bereit, meinen Schriften überhaupt durch einen englisch geschriebenen Essai in seinem Lande „zur gebührenden Achtung zu verhelfen“. Die beigelegte Liste seiner eignen Schriften, litterar- und kulturhistorischen Inhalts, scheinen eine gewisse Garantie zu geben: sie geben sogar zu verstehn, daß wir es mit einer Hauptpersonnage des litterarischen Völker-Verkehrs zu thun haben. Entscheiden Sie vollkommen nach Ihrem Ermessen, ob seinem Wunsche beizupflichten ist. Principiell weisen alle meine Erfahrungen darauf hin, daß meine Wirksamkeit peripherisch beginnt und erst von da aus auf das „Vaterland“ zurückströmen wird. Eben meldet man mir, daß ein im Auftrage des Florentiner Archivio storico gemachter sehr umfänglicher Gesammtbericht über neuere deutsche Geschichtslitteratur meine Gesichtspunkte aus der 2. Unzeitgemäßen B<etrachtung> sehr zu Ehren bringt: diese italiänische Publikation des genannten Archivio Stor<ico> läuft in das Lob meiner Ansichten aus. — Geben Sie mir mit drei Worten Nachricht, was geschehn soll. Im entsprechenden Fall will ich selbst noch ein Paar Worte nach New-York schreiben.
Hochachtungsvoll Ihr
ergebenster
Prof. Dr Nietzsche
Adresse bis 4. Juni: Torino (Italia) ferma in posta
von da an: Sils-Maria, Oberengadin, Schweiz.
1021. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Turin, 18. April 1888>
Lieber Freund, ich habe neulich eine Sache vergessen, über die Du Auskunft haben mußt. Nämlich die Frage, was mit dem unausstehlichen „Kunstwart“ werden soll. Meine Bitte ist, daß Du Herrn Ferdinand Avenarius (Dresden, Redaktion des „Kunstwart“) eine höfliche Karte schreibst: daß Prof. Nietzsche hiermit den Wunsch ausdrücke, daß die ferneren Nummern des Kunstwart ihm nicht mehr zugesandt werden (oder irgend etwas derart) Du ersparst mir damit, daß ich einen unhöflichen Brief schreibe (— der betr. Avenarius hat mich drangsalirt mit Liebenswürdigkeiten..) Er glaubt, daß ich begeistert für dies Schund- und Schandblatt bin —!
Herrliches Wetter. Verbesserte Gesundheit. Was macht das „Haus“?
Dein N.
1022. An Heinrich Köselitz in Venedig
Torino, Freitag. <20. April 1888> Briefe wie bisher ferma in posta
Lieber Freund,
wie merkwürdig ist das Alles! Daß nun doch noch der Stern über Berlin aufgehn soll! Daß es wieder einen kleinen Flügelschlag der Hoffnung giebt! — Eigentlich gehört die Diversion Ihrer letzten Zeit, von der Sie melden, zu den unwahrscheinlichsten und unvorhergesehensten Dingen, die auf dieser Erde möglich sind. Man glaubt wieder an’s Wunder: ein großer Fortschritt in der Kunst zu leben!… Daß da etwas Heiteres und Buntes Ihnen über den Weg geflogen ist, das macht mich ganz glücklich, lieber Freund: denn genau das hätte Ihnen geschafft werden sollen — aber was sind wir Andern alle für düstere Esel und Nachteulen!… Da war einmal die Krause’sche Philosophie am Platz — und nicht die Nietzschesche! …
Was letztere angeht, so muß es wirklich so Etwas geben, so fern man einer dänischen Zeitung trauen darf, die neuerdings bei mir anlangte. Sie meldet, daß an der Universität in Kopenhagen ein Cyklus öffentlicher Vorlesungen „om den tüzke Filosof Friedrich Nietzsche“ abgehalten wird. Von wem? Sie errathen es!… Was man diesen Herrn Juden noch Alles verdanken wird! — Denken Sie einmal an meine Leipziger Freunde an der Universität: und wieviel Meilen weit sie von dem Gedanken entfernt sind, über mich zu lesen! —
Turin, lieber Freund, ist eine capitale Entdeckung. Ich sage Einiges darüber, mit dem Hintergedanken, daß unter Umständen auch Sie davon Nutzen ziehn könnten. Ich bin guter Laune, in Arbeit von früh bis Abend — ein kleines Pamphlet über Musik beschäftigt meine Finger — verdaue wie ein Halbgott, schlafe, trotz dem daß die Carossen Nachts vorüber rasseln: alles Zeichen einer eminenten Adaptation von Nietzsche an Torino. Das thut die Luft: — trocken, anregend, lustig; es gab Tage mit dem allerschönsten Engadin-Charakter der Luft. Wenn ich an meine Frühlinge anderswo denke, z. B. in Ihrer unvergleichlichen Zauber-Muschel: wie groß ist der Gegensatz: der erste Ort, in dem ich möglich bin!… Und dabei Alles entgegenkommend, die Menschen sympathisch und guten Muths. Man lebt billig: 25 fs. mit Bedienung ein Zimmer im historischen Centrum der Stadt, vis-à-vis dem grandiosen palazzo Carignano von 1780: fünf Schritt von den großen portici und dem piazzo Castello, von der Post, vom teatro Carignano! — In letzterem, seitdem ich hier angekommen bin, Carmen: natürlich!!! successo piramidale, tutto Torino carmenizzato! Der gleiche Capellmeister wie in Nizza. Außerdem Lala Roekh von Fél<icien> David, dem Lehrer Bizets. Ein junger Componist führt eine Operette auf, zu der er selbst den Text gedichtet hat, Herr Miller junior. Im Adreßbuch sind 21 Componisten verzeichnet, 12 Theater, eine accademia philarmonica, ein Lyceum für Musik und eine Unzahl von Lehrern aller Instrumente. Moral: beinahe ein Musik-Ort! — Die weiträumigen hohen portici sind ein Stolz: ihre Ausdehnung beträgt 20 020 Meter d. h. zwei gute Stunden zum Marschiren. Dreisprachige große Buchhandlungen. Dergleichen habe ich noch nirgends getroffen. Die Firma Löscher sehr aufmerksam für mich. Ihr jetziger Chef Hr. Clausen unterrichtet mich in vielen Dingen (— ich erwäge im Stillen die Möglichkeit eines Winters hierselbst) Eine treffliche Trattoria, wo man den deutschen Professor aufs Artigste behandelt: ich zahle für jede Mahlzeit incl. Trinkgeld 1 fs. 25 ct. (minestra oder risotto, ein gutes Stück Braten, Gemüse und Brod — alles schmackhaft!) Das Wasser herrlich; der Café in den ersten Cafés 20 ct. das Kännchen; das Eis, höchste Cultur, 30 ct. Dies Alles giebt Ihnen einen Begriff. —
Heute ist der Himmel bedeckt und regnerisch. Aber es scheint mir nicht, daß ich verdrießlich bin. Vom Sommer sagt man mir, daß bloß 4 Stunden des Tags wirklich heiß sind. Die Morgen und die Abende erfrischt. Man sieht mitten aus der Stadt heraus in die Schneewelt hinein: es scheint, daß man nichts zwischen sich hat, daß die Straßen direkt in die Alpen hineinlaufen. Der Herbst soll die schönste Zeit sein. Zuletzt muß ein Energie-gebendes Element hier in der Luft sein: wenn man hier heimisch ist, wird man König von Italien…
Soviel, mein lieber alter Freund! Es grüßt Sie auf das Herzlichste
Ihr N.
Ich moralisire so: Sie brauchen einen Ort, wo Sie das ganze Jahr leben können, aber unter anderen meteorologischen Einflüssen als in Venedig, vielleicht auch der Musik benachbarter, der Aufführbarkeit… Und Italien sollten wir festhalten!!!!!!
Erzählen Sie mir noch ein wenig von Ihrem Quartett. Wohin es führt.
1023. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Turin, <20. April 1888> Freitag.
Endlich bekommt auch meine alte Mutter wieder einen Brief von ihrem Sohn, der in Turin sitzt und die Ohren in die Arbeit versteckt hat. Das ist, wie Du finden wirst, ein gutes Zeichen: denn bisher war an all den Orten, wo ich meine Frühlinge zubrachte, an Arbeit nicht zu denken. Der Geist widerwillig, das Fleisch schwach; der Magen ohne Kraft.. Hier giebt es eine herrliche trockne Luft, die ich noch nicht in einer Stadt gefunden habe. Sehr anregend, sehr Appetit machend: es gab Tage, wo ich wie im Engadin zu sein glaubte. Die Nähe des Hochgebirges ist dabei der entscheidende Faktor: auf drei Seiten von Turin hat man die Schneealpen vor sich. Hübsch in der Ferne, natürlich: aber doch so, daß man mitten in der Stadt direkt in die Hochgebirgs-Welt hineinschaut: wie als ob die Straßen darin endeten. — —
Turin ist eine prachtvolle und vornehme Stadt, mit schönen Plätzen und Palästen überhäuft. Groß außerdem: 270 000 Einwohner. Sitz mehrerer Fürsten, auch des obersten Generalstabs, sehr militärisch: sodann Universität; 12 Theater, darunter ausgezeichnete. Die Buchhandlungen für drei Sprachen (italiänisch, deutsch und französisch) gleich gut assortirt. —
Eigentlich ist es die einzige Stadt, in der ich gern lebe. Ihr Stolz sind die herrlichen hochräumigen Portici, Säulen- und Hallengänge, die alle Hauptstraßen entlang laufen, so großartig, wie man im ganzen Europa keinen Begriff hat, überdies weithin die Stadt durchziehend, in einer Gesammtausdehnung von 10 020 Meter (d. h. zwei Stunden gut zu marschiren) Damit ist man gegen jedes Wetter geschützt: und eine Sauberkeit, eine Schönheit von Stein und Marmor, daß man wie in einem Salon zu sein glaubt.
Seltsam! Dabei lebe ich billiger hier als in Nizza und Engadin; billiger auch als in Leipzig. Ich wohne, an der feierlichen piazza Carlo Alberto, gegenüber dem grandiosen palazzo Carignano und zahle für mein hübsches Zimmer (mit Bedienung) 25 frs. (=20 Mark) den Monat (Centrum der Stadt, geschätzteste Lage, schöner palazzo) Für eine sehr schmackhafte Mahlzeit zahle ich, Alles, selbst Trinkgeld eingerechnet, nach Eurem Gelde eine Mark (— und es schmeckt mir zehn Mal besser als in Leipzig, wo ich Widerwillen vor der Küche habe) Der Café in den ersten Café’s (großartig und glänzend, wie man keine Vorstellung bei Euch hat) 16 Pfennige, das Eis 24 Pfennige: aber Alles viel besser als man es in Deutschland versteht. Das Wasser ist ausgezeichnet, Gebirgswasser: das Brod insgleichen. Man ißt zu allen Sachen ganz dünne Brodröhrchen, grissini genannt, die sich knuppern <lassen> und überdies dem Magen sehr zuträglich sind. Ich vergaß die Chokolade Turin’s zu rühmen, die berühmteste Europa’s. —
Die Straßen sind nicht übermäßig belebt: man hat seine Ruhe darin. Ich bin nirgendswo mit so viel Vergnügen spazieren gegangen als in diesen vornehmen unbeschreiblich würdigen Straßen, in denen viele alte Paläste sind. Große Raumverschwendung überall: nichts Gedrücktes. Ein mächtiger Fluß giebt der Stadt an der Einen Seite ihr Ende. Höchst malerische Ufer. Überall alte große reiche Baum-Alleen, wie sie einer alten Königs-Residenz würdig sind. —
Freund Köselitz hat eine sehr glückliche Bekanntschaft und Gönnerschaft gefunden; es ist möglich, daß er zu Herbst nach Berlin zum Besuch einer vornehmen Familie kommt, die Alles thun wird, um bei Hofe und sonst seine Werke in Aufnahme zu bringen.
Daß Du für mich nähest und flickst, höre ich mit Vergnügen. Ich bin wieder recht herunter. Die Kleider erbärmlich. Unwürdig dieser schönen Stadt, wo man etwas auf sich hält!
Dein altes Geschöpf F.
Schönsten Dank für Deinen lieben Brief! Adresse nach wie vor: Torino (Italia) ferma in posta
1024. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Fragment)
<Turin, 16. April 1888>
[+ + +]
— Der Tod meines alten Vormundes betrübt mich sehr: ich denke auch noch daran, daß er mir den einzigen Prozeß meines Lebens glücklich in Gang gebracht hat, und daß ohne die von ihm geretteten Gelder Dein altes Geschöpf in den letzten Jahren nichts hätte herausgeben und drucken können. So hängt Alles zusammen, wo man’s oft am wenigsten vermuthet. Ich will sehen, daß ich der Tante ein Paar Worte der Theilnahme schreibe.
— Zuletzt eine Bitte, die ich nur sehr ungern an Dich richte. Jener Dänische Gelehrte Dr. Brandes, der über mich die Vorlesung hält, bittet mich um meine Photographie auf das Allerinständigste, indem er mir zugleich die seine schickt. Nun ist der Fall so außerordentlich, daß ich ihm wirklich Nichts jetzt verweigern möchte. Giebt es noch eine Photographie, und wäre es die letzte, so wollen wir sie ihm schicken. Ich verspreche Dir für meinen ersten Aufenthalt in Deutschland, mich für Dich photographiren zu lassen.
Ich nehme an, daß Du noch ein Bild von den guten Schultzschen hast. Opfere es, bitte. Und mache diesen Adresse:
Herrn Dr. Georg Brandes
in
(St. Anne-Platz 24) Kopenhagen
(Dänemark)
Herr Köselitz schrieb mir heute: „beim Lesen Ihres gütigen Briefs wurde ich fast schwindelig vor Entzücken über Brandes. Mit ihm scheint mir ein wirklicher Anfang Ihrer Wirksamkeit gemacht: denn bis jetzt hatten Sie keine Anhänger, Jünger, Schüler, sondern nur Diebe. Und Jedweder kann da nicht hintreten und den Menschen von Ihnen predigen; Ihr erster Prediger muß selber eines gewissen Ansehens genießen. Dies ist bei Brandes der Fall. Er darf von Ihnen reden, ohne Sie zu compromittiren oder Ihnen gar zu schaden; er ist kein Fremdling unter Ihresgleichen, wie die gewöhnlichen andren Besprecher Ihrer Gedanken. Zudem hat er die gelesensten Zeitschriften zu seiner Verfügung und ein europäisches Publikum (— er schreibt dänisch, französisch, deutsch, schwedisch, russisch, polnisch)“
Turin, zum Schluß gesagt, wäre wirklich der Ort, wo ich meine alte Mutter einmal am liebsten hätte. Das würde Dir sehr viel Vergnügen machen: es ist nur so arg weit.
Dein altes Geschöpf
1025. An Heinrich Köselitz in Venedig
Turin, 1. Mai 1888.
Lieber Freund,
Ihr südländischer Titel gefällt mir sehr gut; er hat Farbe, er protestirt — Vielleicht setzen Sie besser „Heimkehr nach Avignon“ statt des etwas gemüthlich klingenden Imperativs „Heim nach Avignon!“ —
Und das erinnert mich an die Heimkehr nach Annaberg und, wer weiß? an ein Turnier in Berlin; dem, hoffentlich, auch etwas Ballspiel folgt, nebst Notturno, und was Alles auf einem schönen Landsitze, abseits von der großen Stadt, möglich ist! Das scheint mir Alles sehr gut ausgedacht: und heute über’s Jahr liegt, wie ich von Herzen wünsche, ein tüchtiges und schönes Stück Leben hinter Ihnen — in „kalligraphischer Vollkommenheit“…
Das Wetter ist heute betrübt: umso unparteilicher kann ich über Turin schreiben, von dem ich Ihnen gern noch einen praktischeren Begriff geben möchte als meine letzten Briefe thaten. Denn daß Turin gerade mir, einem Kranken und Absurd-Abhängigen, klimatisch gut thut, und daß es z. B. für meine Beine und Augen ein gelobtes Land ist, macht mich noch nicht blind dafür, daß Ihnen Turin ganz andre Vortheile bieten müßte, um, nach Venedig, überhaupt möglich zu sein. Sie schreiben, daß es als eine theure Stadt gilt? Dies mag im Munde eines Beamten oder Militär-Chefs auch vollkommen correkt sein: eine solche Stadt ist theuer, weil sie zur Repräsentation seiner Stellung zwingt, und weil es beinahe die erste Großwürden- und Beamten-Stadt Italiens ist (Sitz des Generalstabs usw.) Von uns aus geurtheilt, die wir nichts repräsentiren wollen und im Gegentheil die Verborgenheit in einer großen Stadt uns zu Gemüthe führen, steht es exakt umgekehrt. Ich habe noch keinen billigeren Ort kennen gelernt, am wenigsten in Italien: aber auch Leipzig ist theurer. Das macht die großstädtische Concurrenz in allen Hauptsachen (Wohnung, Kleidung, Ernährung) Ich esse hier entschieden besser, solider als ich in Leipzig esse, ebenfalls als in der panada, seligen Angedenkens, — und billiger! Es giebt eine große Menge starkbesuchter Trattorien, wo man noch bedeutend die Preise reduzirt: die Stadt ist voll von jungen Leuten (und älteren Junggesellen), dank den vielen höheren Schulen, der Universität, dem Offiziercorps, — das will Alles gut essen und nicht viel bezahlen. In den ersten luxuriösesten Cafes wird im Entgegenkommen geradezu Unglaubliches geleistet. Das Café nazionale zum Beispiel, das an Monte-Carlo erinnert, hat Abends seine glänzenden Räume voll, man hört ein Concert von 12 Nummern, ein kleines hübsches Orchester — und man zahlt auch keinen centesimo mehr als man sonst zahlt (Café 20 ct., Chocolade 30, das pezzo gelato 30 usw) Auch die Theaterpreise sind sehr mäßig: mir fällt übrigens das verkable Theaterfieber auf, das hier herrscht. Alle Theater (außer dem t<eatro> regio) in voller Aktivität; eine Pariser comédie-Gesellschaft, besten Renommée’s, anlangend, zwei neue Operetten-Gesellschaften insgleichen. Turin wirkt durch einen gewissen Strom von Leben, es drückt nicht, es ist nicht das Abbild des kleinen Erwerbs und Vorwärts-Kriechens. Die räumliche Größe und Großartigkeit hat etwas Contagiöses; man geht mit mehr Freimuth herum. Jetzt hat die Stadt ihren herrlichen Frühlingsschmuck, die Alleen, — das war immer ein fürstlicher Geschmack. Ich traue immer noch meinen Augen nicht, wenn ich Abends am Po entlang gehe und hinüber sehe, in diesen reiche, bunte, malerische Baum- und Hügelwelt! Neulich entdeckte ich, auf der andern Seite des Po, eine hohe Baum-Allee, dicht am Po 1 1/2 Stunde entlang führend: auf der andern Seite ein voller Bach; tiefste Stille; der Fluß mit kleinen grünen Inselchen geschmückt, und, zur Seite, ohne Unterbrechung, in strahlender Reinheit, das Hochgebirge. Dies ist doch sehr nahe: man kommt mit 50 Minuten Eisenbahnfahrt nach Lanzo: — da hat man bereits das Hochgebirge. Von ihm aus ist das hiesige Clima bedingt; in Sonderheit die vielen ganz hellen Tage, auch im Winter (im Ganzen nur 50 Tage weniger als in Nizza) Mir fällt auf, wie gut ich hier mit trübem Wetter und bedecktem Himmel fertig werde: — ich habe fort und fort gearbeitet, mehr als im ganzen Nizzaer Winter bereits! An schönen Tagen weht hier eine reizende, leichte, leichtfertige Luft, in der die schwerfälligsten Gedanken Flügel bekommen… (— ich habe bis heute noch nicht Carmen gehört! Beweis, wie ich mit mir beschäftigt bin. Ein Mal nur im Theater: eine neapolitanische Farce — warum? Weil der maestro E. Sassone hieß!! „Induction psycho-motrice“ nennt man das heute. Nach Hause kommend leuchtete ich mir meinen alten palazzo hinauf, mit einem Wachsstreichkerzchen, das ich ich weiß nicht wem verdanke. Nochmals: induction psycho-motrice!! —)
Treulich Ihr Freund
N.
Es muß etwas wie Coordination des Geschmacks geben: hier, wo meine Augen und Nerven sich wohlfühlen, scheinen mir auch die Speisen nach dem Schema meines Personalgeschmacks ausgedacht. Und sogar das Wasser! Überall fließt es; ich gehe immer mit einem Gläschen.
1026. An Paul Deussen in Berlin (Postkarte)
Turin, 3. Mai 1888
Lieber Freund,
dies Mal nur einen allerherzlichsten Gruß aus meiner Frühjahrs-Residenz Turin, wo ich tief in der Arbeit, aber in guter Laune sitze. Letztere hängt Etwas von den Berichten aus Kopenhagen ab. An der dortigen Universität hält der geistreiche Dr. Georg Brandes einen Cyklus von Vorlesungen „über den deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche“. Dieselben haben einen glänzenden Verlauf. Der Saal jedes Mal zum Bersten voll. Mehr als 300 Zuhörer. Die großen Zeitungen geben Berichte. — Sic incipit gloria mundi… Dankbar Dein Freund
Nietzsche
Adresse bis 5. Juni Torino, ferma in posta. Von da an Sils-Maria, Oberengadin
1027. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig (Postkarte)
Torino, 3. Mai 1888
Werthester Herr Verleger,
aus Kopenhagen wird mir gemeldet, daß die Vorlesungen des Dr. Brandes große Theilnahme erregen, daß der Saal jedes Mal „zum Bersten voll“ ist, mehr als 300 Zuhörer. Dr. B<randes> hofft, wie er schreibt, mir auf diese Weise „einige gute Leser im Norden zu verschaffen“.
Er hat von meinem „Hymnus an das Leben“ gehört, er möchte gerne Alles besitzen, was es von mir giebt. Wollen Sie diesem Wunsch entsprechen? — Die Adresse, nach wie vor:
Dr. Georg Brandes
Kopenhagen
St. Anne-Platz 24 (Dänemark)
Mit herzlichem Gruße
seitens Ihres ergebensten
Nietzsche
1028. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
Turin, 3 Mai 1888
Meine liebe Mutter,
die Vorlesungen in Kopenhagen haben einen glänzenden Verlauf. Der Saal jedes Mal zum Bersten voll. Mehr als 300 Zuhörer. Die großen Zeitungen geben Berichte. — Ich wiederhole meine Bitte, die Photographie betreffend, weil sie inzwischen durch Dr. Brandes selbst wiederholt worden ist. Aber nur eine von den besten! Sonst lieber nichts. — Hoffentlich hast Du mir meinen letzten Brief nicht übel genommen: ich habe mich vielleicht etwas zu stark ausgedrückt? Herzlich grüßend
das alte Geschöpf
1029. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Turin, 3. Mai 1888>
Lieber Freund,
ich habe jetzt durch Dr. Brandes selbst Nachricht. Seine Vorlesungen nehmen einen glänzenden Verlauf. Der Saal jedes Mal „zum Bersten“ voll. Mehr als 300 Zuhörer. Alle großen Zeitungen geben Berichte. — Er bittet mich um den „Hymnus an das Leben“: zuletzt bringt er dessen erste Aufführung zu Stande. — Ich bin heute fertig mit meinem ersten Monat in Turin und versuche noch einen zweiten. Dann direkt ins Engadin. Sehr in Arbeit, aber bei guter Laune.
Dein Nietzsche
1030. An Georg Brandes in Kopenhagen
Turin, den 4. Mai 1888
Verehrter Herr,
was Sie mir erzählen, macht mir großes Vergnügen und mehr noch, daß ich’s gestehe — Überraschung. Seien Sie überzeugt davon, daß ich’s Ihnen „nachtrage“: Sie wissen, alle Einsiedler sind „nachträgerisch“? ..
Inzwischen wird, wie ich hoffe, meine Photographie bei Ihnen angelangt sein. Es versteht sich von selbst, daß ich Schritte that, nicht gerade um mich zu photographiren (denn ich bin gegen Zufalls-Photographen äußerst mißtrauisch), sondern um Jemandem, der eine Photographie von mir hat, dieselbe zu entfremden. Vielleicht ist mir’s gelungen; denn noch weiß ich es nicht. Im andren Falle will ich meine erste Reise nach München (diesen Herbst wahrscheinlich) benutzen, um mich wieder zu versinnbildlichen.
Der „Hymnus auf das Leben“ wird dieser Tage seine Reise nach Kopenhagen antreten. Wir Philosophen sind für nichts dankbarer, als wenn man uns mit den Künstlern verwechselt. Man versichert mich übrigens von Seiten der ersten Sachverständigen, daß der Hymnus durchaus aufführbar, singebar und in Hinsicht auf Wirkung sicher sei (— „rein im Satz“: dies Lob hat mir am meisten Freude gemacht) Der vortreffliche Hofkapellmeister Mottl von Carlsruhe (Sie wissen, der Dirigent der Bayreuther Festaufführungen) hat mir eine Aufführung in Aussicht gestellt. —
Aus Italien meldet man mir eben, daß die Gesichtspunkte meiner 2. Unzeitgemäßen Betrachtung in einem Berichte über deutsche Geschichts-litteratur sehr zu Ehren gebracht seien, den ein Wiener Gelehrter Dr. von Zdekauer im Auftrage des Florenzer Archivio storico gemacht hat. Der Bericht läuft in dieselben aus. —
Diese Wochen in Turin (wo ich noch bis zum 5. Juni bleibe) sind mir besser gerathen als irgend welche Wochen seit Jahren, — vor allem philosophischer. Ich habe fast jeden Tag ein, zwei Stunden jene Energie erreicht, um meine Gesammt-Conception von Oben nach Unten sehn zu können: wo die ungeheure Vielheit von Problemen, wie ein Relief und klar in den Linien, unter mir ausgebreitet lag. Dazu gehört ein maximum von Kraft, auf welches ich kaum mehr bei mir gehofft hatte. Es hängt Alles zusammen, es war schon seit Jahren Alles im rechten Gange, man baut seine Philosophie wie ein Biber, man ist nothwendig und weiß es nicht: aber das Alles muß man sehn, wie ich’s jetzt gesehen habe, um es zu glauben. —
Ich bin so erleichtert, so gestärkt, so guter Laune, — ich hänge den ernstesten Dingen einen kleinen Schwanz von Posse an. Woran hängt das Alles? Sind es nicht die guten Nordwinde, denen ich das verdanke, diesen Nordwinde, die nicht immer aus den Alpen kommen? — sie kommen mitunter auch aus Kopenhagen!
Es grüßt Sie dankbar ergeben
Ihr Nietzsche
1031. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)
Turin, den 7. Mai 1888
Geehrtester Herr Verleger,
hiermit ersuche ich Sie, je ein Exemplar meiner beiden Schriften Ihres Verlags dem Commissionär Volckmar zu übermitteln. Derselbe befördert sie dann durch den Buchhändler L. Zickel in New-York an den Herrn, dem dieselben zugedacht sind
Herrn Karl Knortz
540 East 155th Str.
New York
Der genannte Litterarhistoriker verspricht einen englischen Essai über meine gesammten Schriften. — Vielleicht interessirt es Sie, zu hören, daß Dr. Georg Brandes an der Kopenhagener Universität einen stark besuchten Cyklus von Vorlesungen „über den deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche“ hält. Mehr als 300 Zuhörer. —
Ihr ergebenster
Dr. Nietzsche
Adresse: Torino (Italia)
ferma in posta
1032. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)
Torino, den 9. Mai 1888
Geehrtester Herr Verleger,
ich habe noch einen kleinen Posten bei dem Antiquar Herrn Alfred Lorentz zu berichtigen, nämlich 7 Mark 30 Pf. (sieben Mark dreißig Pfennige) laut eingesandter Abschluß-Rechnung (vom 28. April). Sie würden mich verpflichten, wenn Sie diese Sache in meinem Namen erledigen wollten? Eine besondere Notifikation darüber ist nicht nöthig.
Hochachtungsvoll Ihr
Prof. Dr. Nietzsche
Vorgestern ist bereits eine Karte an Sie abgegangen New-York betreffend; im gleichen Sinn auch an E. W. Fritzsch
1033. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Turin, 10. Mai 1888>
Das hast Du sehr gut gemacht, meine liebe Mutter, viel besser als ich’s mir ausgedacht hatte. Allerschönsten Dank! Wie viel verlangt jetzt der Photograph für ein Bild? Ich hätte fast nöthig, mir noch fünf dazu machen zu lassen. — Heute nur die Mittheilung, daß ich mir einen completen Anzug bei einem guten Schneider bestellt habe (: so daß mein letzter Wunsch hinsichtlich einer Weste erledigt ist) Der Preis ist 64 M. (= 80 frs) sehr solider Stoff. Der Schneider kritisirte die Sachen, die ich anhatte, aufs schärfste; er wollte absolut nicht glauben daß sie auf Maaß gemacht seien, er sagte, so schlechte Schneider gäbe es nicht. (Es war die schwarze Hose für 29 Mark, und eine der beiden Westen vom vorigen Sommer) Ich habe gelacht; aber allen Ernstes, seit 10 Jahren habe ich kein Kleidungsstück auf dem Leib gehabt, das mir gepaßt hätte. — Es umarmt Dich
Dein altes Geschöpf
1034. An Reinhart von Seydlitz in München
Adresse: Torino <Italia>, ferma in posta. (gültig bis zum 5. Juni) Turin, den 13. Mai 1888
Lieber Freund,
es dünkt mich unwahrscheinlich, daß Du Dich endgültig zur Mumie (männlicher geredet: zum Mum) entschlossen hast. Der Frühling ist da: Du wirst wieder für die Reize des „deutschen Gemüths“ offen stehn — und vielleicht sogar für die der Freundschaft! Dein Brief kam sehr erquicklich in den Winter meines Nizzaer Mißvergnügens hinein, von dem ich Dir, zu meinem Bedauern, eine nicht unverächtliche Probe gegeben habe. Mit dem Verlassen Nizza’s haben mich dies Mal auch die schwarzen Geister verlassen — und, Wunder über Wunder, ich habe einen merkwürdig heiteren Frühling bisher gehabt. Den ersten seit zehn, fünfzehn Jahren — vielleicht noch länger! Nämlich: ich habe Turin entdeckt… Turin keine bekannte Stadt! — nicht wahr? Der gebildete Deutsche reist daran vorbei. Ich, in meiner willkürlichen Verhärtung gegen Alles, was die Bildung heischt, habe mir aus Turin meine dritte Residenz zurechtgemacht, will sagen Sils-Maria als erste und Nizza als zweite. An jedem Ort vier Monate; für Turin zwei Monate Frühjahr und zwei Monate Herbst. Seltsam! Was mich dazu überredet, ist die Luft, die trockne Luft, die an allen drei Orten gleich ist, und aus denselben meteorologischen Gründen. Schneegebirge im Norden und Westen — auf diese Rechnung kam ich hierher — und bin entzückt! Selbst an sehr warmen Tagen — wir hatten schon solche — giebt es jenen berühmten Zephyr, von dem ich bisher nur durch die Dichter wußte (ohne ihnen zu glauben! Lügenvolk!) Die Nächte frisch. Man sieht mitten aus der Stadt hinein in den Schnee. Außerdem vorzügliche Theater, ital<ienisch> oder französisch; Carmen, wie billig, zur Feier meiner Gegenwart (piramidale successo — Verzeihung für die aegyptische Anspielung!) Eine ernste, fast großgesinnte Welt stiller Straßen mit Palästen des vorigen Jahrhunderts, sehr aristokratisch. (Ich selbst wohne dem palazzo Carignano gegenüber, im alten palazzo des Justizministeriums) Höhe der Caféhaus-Cultur, der gelati, des cioccolato Torinese. Dreisprachige Buchhandlungen. Universität, gute Bibliothek, Sitz des Generalstabs. Die Stadt mit herrlichen Alleen; unvergleichliche Uferlandschaften am Po. Bei weitem die angenehmste, reinlichste, großräumigste Stadt Italiens, mit dem Luxus der portici in einer Länge von 10 020 Meter. — Die Nordwinde, scheint es, bringen mir Heiterkeit; und stelle Dir vor, es kommen Nordwinde sogar aus Dänemark zu mir. Das nämlich ist das Neueste: an der Kopenhagener Universität liest jetzt der Dr. Georg Brandes einen größeren Cyklus Vorlesungen über „den deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche“. Dieselben haben, nach den Zeitungen, einen glänzenden Verlauf, der Saal jedes Mal zum Brechen voll; mehr als 300 Zuhörer.
Wie lange wird es dauern, ehe meine peripherischen Wirkungen (— denn ich habe Anhänger in Nordamerika und sogar in Italien) zurückwirken auf das geliebte Vaterland? — wo man mit einem tückischen Ernste mich seit Jahren gewähren läßt, ohne auch nur zu mucksen… Das ist sehr philosophisch — und klug!
Anbei eine Frage. Ist Dir durch meinen Verleger meine letzte Schrift, die „Streitschrift“ hübsch, wie sichs geziemt, „zu geehrten Händen“ übersandt worden?
Gestern dachte ich mir ein Bild aus von einer moralité larmoyante, mit Diderot zu reden. Winterlandschaft. Ein alter Fuhrmann, der mit dem Ausdruck des brutalsten Cynismus, härter noch als der Winter ringsherum, sein Wasser an seinem eignen Pferde abschlägt. Das Pferd, die arme geschundne Creatur, blickt sich um, dankbar, sehr dankbar —
Du hast jetzt in Madame Judith Gautier (ehemals Mendès) — Tribschener Angedenkens — eine eifrige Cameradin in der propaganda für Japon. Hast Du von ihrem großen Theater-Erfolge mit „la marchande des sourires“ gelesen?
Adieu, lieber Freund, empfiehl mich Deiner lieben Frau zu Gnaden (— es giebt sehr gute Nachrichten von meiner Schwester, die jetzt nun endgültig übergesiedelt in die Colonie nueva Germania ist) und, wenn es möglich, auch Deiner verehrten Frau Mutter.
Mit einem herzlichen Glückwunsch
Dein Freund Nietzsche.
(nach Turin Sils-Maria, Oberengadin Schweiz)
1035. An Heinrich Köselitz in Venedig
Turin, Donnerstag d. 17. Mai 1888.
Lieber Freund,
ich höre mit Betrübniß, daß Ihre Gesundheit Schwierigkeiten macht. Alles, was Sie sonst schreiben, ist so gesund, selbst heiter. Vor Allem, daß auch Sie keinen „würdigeren“ Gebrauch von einem Honorare zu machen wissen als drucken zu lassen… Das hat Rasse; aber man gehört damit in die „verkehrte Welt“. Mit welchem Erfolge ich selbst in den letzten Jahren gegen die Schmeitznern aus dem Rachen gezogenen Honorarfonds gewüthet habe, errathen Sie wohl! Alles verpulvert! — Aber das erinnert mich an einen scherzhaften Vers aus der Basler Zeit, wo ich Abends gern meine Schwester damit unterhielt, sehr gewagte Reime zu schmieden. Der Vers ist an Schmeitzner gerichtet, als er gemeldet hatte, er mache nunmehr Ernst mit dem Verlage und habe sein Haus verkauft, die nöthigen Gelder dazu zu schaffen.
Der du dein Haus versilberst
Und in Papier verpülverst,
Oh Schmeitzner, folge mir!
Trink lieber ein Paar Schnäpse
Und lass die tausend Krebse,
Kreuch selber hinter dir!
**
Ein Vers zu Ehren des Pastor Brockhaus, der an der Trichinitis starb (Sohn des alten Prof. B<rockhaus>)
Der altgewordne Pastor
Ergab sich einem Lastor
Und aß der Wurst zu viel.
Da kam heran Trichine,
Kroch in das Bein der Schiene
Und trieb ein tödtlich Spiel.
**
Auf einen Besuch von Frau Marie Baumgartner, welche uns Byron’s Kain vorlas.
Mit Kain, Pepsin, Äpfeln
Sah man nach Basel stäpfeln
Mariam von Lörrach,
Um dort mit Thee und Kachen*
Abélen todtzuschlagen
Und auch den langen Nachmittag.
**
Als ich im Frühjahr 1883 mit meiner Schwester von Rom nach Genua zurückreiste, haben wir unterwegs nichts als solche Verse gemacht. Wir bestachen die Schaffner an jeder Station, um allein zu sein, weil wir fortwährend lachten — —
Es giebt sehr gute Nachrichten von meinen Südamerikanern: sie sind jetzt endgültig in die neue Colonie Nueva Germania übergesiedelt und daselbst empfangen worden „wie ein Fürst nicht festlicher empfangen werden könnte“. Der Zufluß von Colonisten ist bedeutend. —
Auch aus Kopenhagen sind gute Nachrichten da. Die Vorlesungen nehmen einen glänzenden Verlauf. Der Saal ist jedes Mal „zum Bersten“ voll. Mehr als 300 Zuhörer. Die Zeitungen geben Berichte.
Hier ist mir der erste Geschäftsführer der Firma Löscher sehr entgegengekommen, in allerlei Praxis und Noth des Lebens, wo ich mir selbst schlecht zu rathen weiß. Das ist ein stiller bescheidener Mann, Buddhist, etwas Anhänger Mainländer’s, begeisterter Vegetarianer (— er hat hier das Grahambrod eingeführt und den Preis fixirt: das Kilo = 30 ct.) Gestern sagte er mir, unaufgefordert, daß er Jude sei… Nicht einmal getauft! — Er hat mir bewiesen, daß Mainländer kein Jude war. —
Aus New-York kam seitens eines Bewunderers meines Zarathustra das Versprechen eines größeren englischen Essai über meine Schriften, in einer der ersten amerikanischen Revuen. —
Ich wünschte Ihnen sagen zu können, wie mich alle Ihre Musik-Urtheile erbauen: es scheint, daß ich im Instinkte jetzt nicht mehr sehr fern von Ihrem Geschmack bin, — aber unendlich in der Ausdrucksfähigkeit. Mir fehlt ein Jahr exakten Musikstudiums, um nur wieder die Sprache dafür in die Gewalt zu bekommen. —
Eine glänzende Aufführung von Carmen, Ehren-Serata des vielbewunderten Frl. Borghi. Doch war Nizza im Spiel Allem über, was ich bis jetzt an Aufführungen dieser Oper erlebt habe (De Reims als Don José, la Frandin als Carmen)
Der große Erfolg von Lalo, mit seinem „roi d’Ys“ in Paris, macht mir Freude. Ein bescheidner Künstler, dem das Leben schlimm schon mitgespielt hat. Der „große Erfolg“ ging mit dem dritten Akte los — das heißt mit den schönen Melodien: der kluge Mann hatte sie alle bis dahin aufgespart!!
Lieber Freund, vergeben Sie mir diesen vielleicht zu heiteren Brief: aber nachdem ich, Tag für Tag, „Werthe umgewerthet“ habe und sehr ernst zu sein Grund hatte, giebt es eine gewisse Fatalität und Unvermeidlichkeit zur Heiterkeit. Ungefähr wie bei einem Begräbniß… Mit herzlichem Gruß und Dank
Ihr Freund Nietzsche
1036. An Georg Brandes in Kopenhagen
Turin, den 23. Mai 1888.
Verehrter Herr,
ich möchte Turin nicht verlassen, ohne Ihnen nochmals auszudrücken, wie vielen Antheil Sie an meinem ersten wohlgerathenen Frühling haben. Die Geschichte meiner Frühlinge, seit 15 Jahren zum Mindesten, war nämlich eine Schauergeschichte, eine Fatalität von décadence und Schwäche. Die Orte machten darin keinen Unterschied; es war als ob kein Recept, keine Diät, kein Clima den wesentlich depressiven Charakter dieser Zeit verändern könnten. Aber siehe da! Turin! Und die ersten guten Nachrichten, Ihre Nachrichten, verehrter Herr, aus denen mir bewiesen ward, daß ich lebe… Ich pflege nämlich mitunter zu vergessen, daß ich lebe. Ein Zufall, eine Frage erinnerte mich dieser Tage daran, daß in mir ein Hauptbegriff des Lebens geradezu ausgelöscht ist, der Begriff „Zukunft“. Kein Wunsch, kein Wölkchen Wunsch vor mir! Eine glatte Fläche! Warum sollte ein Tag aus meinem siebzigsten Lebensjahr nicht genau meinem Tage von heute gleichen? — Ist es, daß ich zu lange in der Nähe des Todes gelebt habe, um die Augen nicht mehr für die schönen Möglichkeiten aufzumachen? — Aber gewiß ist, daß ich jetzt mich darauf beschränke, von heute bis morgen zu denken, — daß ich heute festsetze, was morgen geschehn soll — und für keinen Tag weiter! Das mag unrationell, unpraktisch, auch vielleicht unchristlich sein — jener Bergprediger verbot gerade diese Sorge „um den andern Tag“ — aber es scheint mir im höchsten Grade philosophisch. Ich bekam vor mir etwas Respekt mehr, als ich ihn sonst schon habe: ich begriff, daß ich verlernt hatte, zu wünschen, ohne es auch nur gewollt zu haben. —
Diese Wochen habe ich dazu benutzt, „Werthe umzuwerthen“. — Sie verstehen diesen Tropus? — Im Grunde ist der Goldmacher die verdienstlichste Art Mensch, die es giebt: ich meine der, welcher aus Geringem, Verachtetem etwas Werthvolles und sogar Gold macht. Dieser allein bereichert; die andern wechseln nur um. Meine Aufgabe ist ganz kurios dies Mal: ich habe mich gefragt, was bisher von der Menschheit am besten gehaßt, gefürchtet, verachtet worden ist: — und daraus gerade habe ich mein „Gold“ gemacht…
Daß man mir nur nicht Falschmünzerei vorwirft! Oder vielmehr; man wird es thun. —
— Ist meine Photographie in Ihre Hände gelangt? meine Mutter hat mir den großen Dienst erwiesen, in einem so außerordentlichen Falle nicht undankbar erscheinen zu müssen. Hoffentlich hat auch der Leipziger Verleger E. W. Fritzsch seine Schuldigkeit gethan und den Hymnus expediert.
Ich bekenne zuletzt eine Neugierde. Da es mir versagt war, an der Thürspalte zu horchen, um etwas über mich zu erfahren, würde ich gern auf eine andere Weise etwas horchen mögen. Drei Worte zur Charakteristik der Themata Ihrer einzelnen Vorlesungen — wie viel wollte ich aus drei Worten lernen!
Es grüßt Sie, verehrter Herr, herzlich und ergeben
Ihr
Nietzsche
1037. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)
<Turin, 25. Mai 1888>
Lieber Freund,
die Pariser sind eben toll vor Begeisterung für — die Matthäus-Passion!! Der Figaro, wirklich der Figaro! hatte eine ganze Seite einer Notenbeilage gewidmet: der schwermüthigen Arie „Erbarme dich, mein Gott“… Hier hat Teatro Carignano geschlossen, natürlich mit Carmen: es hat davon 2 Monate gelebt. Dem Publikum wurden 3 andre Opern angeboten: es wies sie der Reihe nach ab. Die Zahl der Vorstellungen war für mich erstaunlich: man hat mehrmals drei Abende hintereinander das Werk vorgeführt. Am Schluß sehr respektable Geschenke an den maestro Mugnone, goldne Remontoir-Uhr und dergl.
Die Operetten-Componisten scheinen in Italien die Orchester in der Hand zu haben: ich habe 2 Fälle hier vor Augen. Der Canti z. B. der Componist von „la nuova befana“ benutzt seine Stelle als maëstro, um auch sonst sich aufzuführen; in Zwischenakten ein Lied oder eine sinfonia „eigens für diesen Abend componirt“. —
Es grüßt Sie der verunglückte Musikus
N
1038. An Georg Brandes in Kopenhagen (Postkarte)
Turin d. 27. Mai 1888.
Was Sie für Augen haben! Der Nietzsche auf der Photographie ist in der That noch nicht der Verfasser des Zarathustra, — er ist ein Paar Jahre zu jung dazu.
Für die Etymologie von gote bin ich sehr dankbar: dieselbe ist einfach göttlich! — Ich nehme an, daß Sie heute auch einen Brief von mir lesen?
Ihnen dankbar zugethan
N.
1039. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Turin, den 27. Mai 1888.
Meine liebe Mutter,
Du hast mir wirklich eine außerordentliche Freude mit der Abschrift des Lama-Briefs gemacht: ich habe ihn mindestens sechs Mal gelesen und mich jedes Mal von Neuem daran erbaut. Nachdem es so weit ist, darf man eigentlich Vertrauen haben: selbst ich fange an, der Sache zu vertrauen…
Ich war ein Paar Tage nicht wohl, sonst hättest Du schon eher ein Wort des Dankes bekommen. Meine Zeit hierselbst geht nun auch zu Ende. Ich habe noch eine Woche vor mir: am 5ten Juni will ich abreisen, am 6ten, wenn meine Gesundheit mir keinen Streich spielt, in Sils-Maria eintreffen. Man bekommt jetzt direkte Billets von Turin bis Chiavenna: das ist eine große Erleichterung für Dein altes Geschöpf.
Nun möchte ich dies Jahr gleich von Anfang an da oben vernünftig sein und nicht erst wieder alle möglichen thörichten Versuche machen. Damit will ich sagen, daß ich Dich bitte, meine liebe Mutter, mir von jenem delikaten Schinken, der das letzte Jahr so sehr den Beifall Deines Sohnes hatte, umgehend ein gutes Quantum zuzusenden (Wie nennt ihr ihn? Lachsschinken? Weißt Du, ganz zart und ohne Fett)
Ich will allernächstens ein Paar Worte an Herrn Kürbitz richten, damit er Dir in meinem Namen etwas Geld zu Gebote stellt, für diese und andre Bedürfnisse. Zum Beispiel auch zur Bezahlung der Photographie. —
Mit den Kleidern scheine ich wirklich wohlgefahren zu sein. Es ist ein eleganter Anzug, der vorzüglich sitzt. Ich habe mir vorgenommen, etwas wieder auf mich zu halten und der Nachlässigkeit im Aeußern ein Ziel zu setzen. Das scheint mir auch ein Zeichen eines gewissen Fortschrittes in der Besserung meiner Gesundheit? So lange man caput ist, macht man sich nichts draus, ob man auch so aussieht…
Die Vorträge meines Kopenhagener Verehrers sind glänzend zu Ende gekommen, mit einer großen Ovation, die er in meinem Namen angenommen. Er schreibt mir, daß „mein Name jetzt in allen intelligenten Kreisen Kopenhagens populär und in ganz Skandinavien bekannt sei“. (So weit habe ich’s im Vaterlande freilich noch nicht gebracht!)
Gestern machte mir der hiesige Philosoph, Professor Pasquale D’Ercole einen sehr artigen Besuch. Derselbe, jetzt Dekan der philosophischen Fakultät der hiesigen Universität, hatte in der Buchhandlung Löscher von meinem Hiersein gehört.
Eine amerikanische Zeitschrift in New-York hat mir einen Essai über meine Schriften in Aussicht gestellt.
Eben traf ein drei Bogen langer äußerst interessanter Brief des Dr. Fuchs ein. —
Herr Köselitz wird im nächsten Monate ebenfalls Italien verlassen und zunächst zu seinen Eltern gehn.
Daß Du die Briefe des Herrn Busse abschreiben willst, ist vielleicht zu viel Ehre. Wollen wir’s nicht machen, wie bisher und einfach still sein? — Oder sind sie hübsch? — Mich quälen sonst solche Naturen, denen ich absolut nicht zu helfen weiß —
Es grüßt und umarmt Dich
Dein alter Philosoph
Adresse: Sils-Maria, Oberengadin, Schweiz.
1040. An Franz Overbeck in Basel
Turin, den 27. Mai 1888.
Lieber Freund,
ich mache mir das Vergnügen, Dir einen letztens eingetroffenen Brief aus Kopenhagen mitzutheilen, mit der Bitte, denselben irgendwann einmal, vielleicht nach Sils-Maria, an mich zurückzuaddressiren.
Übrigens steht Sils-Maria vor der Thür. Ich will am 5. Juni von hier abreisen und denke, wenn die Gesundheit mir nicht den gewohnten Streich spielt, am 6ten dort einzutreffen. Was mich einigermaßen muthig für die Reise stimmt, ist die neue Eisenbahn-Verfügung: man kann direkte Billets Torino-Chiavenna haben, — damit hat die schauderhafte kleine Misère des sechsmaligen Gepäckumschreibens ein Ende. —
Meine Gesundheit hat im Ganzen Stand gehalten. Ich bin während dieser 2 Monate in Turin 4 mal krank gewesen: ein mezzo termino, mit dem ich mich zufrieden geben will.
Heute morgen traf ein herrlicher drei Bogen langer Brief von Dr. Fuchs ein, der wieder von einer erstaunlichen Energie Zeugniß ablegt. Ihn begleitet ein großer Complex von Recensionen und Concert-Berichten aus der Feder dieses geistreichsten der jetzigen Musiker. Ich will mich in aller Ruhe daran erlaben.
Gestern hat mir der hiesige filosofo, der Prof. Pasquale d’Ercole einen sehr artigen Besuch gemacht; er hatte in der Buchhandlung Löscher von meinem Hiersein gehört. Derselbe ist jetzt Decan der philosophischen Fakultät. —
Das archivio storico in Florenz gedenkt in seiner letzten Publikation (ein Gesammtbericht über deutsche Geschichtslitteratur) mit Auszeichnung meiner allgemeinen Gedanken über Historie (2. Unz<eitgemäße> Betrachtung); die Abhandlung läuft darauf aus. Ich erzähle das Dir gerade, lieber Freund, weil Du der einzige bist, der mir bisjetzt ein Interesse an jenen Gedanken ausgedrückt hat. — Dir und Deiner lieben Frau mich herzlich empfehlend
Dein Nietzsche.
Der Brief aus New York, den Du so gütig warst, mir zu übersenden, enthielt das Versprechen eines englischen Essai über meine Schriften seitens einer der größten amerikan. Reviews.
1041. An Heinrich Köselitz in Venedig
Turin, Donnerstag <31. Mai 1888>
Wenn ich Ihnen sofort wieder antworte, so wird es Ihnen nicht zweifelhaft sein, woran es mir fehlt, — daß Sie mir fehlen, lieber Freund! Wie sehr auch der Frühling mir gerathen ist, er bringt mir gerade das Beste nicht, das, was auch die schlimmsten Frühlinge mir bisher brachten — Ihre Musik! Dieselbe ist mit meinem Begriff „Frühling“ zusammengewachsen — seit Recoaro! — ungefähr so, wie das sanfte Glockenläuten über der Lagunenstadt mit dem Begriff „Ostern“. So oft mir eine Ihrer Melodien einfällt, bleibe ich mit einer langen Dankbarkeit an diesen Erinnerungen hängen: ich habe durch Nichts so viel Wiedergeburt, Erhebung und Erleichterung erfahren wie durch Ihre Musik. Sie ist meine gute Musik par excellence, für die ich innewendig mir immer ein reinlicheres Kleid anziehe als zu aller anderen.
Ich erlaubte mir, vorgestern Theaterberichte des Dr. Fuchs an Sie abzusenden. Es ist viel Feines und Erlebtes darin.
Die Vorlesungen des Dr. Brandes sind auf eine schöne Weise zu Ende gegangen, — mit einer großen Ovation, von der aber B<randes> behauptet, daß sie nicht ihm gegolten habe. Er versichert mich, daß mein Name jetzt in allen intelligenten Kreisen Kopenhagens populär und in ganz Skandinavien bekannt sei. Es scheint, daß meine Probleme diesen Nordländer sehr interessirt haben; im Einzelnen waren sie besser vorbereitet, z. B. für meine Theorie einer „Herren-Moral“ durch die allgemeine genaue Kenntniß der isländischen Sage, die das reichste Material dafür abgiebt. Es freut mich, zu hören, daß die dänischen Philologen meine Ableitung von bonus gutheißen und acceptiren: an sich ist es ein starkes Stück, den Begriff „gut“ auf den Begriff „Krieger“ zurückzuführen. Ohne meine Voraussetzungen würde nie ein Philologe auf einen solchen Einfall gerathen können. —
Es ist wirklich schade, daß Sie nicht eine Ausschweifung in’s Cadore gemacht statt in’s Papierschwärzerische. Mein schlechtes Beispiel verdirbt ersichtlich Ihre an sich sehr viel besseren Sitten. Das Wetter war sehr geeignet zu einer solchen Gebirgs-Entdeckung: ich selbst zwar habe auch keinen Gebrauch davon gemacht und bin in ähnlicher Weise darüber mit mir unzufrieden.
Eine wesentliche Belehrung verdanke ich diesen letzten Wochen: ich fand das Gesetzbuch des Manu in einer französischen Übersetzung, die in Indien, unter genauer Controle der hochgestelltesten Priester und Gelehrten daselbst, gemacht worden ist. Dies absolut arische Erzeugniß, ein Priestercodex der Moral auf Grundlage der Veden, der Kasten-Vorstellung und uralten Herkommens — nicht pessimistisch, wie sehr auch immer priesterhaft — ergänzt meine Vorstellungen über Religion in der merkwürdigsten Weise. Ich bekenne den Eindruck, daß mir alles Andere, was wir von großen Moral-Gesetzgebungen haben, als Nachahmung und selbst Carikatur davon erscheint: voran der Aegypticismus; aber selbst Plato scheint mir in allen Hauptpunkten einfach bloß gut belehrt durch einen Brahmanen. Die Juden erscheinen dabei wie eine Tschandala-Rasse, welche von ihren Herren die Principien lernt, auf die hin eine Priesterschaft Herr wird und ein Volk organisirt… Auch die Chinesen scheinen unter dem Eindruck dieses klassischen uralten Gesetzbuchs ihren Confucius und Laotse hervorgebracht zu haben. Die mittelalterliche Organisation sieht wie ein wunderliches Tasten aus, alle die Vorstellungen wieder zu gewinnen, auf denen die uralte indisch-arische Gesellschaft ruhte — doch mit pessimistischen Werthen, die ihre Herkunft aus dem Boden der Rassen-décadence haben. — Die Juden scheinen auch hier bloß „Vermittler“ — sie erfinden nichts.
Soviel, mein lieber Freund, zum Zeichen, wie gern ich mich mit Ihnen unterhielte —. Dienstag Abreise. —
Von Herzen
Ihr Nietzsche.
1042. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig (Zettel)
<Turin, Mai 1888>
Es wird den Freunden der Philosophie Friedrich Nietzsche‘s von Werth sein, zu hören, daß letzten Winter der geistreiche Däne Dr. Georg Brandes einen längeren Cyklus von Vorlesungen an der Kopenhagener Universität dieser Philosophie gewidmet hat. Der Redner, dessen Meisterschaft im Darlegen schwieriger Gedankencomplexe nicht erst sich zu beweisen hatte, wußte eine Zuhörerschaft von mehr als 300 Personen für die neue und verwegene Denkungsart des deutschen Philosophen lebhaft zu interessiren: so daß seine Vorlesungen in eine glänzende Ovation zu Ehren des Redners und seines Thema’s ausliefen.
1043. An Pasquale d’Ercole in Turin
Sils-Maria, den 9. Juni 1888 (Oberengadin)
Verehrtester Herr Professor,
ich benutze den ersten Augenblick, wo ich wieder den Kopf frei und heiter habe, um Ihnen auszudrücken, daß ich trotzalledem weder der undankbarste noch der unhöflichste Mensch von der Welt bin. Es ist mir hart angekommen, Turin zu verlassen, ohne Ihnen Lebewohl gesagt zu haben; aber es gieng nicht anders. Ich war fast immer krank und die letzten Tage durch die Hitze wie betäubt. Rechnen Sie es ein wenig meinem Stolze zu, daß ich nicht ganz und gar als „Leidender“ in Ihrem Gedächtnisse zurückbleiben wollte. Rechnen Sie es auch meiner Philosophie zu, welche dem Kranken anräth, es den Thieren nachzumachen und sich in seine Höhle zu verkriechen. Ich zweifle nicht, daß ich über kurz oder lang, an einem schönen, frischen klaren Herbsttage, die Ehre haben werde, eine so werthvolle und liebenswürdige menschliche Beziehung wieder anzuknüpfen, deren ich dies Mal kaum würdig war.
Inzwischen hat mir Ihre Güte ein Mittel in die Hand gegeben, auch hier in Ihrer Gesellschaft zu sein. Ihr Philosoph von Intra interessirt mich als psychologisches Problem: ein Dichter, noch dazu ein Italiäner, der sich gerade in das Grau und Grau unsrer deutschen Scholastik verliebt! Ich erinnere mich dabei der Begeisterung, die Monsieur H. Taine über die erste Wirkung von Hegel’s Logik ausdrückte: Taine, der auch einen verborgenen Dichter in sich trägt. Er meinte ungefähr, es sei der höchste Zustand seines Lebens gewesen.
Empfangen Sie, verehrter Herr Professor, den ergebensten Gruß
Ihres dankbar verpflichteten
Nietzsche
1044. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Sils-Maria, den 10. Juni 1888
Meine liebe Mutter,
Dein Brief und die schöne Sendung folgten sich in sehr kurzer Zeitdifferenz: als der erste kam, lag ich noch krank zu Bett, bei der Kiste aber war ich schon auf dem Wege zur Besserung. Es gieng nämlich wieder schlecht mit der Reise. Am ersten Abend schon kam ich krank an und hatte in Chiavenna eine miserable Nacht. Dort am nächsten Tage zu bleiben widerrieth die Schwüle und unerträgliche Luft dieses Sticklochs. Aber die lange Postfahrt nach Sils that mir nicht gut; und so mußte ich denn die ersten 24 Stunden wieder, wie leider fast jedes Mal, mit heftigem Erbrechen zubringen. Es kommt dazu, daß hier oben nicht die Luft weht, die ich hier suche. Der viele Schnee, der thaut, macht die Luft zu feucht; und dabei ist die Wärme auch auf 23 Grad. Seltsam! Ich bin viel leichter mit dem Turiner Wetter fertig geworden, obwohl wir Tag für Tag 31 Grad hatten. Aber die Luft war durch und durch dünn und rein, auch wehte immer ein lieblicher Zephyr. Hier in Sils lag noch bis tief in den Mai hinein 6 Fuß fester Schnee. In den nächsten Ortschaften sind ungeheure Lawinen niedergegangen, 26 der Zahl nach. Das thaut nun Alles auf. Wohin man spaziert, findet man den Schnee als Hinderniß; die Berge sind bis auf die Thalsohle herab noch weiß. Es hat nie so vielen Schnee gegeben; auch soll die Kälte bis auf 33 Grad unter Null herabgegangen sein. Ganze große Wälder sind durch die Lawinen fortgerissen, der Schaden ist groß.
Nun fehlen, wie Du Dir denken kannst, die Fremden noch ganz und gar; und die Eine Schwalbe macht keinen Sommer. Ich esse allein. Bis jetzt ist Alles nicht recht im Stande, weder Magen, noch Schlaf, noch Lust zum Arbeiten, noch Lust am Spazierengehn. Man ist auch noch gar nicht vorgesehn und eingerichtet für die Bedürfnisse der Fremden — so daß es bei mir überall hapert und ich ein wenig melancholisch bin. —
Da kam denn der schöne Schinken sehr zur rechten Zeit, meine liebe Mutter; ich danke herzlich für all die guten Dinge, die Du geschickt hast. Die Hemden scheinen Prachts-Hemden zu sein: ich habe eben 2, die dünn und löcherig waren, bei Seite gelegt, so daß die neuen gerade in die Lücke eintreten.
Dasselbe gilt von den warmen schönen Strümpfen. Wenn ich dies Alles, wie es Dein ausdrücklicher Wunsch ist, als Geschenk annehmen soll, so mußt Du mir wenigstens erlauben, Dir eine kleine Gegengabe präsentiren zu dürfen. Du hättest gern, schriebst Du mir nach Turin, die milder aussehende Photographie von mir: bitte, laß sie machen und berichtige dann die beiden Bilder aus den 30 Mark, die ich Dir inzwischen durch H<errn> Kürbitz habe zustellen lassen. Das nächste Mal hätte ich gerne so etwas wie eine Serviette, damit ich mir selbst mein Tischchen decken kann, wenn ich essen will. —
Mit den Kleidern bin ich jetzt im Ganzen in Ordnung. Ich habe einen sehr leichten Hut auf dem Kopfe, der aus Roßhaaren geflochten ist: sehr hübsch, aber theuer. Der kleinen Adrienne habe ich einen Ring aus Nizza mitgebracht, der allerliebst aussah und den mir Frau Köchlin bei einem dortigen Goldschmied ausgesucht hat. Außerdem schöne Pariser Seife. Ich habe einen neuen Koffer, für den ich 15 frs. bezahlt habe = 4 Thaler.
In Turin erlebte ich zuletzt noch ein großes Musikfest, bei dem 34 Stadtorchester aus drei Provinzen Italiens thätig waren, dazu noch die 8 Orchester von Turin. Die Concurrenz der Orchester fand gleichzeitig in den 3 größten Theatern von Turin statt (jedes zu 3000—4000 Plätzen) von früh bis Abend. —
Ich hätte Dir gern auch so einen heiteren Brief geschrieben, wie Du ihn geschrieben hast, meine liebe Mutter. Aber Dein altes Geschöpf ist immerfort etwas traurig. In Liebe und sehr dankbar
Dein F.
1045. An Heinrich Köselitz in Venedig
Donnerstag Sils, d. 14. Juni 1888.
Lieber Freund,
Ihr Brief langte zu gleicher Zeit mit der Rückkehr meiner Gesundheit (— und meines Barbiers) bei mir an: Sie können denken, wie festlich er begrüßt wurde. Ihre Mittheilung, daß das provençalische Quartett einmal mir zugehören soll, schmeichelt mir im höchsten Grade. Ich habe darauf hin ungefähr schon meine Lebenspläne verändert. Doch darüber später einmal: heute nur den ersten und vorläufigsten Ausdruck tiefer Erkenntlichkeit. Daß man die guten Dinge mit einander gemein hat, das verbindet am innerlichsten: und ich weiß noch sehr gut, welche kleinen Schauer von Vollkommenheit mir über die Seele liefen, als ich, in Venedig, die Ehre hatte, das damals werdende Quartett zu hören. —
Die cartolina ist nicht eingetroffen; falls das herrliche Duett ankommt, werde ich es an „geneigter Belustigung“ nicht fehlen lassen. — Ein sehr liebenswürdiger Gedanke ist es von Ihnen, dem Dr. Fuchs ein Paar Worte zukommen zu lassen: ich bitte Sie darum, ich weiß gut genug, wie dies auf den sehr vereinsiedelten und viel zu wenig geschätzten Danziger wirken wird. Zuletzt habe ich in meinem letzten Brief von Ihnen erzählt. Es ist übrigens erstaunlich, was er alles durchsetzt und unternimmt: seine letzten Brief-Berichte gaben mir von der feurigen Energie seiner Natur wieder den allerhöchsten Begriff. (Die Recensionen wünscht er wieder zurück: er hat noch viel mehr und will sie, auf Wunsch, herausrücken…)
Es gieng schlecht bis jetzt, lieber Freund. Die Reise mißrieth wieder, wie gewöhnlich: ich hatte sechs Tage nöthig, um ungefähr wieder von den schlechten Nachwirkungen loszukommen. Nichts ist so labil im Gleichgewicht als meine Gesundheit… Das Wetter, das ich hier oben fand, war nicht das, welches ich suchte. Feucht, schwül, Thauluft, — 23 Grad C. Denken Sie sich: ich dachte mit Reue an das verlassene Turin, ob ich schon dasselbe in der allergrößten Hitze kennen gelernt hatte. Die letzte Zeit stieg der Thermometer Tag für Tag auf 31 C., das Minimum war 22 C. Und seltsam! ich, der empfindlichste Mensch für Hitze, litt ganz und gar nicht dabei — schlief gut, aß gut, hatte Einfälle und arbeitete… Die subtile trockne Luft, der Zephyr auf den Gassen — im Grunde war es eine Art mir unbekannten Epikureismus’. Welche Höhe die Café-haus-cultur erklommen, davon wage ich nicht zu schreiben. —
Seit gestern ist es auch hier wieder gute Luft und gesund. Sils ist wirklich wunderschön; in gewagter Latinität das, was ich Perla Perlissima nenne. Ein Reichthum an Farben, hundert Mal südlicher darin als Turin. Ringsherum liegen noch die Reste von 26, zum Theil ungeheuren Lawinen. Ganze Wälder sind von ihnen heruntergebrochen. Es giebt hier ein interessantes Lawinen-Recht: das Holz gehört dem, auf dessen Grundstück die Lawine es wirft. Ein Bewohner von Bevers hat auf diesen Weise ca. 5000 frs. Holz zum Geschenk bekommen. Der Schnee lag hier noch bis in den Mai hinein 6 Fuß hoch: dann schmolz er mit einer kaum begreiflichen Schnelle weg.
In Turin hörte ich zuletzt noch ein Musikfest: 34 Stadtorchester concurrirten. Ich wohnte der Concurrenz der fünf besten Capellen bei, im teatro Vitt<orio> Em<anuele>, das c. 5000 Personen faßt. Der Klang war bezaubernd schön: was ich nie geglaubt hätte. Diese fortissimi! Ich zeichnete bei mir als die bei weitem erste Leistung die der Capelle von Asti aus, mit ihrem maestro Foschini; der den Muth hatte, eine eigne Sinfonia drammatica als Concurrenzstück aufzuführen. Nach meiner Abreise von Turin erfuhr ich mit Vergnügen, daß Asti die große goldne Medaille bekommen hat, mit allen möglichen Ehren seitens 2 Ministerien auch für den maestro. —
Overbeck bezieht ein eignes Haus in Basel. Von meiner Schwester ist ein geradezu bezaubernder langer Bericht über die Ankunft und feierliche Einholung in Nueva Germania da. Die Sache gewinnt wirklich einen großartigen Aspekt.
In München sehn Sie, wenn es möglich, Seydlitzens. Die sind so gut gegen mich. — Von Levi höre ich, daß er krank ist und diesen Sommer nicht in Bayreuth dirigirt.
Ich hatte Fritzsch freigestellt, von meinem Kopenhagener Erfolg etwas in der Presse verlauten zu lassen. Er schrieb mir kürzlich, im Drang der Geschäfte habe er’s vergessen, und nun sei es wohl zu spät. — Unverbesserlich!
Mit herzlichem Glückwunsch für die Reise
Ihr N.
1046. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Sils-Maria, 15. Juni 1888>
Lieber Freund,
soeben las ich, im Bund abgedruckt, die feine und schöne Sache Spittelers über Sch<ubert>. Dabei beschloß ich, diesem Manne, der mir doch sehr werth ist, wieder ein Zeichen meiner Theilnahme zu geben (und, womöglich, „das Wölkchen“ zwischen uns zu verscheuchen —) Haben Sie noch ein Exemplar des Hymnus zu versenden? Ich habe leider 2 Ex. in Nizza gelassen. — Bitte, schreiben Sie darauf:
Herrn Carl Spitteler
zum Zeichen besondrer Hochschätzung
N.
Adresse: Basel, Gartenstr. 74.
Es ist möglich, daß ich im Herbst über Basel komme. Da würde ich ihn besuchen; vielleicht ist Sp<itteler> für Ihre Musik vorbereitet? Er scheint mir einstweilen unentbehrlich für uns.
— Und rectifizieren Sie die Clarinette, Freund! Ich habe sonst im Grabe keine Ruhe!…
Wir hatten heute Schnee und eisigen Wind. Gesundheit etwas besser. Brief gestern an Sie abgegangen.
Treulich Ihr Freund N.
1047. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Sils-Maria> Sonnabend. <16. Juni 1888>
Meine liebe Mutter,
es geht nicht zum Besten. Verzeih, wenn ich etwas kurz schreibe. Das Geld von Kürbitz mußt Du unter allen Umständen acceptiren, sonst kann ich ja nicht meine Bestellungen machen, wie ich’s nöthig habe! Du hast vielleicht nicht mehr im Gedächtniß, was ich von Turin aus schrieb. Ich will dies Mal meinen ganzen Bedarf von Schinken aus Naumburg haben. Im vorigen Sommer habe ich ihn aus Basel, aus Zürich, aus St. Gallen und anderswoher bezogen, mit allerhand Verdruß und Enttäuschung: so daß ich’s nicht wiederholen will. Ich mußte es, wie Du Dir denken kannst, immer mit meiner Gesundheit abbüßen, wenn eine Bestellung schlecht oder halb-genügend ausfiel. Was mir eigentlich allein gut bekommen ist, das war die allerletzte Naumburger Sendung vom September: die runde dicke Lachsschinken-wurst. Deshalb schrieb ich von Turin, daß ich dies Mal von vornherein vernünftig sein wolle und nicht erst alle möglichen schlechten Experimente machen. Da mein Sommer die Länge von 4 Monaten ungefähr hat, so brauche ich mindestens noch 12 Pfund = 6 Kilo Lachsschinken. Es handelt sich um meine ganze Abendmahlzeit für 4 Monate. Wenn Du einen Begriff von der Schwierigkeit meiner Ernährung gerade hier unter den enorm kostspieligen Fremdenverkehr-Verhältnissen hättest, so würdest Du auch sofort verstehn, daß diese sehr einförmige und langweilige Diät relativ bei weitem die billigste und auch gesündeste für mich ist. Ich darf absolut nichts mehr riskiren; je regelmäßiger, desto besser. In einer großen Stadt, wie Turin, steht mir natürlich jede Abwechslung zu Gebote: hier aber nicht (— es wird sofort schrecklich theuer, da ich schon für ein sehr einfaches Mittagessen 2 frs. 25 ct. = 19 Groschen (ohne Trinkgeld) gebe. — Wenn es Dir Mühe macht, meine gute Mutter, so gieb mir eine gute Adresse für ein Geschäft in Gotha oder in Braunschweig. Am Liebsten wäre es mir freilich, so, wie ich’s mir ausgedacht hatte: daß Du selbst den Schinken aussuchtest und zusendetest (— die Kosten des Transport fallen natürlich ebenfalls mir zu —)
Ich bin mit der kleinen Wurst fertig: sie war zu trocken, wegen ihrer Kleinheit. Die größere ist besser, doch lange nicht so gut, wie die dicke runde vom letzten Herbst. Ich glaube, man thut gut, recht große zu schicken. Die übersandten 3 Pfund reichen etwa im Ganzen 14 Tage: das heißt, ich habe noch für 6 Tage zu essen.
Sei nicht böse, daß ich Dir solche Mühe mache: aber ich bitte Dich, sofort wieder eine größere Sendung als das letzte Mal abzuschicken: und vom Allerbesten. Die Kosten dafür kommen bei mir gar nicht in Betracht, wenn es sehr gut und gesund ausfällt, gieb also gerne etwas mehr, vorausgesetzt, daß es prima Qualität ist. — Und geh, bitte, zu Kürbitz!!!!
Der Honig ist mir leider sehr schlecht bekommen: ganz wie im vorigen Sommer. Es trat Erbrechen ein. Das ist Wachs-Honig: aber mein Magen weiß auf keine Art mit Wachs fertig zu werden. —
Ich lege den Einen Brief vom Lama bei; der andre folgt das nächste Mal, damit der Brief nicht doppelt wird. Es wundert mich, daß Lisbeth nichts von meinen 8 Briefen sagt, die ich ihr von Nizza diesen Winter geschrieben habe.
In Liebe
Dein altes Geschöpf
Ich habe Dir noch gar nicht für Deinen herzlichen Brief gedankt. Nach Naumburg kommen, unter meinen Gesundheits-Verhältnissen, ist freilich nicht möglich: es ist nicht Liebhaberei, was mich zum Engadin und zu Nizza verurtheilt — —
Als Adresse genügt eigentlich Sils-Engadin, Schweiz: es giebt nämlich noch 2 andre Sils, nicht im Engadin.
1048. An Meta, von Salis auf Marschlins
Sils, Engadin, den 17. Juni 1888.
Verehrtes Fräulein
es schneit eben aus Leibeskräften: ich sitze in meiner Höhle und überlege mit einiger Schwermuth, ob nicht das Wetter (oder der Wettermann) den Verstand verloren hat. Als ich hier ankam, war es schwül, lästig, eine Hitze von 24 Grad; es kam mich fast eine Reue an, Turin verlassen zu haben, wo wir zwar täglich 31 C. hatten, aber aria limpida elastica und jenen berühmten Zephyr, von dem ich früher nur durch die Dichter wußte. Hier oben schmolzen 26 Lawinen; wohin man spazieren ging, fand man Haufen weichen Schnees: — ich war 6 Tage krank, ehe ich mich wieder mit Sils und dem Leben vertrug. —
Dies schreibe ich im Grunde, um Sie einzuladen, hier herauf zu kommen. Ich zweifle nicht, daß Sie besseres Wetter mitbringen — und jene Vernunft, die das Wetter verloren hat.
In der „Alpenrose“ sind vierzehn Personen — fast lauter Hamburger und Hamburgerinnen. Das flieht Alles vor dem tropischen Gluth-Sommer, der uns versprochen ist — und sitzt nun im Schnee.
Ich habe eben, mit Hülfe meteorologischer Tabellen, folgende ganz unwahrscheinlich klingende Wahrheit festgestellt.
„Der Januar in Italien“
Heitere Tage
Regentage
Grad der Bewölkung
Turin
10,3
2
4,9
Florenz
9,1
9,7
5,7
Rom
8,2
10
5,8
Neapel
7,7
10,8
5,2
Palermo
3,2
13,5
6,5
Das bedeutet, daß im Winter, je tiefer man nach Süden steigt, das Wetter schlechter ist (— weniger helle Tage, mehr Regentage und ein immer trüberer Himmel —) Und wir glauben alle instinktiv das Gegentheil!! Das schreibe ich im Grunde, um zu fragen, was Sie in Rom und mit Rom erlebt haben. Ich habe oft meine Zweifel gehabt, ob gerade dieser Winter, wo Rom außerdem noch im Pilgrim-Dunst lag, Ihnen Freude gemacht hat. Aber zuletzt waren Sie gar nicht dort: ich habe so lange nichts mehr von Ihnen gehört.
Von meiner Schwester sind die allerbesten Nachrichten da: zuletzt eine Beschreibung des festlichen Einzugs in die neue Residenz Nueva-Germania, die mich ganz bezaubert hat. Die Unternehmung gedeiht; sie hat bereits jetzt einen großartigen Aspekt.
Haben Sie davon gehört, daß ich inzwischen berühmt geworden bin? Nämlich in Dänemark, woselbst, zu meinem größten Erstaunen, der Dr. Georg Brandes für meine Philosophie Propaganda macht. Er hat einen längeren Cyklus Vorlesungen „über den deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche“ an der Kopenhagener Universität gelesen — und ich habe Gründe zu glauben, daß er damit einen großen Erfolg gehabt hat. Man spricht im ganzen Norden jetzt von mir („Herren-Moral“ scheint das Schlagwort)
Mit der Bitte, mir ein freundliches Wort hier herauf zu sagen
bin ich Ihr ergebenster Diener
Nietzsche
Was macht Fräulein Resa? Ist sie bereits promota? — Und Ihre dichterische Freundin?
1049. An Heinrich Köselitz in Venedig
Sils-Maria d. 20. Juni 1888.
Lieber Freund,
Ihr „Liebesduett“ kam wie ein Blitz hinein in meine Trübsal. Ich war mit einem Schlage genesen, ich bekenne, selbst geweint zu haben vor Vergnügen. Welche Erinnerungen giebt mir diese himmlische Musik! Und doch schien ich sie jetzt erst, wo ich sie sechs Mal hintereinander gelesen habe, völlig zu verstehen — sie scheint mir auch im höchsten Grade „singebar“. Es ist ein hohes schwärmerisches Gefühl darin, das Stendhal entzückt haben würde: ich las gerade gestern noch in seinem reichsten Buche Rome, Naples et Florence und dachte fortwährend dabei an Sie!* — Er erzählt unter Anderm, wie er Rossini fragt „was lieben Sie mehr, die Italiana in Algeri oder den Tancred?“ Er antwortet: „il matrimonio segreto“…
Lieber Freund, das bringt mich darauf, Ihnen zu gratuliren, daß Sie bei dem Titel „der Löwe von Venedig“ verblieben sind. Es ist doch ein sehr anregender und zur Phantasie redender Titel. Es wäre schade, wenn der kleine Wink „Venedig“ fehlte… Insgleichen gefällt mir die Bezeichnung „italienische komische Oper“: sie wirkt vielfachen Verwechslungen und Mißverständnissen entgegen. Endlich: Sie haben Recht, bei Ihrem „Peter Gast“ zu bleiben: ich begriff es, als ich’s las. — Es ist derb, naiv und, mit Erlaubniß gesagt, deutsch… Sie wissen, daß ich, seit letztem Herbst, Ihre Opern-Musik sehr deutsch finde — altdeutsch, gutes sechszehntes Jahrhundert?
Nochmals meinen schönsten Dank — es war wirklich eine Kur, das plötzliche Erscheinen dieses herrlichen Duetts.
Inzwischen nämlich war ich sehr behängt und verdeckt, wie der Himmel, und zu allem Guten untüchtig. Die absurde Unordnung des Climas war mit dabei betheiligt. Nachdem wir eine Woche das heißeste Wetter gehabt haben, das überhaupt im Engadin möglich ist (24 Grad), stecken wir seit 6 Tagen wieder im Winter. Erst schneite es einen halben Tag, später 2 ganze Tage: und seitdem zieht es immer mit schweren Wolken über uns herum.
In der Bibliothek des Hôtels fand ich ein Leben Wagners von Nohl: das in einem kostbaren Stil abgefaßt ist. Ich selbst komme darin vor, als „der geistvolle Freund und Patron“ wörtlich! — Der König von Baiern, der ein bekannter Päderast war, sagt zu Wagner: „Also Sie mögen die Weiber auch nicht? sie sind so langweilig!“ — Diese „Meinung“ findet Nohl „jugendlich umfangen“…
Overbeck schrieb gestern von seinen schlechten Gesundheitsverhältnissen und daß er nächste Woche ins neue Haus zieht. Er freut sich außerordentlich, von Ihrer Reise nach Deutschland und dem Quartett zu hören.
Der Tod des Kaisers hat mich bewegt: zuletzt war er ein kleines Schimmerlicht von freiem Gedanken, die letzte Hoffnung für Deutschland. Jetzt beginnt das Regiment Stöcker: — ich ziehe die Consequenz und weiß bereits, daß nunmehr mein „Wille zur Macht“ zuerst in Deutschland confiscirt werden wird…
Es grüßt Sie auf das Wärmste und Dankbarste
Ihr Freund
Nietzsche
— Ist meine Karte, Spitteler betreffend, bei Ihnen angelangt?
1050. An Karl Knortz in Evansville (Indiana)
Sils-Maria, Oberengadin, den 21. Juni 1888. (Schweiz)
Hochgeehrter Herr!
Das Eintreffen von zwei Werken Ihrer Feder, das mich Ihnen zu Dank verpflichtet, scheint mir zu verbürgen, daß inzwischen meine Litteratur in Ihren Besitz übergegangen ist. Die Aufgabe, ein Bild von mir, sei es vom Denker, sei es vom Schriftsteller und Dichter zu geben, scheint mir außerordentlich schwer. Der erste größere Versuch der Art ist letzten Winter von dem ausgezeichneten Dänen Dr. Georg Brandes gemacht worden, der Ihnen als Litterarhistoriker bekannt sein wird. Derselbe hat unter dem Titel „Der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche“ einen längeren Cyklus von Vorlesungen an der Kopenhagener Universität über mich veranstaltet, deren Erfolg, nach allem, was mir von dort gemeldet worden ist, ein glänzender gewesen sein muß. Er hat eine Zuhörerschaft von 300 Personen für die Kühnheit meiner Problem-Stellungen lebhaft interessirt und, wie er selbst sagt, meinen Namen im ganzen Norden populär gemacht. Sonst habe ich eine mehr verborgene Hörer- und Verehrerschaft, zu der auch einige Franzosen, wie Mr. Taine gehören. Meine innerste Überzeugung ist, daß diese meine Probleme, diese ganze Position eines „Immoralisten“ für heute noch viel zu früh, noch viel zu unvorbereitet ist. Mir selbst liegt der Gedanke an Propaganda vollkommen fern; ich habe noch nicht einen Finger dafür gerührt.
Von meinem Zarathustra glaube ich ungefähr, daß es das tiefste Werk ist, das in deutscher Sprache existirt, auch das sprachlich vollkommenste. Aber das nachzufühlen, dazu bedarf es ganzer Geschlechter, die erst die inneren Erlebnisse nachholen, auf Grund deren jenes Werk entstehen konnte. Fast möchte ich rathen, mit den letzten Werken anzufangen, die die weitgreifendsten und wichtigsten sind („Jenseits von Gut und Böse“ und „Genealogie der Moral“). Mir selbst sind am sympathischsten meine mittleren Bücher, „Morgenröthe“ und „Die fröhliche Wissenschaft“ (es sind die persönlichsten).
Die „Unzeitgemäßen Betrachtungen“, Jugendschriften in gewissem Sinne, verdienen die höchste Beachtung für meine Entwicklung. In „Völker, Zeiten und Menschen“ von Karl Hillebrand stehen ein paar sehr gute Aufsätze über die ersten „Unzeitgemäßen“. Die Schrift gegen Strauß erregte einen großen Sturm; die Schrift über Schopenhauer, deren Lektüre ich besonders empfehle, zeigt, wie ein energischer und instinktiv jasagender Geist auch von einem Pessimisten die wohlthätigsten Impulse zu nehmen versteht. Mit Richard Wagner und Frau Cosima Wagner war ich einige Jahre, die zu den werthvollsten meines Lebens gehören, in tiefem Vertrauen und innerstem Einvernehmen verbunden. Wenn ich jetzt zu den Gegnern der Wagner’schen Bewegung gehöre, so liegen, wie es sich von selbst versteht, dahinter keine mesquinen Motive. In den gesammelten Werken Wagner’s Band IX (wenn ich mich recht erinnere) steht ein Brief an mich, der von unserm Verhältniß Zeugniß ablegt.
Ich bilde mir ein, daß meine Bücher durch Reichthum psychologischer Erfahrungen, durch Unerschrockenheit vor dem Gefährlichsten, durch eine erhabene Freimüthigkeit ersten Ranges sind. Ich scheue auch, hinsichtlich der Kunst der Darstellung und der artistischen Ansprüche, keine Vergleichung. Mit der deutschen Sprache verbindet mich eine lange Liebe, eine heimliche Vertrautheit, eine tiefe Ehrfurcht! Grund genug, um fast keine Bücher mehr zu lesen, die in dieser Sprache geschrieben werden.
Empfangen Sie, hochgeehrter Herr, die ergebensten Grüße Ihres
Professor Dr. Nietzsche.
1051. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Fragment)
<Sils-Maria> Montag Nachmittag 25. Juni 1888
Meine liebe gute Mutter,
ich schreibe Dir auf der Stelle, denn Du hast mir eben eine ganz unbändige Freude gemacht. Nein, was ist das für eine schöne Sendung! Der Luxus der Cravatte sticht Alles aus, was ich in Turin gesehn habe; und da ich jetzt sehr hübsche moderne Kragen habe, wird sich das zusammen sehr festlich ausnehmen. Die Zwiebäcke entsprachen einem „tiefgefühlten“ Bedürfniß. Ich habe überall, in Nizza, in Turin, zum Thee frühmorgens Zwiebäcke; aber im Engadin wächst das nicht. Der Schinken sieht äußerst delikat und stattlich aus: ich blicke mit neuem Vertrauen in die Zukunft — und das ist Etwas!! Denn ich habe eine böse und schwere Zeit bisher durchgemacht. Noch gestern wußte ich mich nicht gegen die traurigsten Gedanken zu wehren. Weißt Du, mir scheint es, daß es nicht nur an der Gesundheit bei mir fehlt, sondern an der Voraussetzung, um gesund zu werden — die Lebenskraft ist so schwach, ich kann die Einbuße von mehr als zehn Jahren nicht wieder ausgleichen, während welchen ich immer nur vom „Capital“ gelebt habe und nichts, nichts, nichts dazu erworben habe — —
Ich halte mich mit großer Kunst und Vorsicht leidlich aufrecht, aber wie viele Zeit geht hin, wo ich so schwach bin, wie man es in meinem Alter nicht sein sollte! Und auch dieser überreizbare Zustand im Verhältniß zum Wetter ist ein schlechtes Zeichen. Ich war fast die ganze Zeit in einer unbeschreiblich schlechten Verfassung. Ein tiefliegender Kopfschmerz, der einen Brechreiz im Magen zur Folge hatte; keine Lust und Kraft zum Spazierengehn; Widerwille gegen mein [+ + +]
1052. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
Sils-Maria Oberengadin Schweiz 26. Juni 1888.
Geehrtester Herr Verleger,
es giebt Etwas zu drucken. Wenn es Ihnen convenirt, wollen wir diese kleine Sache ungesäumt in Angriff nehmen. Es ist bloß eine Broschüre, aber sie soll so ästhetisch wie möglich aussehn. Sie betrifft Fragen der Kunst: folglich dürfen wir uns mit unserm Geschmack nicht bloßstellen.
Es ist schade, daß ich nicht persönlich hierüber mit Ihnen reden kann. Ich hörte gerne auch Ihrerseits Vorschläge. Was die meinigen betrifft, so möchte ich vor Allem den Versuch mit deutschen Lettern einmal empfehlen. Große, fette, schöne Lettern und nicht mehr als 27 Zeilen auf der Seite (das bisherige Format vorausgesetzt —) Vielleicht machen wir auch wieder eine Rand-Linie um die Seite, wie beim Zarathustra. — Ich glaube bemerkt zu haben, daß für Fragen und Schönheiten des Stils der Deutsche vollkommen stumpf ist, sobald er lateinische Schrift liest. Erst mit den deutschen Lettern entsteht seine Empfänglichkeit für das Aesthetische eines Stils. (Vielleicht, weil er gewohnt ist, seine Classiker in diesen Lettern zu lesen? — —)
In summa: mein lateinischer Druck hat mir bis jetzt viel Schaden gethan. Insbesondre beim Zarathustra.
Ich hebe noch ein paar Wünsche hervor:
schwärzerer Druck als in der letzten Schrift.
das Papier stärker und womöglich gelb (—es soll sehr delikat aussehen)
eine liberale Raumverwendung, zum Beispiel größere Zwischenräume zwischen den einzelnen Abschnitten.
Für den äußeren Umschlag empfehle ich wieder das blasse Grün und den Titel in roth wie beim 4ten Zarathustra.
Zunächst ersuche ich um ein Paar Probeversuche, hinsichtlich Lettern, Raumvertheilung, auch Papier.
Mit der Bitte, dieser Sache einige Theilnahme zu schenken
bin ich
Ihr ergebenster
Prof. Dr. Nietzsche
NB. Ich habe bis jetzt in deutschen Lettern nichts gesehn, was mir gefallen hätte. Ich rathe nicht zu Schwabacher Lettern (— das ist eine Schwierigkeit mehr für die Herren Leser —)
Senden Sie, bitte, auch an Herrn Köselitz (München, poste restante) diese Proben. Das ist ein Mann von Geschmack.
1053. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)
<Sils-Maria, 28. Juni 1888>
Werthester Herr Verleger,
Alles wohl erwogen, ist es doch Nichts mit den deutschen Lettern. Ich kann meine ganze bisherige Litteratur nicht desavouiren. Auf die Dauer zwingt man die Menschen zu seinem eignen Geschmack. Und mir wenigstens sind die lateinischen Lettern unvergleichlich sympathischer! — Mein Vorschlag ist also: die Lettern von „Jenseits“, auch das Format, aber bloß 27 Zeilen auf der Seite. Ich erwarte also keine „Proben“. Der definitive Druck kann sofort beginnen. Die Adresse des Herrn Köselitz sende ich, sobald ich sie habe. — Ein Paar Manuscript-zusätze folgen heute per Brief.
Auch über den Umschlag denke ich anders. Das Grün und Roth eignet sich nicht für eine Broschüre.
Mit der Bitte, mir bald Nachricht zu geben
Hochachtungsvoll Ihr
Prof. Dr. Nietzsche
1053a. An Reinhart von Seydlitz in München
Sils-Maria, den 28. Juni 1888.
Lieber Freund,
nichts ist dümmer als die Dummheit - nämlich meine. Der Gedanke, daß ein Brief Dich noch südöstlich zu suchen habe, ist nicht einen Augenblick mir am Horizonte aufgestiegen. Und was hätte es Gutes gegeben, wenn wir alle zusammen ein paar Tage Torinesi gewesen wären! Denn ich hatte dort eine Laune wie seit 20 Jahren nicht und funkelte, einem Drachen vergleichbar, an Geist und Bosheit. Selbst die Hitze that mir nichts an: wobei ich nicht umhin kann, einzuschalten, daß die Café-haus-Cultur Turin‘s in wahrhaft schwindelnde Höhen stieg! Ich glaubte mich Kenner in gelati, spumoni, pezzi duri, aber siehe da…
Daß Du in Nizza gewesen bist, thut mit geradezu wehe. Und in Rapallo, an der heiligen Stelle, wo das „Buch der Bücher“, Zarathustra, geboren ist! —
— Hier muß ich irgend Etwas wieder gut machen. Schon gestern kam mir der Gedanke, einmal hübsch wieder „unter Menschen“ zu wandeln: in Anbetracht, daß ich als „Unmensch“, als „Unbehauster“ einem Thiere immer ähnlicher werde. Rückzug über München in der zweiten Hälfte des September??? Aber da bist Du sicher nicht dort. —
Ich lege, für Deine liebe Frau, zu geneigter Belustigung, den Brief meiner Schwester bei, in dem sie den Einzug in die neue Residenz schildert. Derselbe ist eigentlich an meine Mutter gerichtet und von ihr für mich abgeschrieben worden. Er scheint mir ein angenehmes document humain, mit den Parisern zu reden. —
Dieser Tage ist mein ausgezeichneter Freund und maëstro di Venezia Herr Heinrich Köselitz in München eingetroffen: das Menschenkind, welches die einzige Musik macht, welche vor meinem allerverwöhntesten Ohre noch Gnade findet. Die erste moderne Oper (heiter, gemüthsreich, meisterhaft, nicht dilettantisch à la Wagner…) ist sein Werk: sie heißt „Der Löwe von Venedig“. Eben hat er ein tiefsinnig-schönes Quartett fertig gemacht — eine „Provencalische Hochzeit“ darstellend. Wenn besagtes Wunderthier sich bei Dir präsentiren sollte, so nimm ihn mit Herzlichkeit auf — [+ + +]
Ich bitte, Deiner verehrten Frau Mutter meinen ergebensten Dank für Ihren Gruß auszudrücken.
Dein
Freund Nietzsche.
1054. An Carl Fuchs in Danzig
Sils-Maria, Oberengadin, Schweiz d. 30. Juni 1888
Lieber, verehrter Freund,
seltsam! seltsam! mein Wunsch war, Ihnen sofort nach meiner Zurückversetzung ins Kühle — denn wir hatten Tag für Tag 31 Grad in Turin — einen schönen Dankesbrief zu schreiben: ein frommer Wunsch, nicht wahr?? — Aber wer konnte ahnen, daß ich mich nicht bloß „in’s Kühle“ zurückversetzen würde, sondern ins Hundewetter, an dem meine Gesundheit Schiffbruch leiden würde! Winter, Sommer in unsinnigem Wechsel: sechs und zwanzig Lawinen im Schmelzen; jetzt noch dazu Regen, der Himmel fast immer verhängt — genug Gründe, um eine tiefe nervöse Erschöpfung, mit Recrudescenz meiner früheren Leiden, zu entschuldigen. — Ich erinnere mich nicht, schlechteres Wetter erlebt zu haben: und dies in meinem Sils-Maria, wohin ich flüchte, um schlechtem Wetter zu entgehn! Ist es ein Wunder, wenn selbst der Pfarrer hier sich das Fluchen angewöhnt? Er stockt jetzt mitunter in der Unterhaltung; dann würgt er immer einen Fluch hinunter. Neulich, beim Herauskommen aus der eingeschneiten Kirche, hat er seinen Hund durchgeprügelt, mit den Worten „der verfluchte Köter hat mir die ganze Predigt verteufelt!“ —
Sie errathen, wozu ich Lust hätte? Aber das schickt sich nicht, mit einem Musiker…
Ich hatte solches Vergnügen an Ihren Lehr- und Wehr-Meinungen, daß ich es nicht für mich allein behalten wollte: ich hoffe, nichts Unziemliches gethan zu haben, als ich sie an meinen maëstro nach Venedig schickte?.. Und von welcher Energie legte Ihr Brief Zeugniß ab! Wie macht man das, dort oben in Ihrem Norden, so jung zu bleiben? Ihr Brief war wirklich noch jünger als Ihr Bild —
Immer kommt mir dabei die Vorstellung wieder, daß Sie an eine viel freiere, größere Stelle hingehören, wo Ihrer Lehr-Begabung andere Kräfte untergeordnet sind und wo Sie nicht Alles allein machen müssen — Sie schlagen Funken noch aus Ihrem Danzig: das wird jeder Schmied zu bewundern haben!
Die andren Musiker werden nervös: wie es Ihnen zu Muthe ist, schließe ich aus Ihrem Stil, der biegsam und behend läuft. So schreibt man nicht, wenn man dyspeptisch ist.. Und so erlebt ist alle Ihre Kritik!
Wenn es, werther Freund, noch Etwas mitzutheilen giebt, gönnen Sie mir noch eine zweite Sendung Recensionen! Adresse: Sils, Oberengadin, Schweiz. Vielleicht kommt das Wetter inzwischen zur Vernunft! — und ich mit ihm! —
Ihnen
dankbar verpflichtet
Ihr
Nietzsche.
Dank für die allerschmeichelhafteste Etymologie! Die Polen sagen, es bedeute „Nihilist“…
1055. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Visitenkarte)
Sonntag Abend d. 1 Juli 1888.
Geehrtester Herr Verleger, hier folgen die letzten Manuscript-Zusätze, welche ich an den bezeichneten Stellen zu plaçiren bitte. — Es bleibt bei der zweiten Entschließung: lateinische Lettern, 27 Zeilen, keine Randlinie —
Hochachtungsvoll Ihr
Dr Nietzsche
bis jetzt immer krank!!!
1056. An Franz Overbeck in Basel
Sils, Engadin, am 4. Juli 1888.
Lieber Freund,
inzwischen wirst Du, wie ich hoffe, zusammen mit Deiner vermuthlich arg übermüdeten armen Frau ein wenig zur Ruhe gekommen sein. Ich nehme an, daß das Gröbste im Probleme des déménagement überwunden ist. Mein Hauptwunsch dabei kann nur der sein, es möge der böse Gesundheitszustand, den Du zuletzt mir geschildert hast, nicht mit demenagirt sein. Gegen solche Gäste bleibt, hoffe ich, Deine neue Burg unerbittlich verriegelt. Sonst kann ich nicht umhin, auch in diesem Falle wieder die große Zähigkeit Deiner Natur zu bewundern. Darin bist Du mir weit über. —
Es fehlt mir nicht an Anlaß zu diesem Seufzer. Seit dem ich Turin verlassen habe, bin ich in einem miserablen Zustande. Ewiger Kopfschmerz, ewiges Erbrechen; eine Recrudescenz meiner alten Leiden; tiefe nervöse Erschöpfung verhüllend, bei der die ganze Maschine nichts taugt. Ich habe Mühe, mich gegen die traurigsten Gedanken zu vertheidigen. Oder vielmehr: ich denke sehr klar, aber nicht günstig über meine Gesammtlage. Es fehlt nicht nur an der Gesundheit, sondern an der Voraussetzung zum gesund-werden — Die Lebens-Kraft ist nicht mehr intakt. Die Einbuße von 10 Jahren zum Mindesten ist nicht mehr gut zu machen: während dem habe ich immer vom „Capital“ gelebt und nichts, gar nichts zuerworben. Aber das macht arm… Man holt nicht nach in physiologicis, jeder schlechte Tag zählt: das habe ich von dem Engländer Galton gelernt. Ich kann, unter begünstigenden Verhältnissen, mit äußerster Vorsicht und Klugheit ein labiles Gleichgewicht erreichen; fehlen diese begünstigenden Verhältnisse, so hilft mir alle Vorsicht und Klugheit nichts. Der erste Fall war Turin; der zweite ist, leider dies Mal, Sils. Ich bin in ein verdrießliches und unruhiges Winter-wetter hineingerathen, welches mir zusetzt, wie mir etwa ein Februar in Basel zusetzt. — Diese extreme Irritabilität unter meteorologischen Eindrücken ist kein gutes Zeichen: sie charakterisirt eine gewisse Gesammt-Erschöpfung, die in der That mein eigentliches Leiden ist. Alles, wie Kopfschmerz usw. ist nur Folgezustand und relativ symptomatisch. — Es stand in der schlimmsten Zeit in Basel und nach Basel genau nicht anders: nur daß ich damals im höchsten Grade unwissend war und den Ärzten ein Herumtasten nach lokalen Übeln gestattet habe, das ein Verhängniß mehr war. Ich bin durchaus nicht kopfleidend, nicht magenleidend: aber unter dem Druck einer nervösen Erschöpfung (die zum Theil hereditär, — von meinem Vater, der auch nur an Folgeerscheinungen des Gesammt-Mangels an Lebenskraft gestorben ist — zum Theil erworben ist) erscheinen die Consequenzen in allen Formen. Das einzige régime, welches damals am Platz gewesen wäre, wäre die amerikanische Weir-Mitchells Kur gewesen: eine extreme Zufuhr von dem werthvollsten Nahrungsmaterial (mit absoluter Veränderung von Ort, Gesellschaft, Interessen). Thatsächlich habe ich, aus Unwissenheit, das entgegengesetzte régime gewählt: und noch jetzt begreife ich nicht, daß ich nicht in Genua an totaler Schwäche gestorben bin. —
Ich bin über diesen Materie jetzt so gut unterrichtet, wie irgend ein Arzt: wäre ich’s 20 Jahre früher gewesen, so hätte ich den Zustand verhütet…
Verzeihung! lieber Freund, für diesen gar zu medizinisch gerathenen Brief. Herr Köselitz ist in München; die erste Aufführung von Wagners „Feen“ hat schon stattgefunden, einem Berichte nach, den er schickte. Für die Übersendung des Geldes sage ich Dir meinen ergebensten Dank.
Dein Freund
Nietzsche.
1057. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Sils-Maria,> Sonnabend Nachmittag <7. Juli 1888>
Meine liebe Mutter, es geht immer noch nicht besser. Ich habe noch niemals hier oben eine so lange schlechte Zeit durchgemacht. — Das Wetter fährt fort, mir ungünstig zu sein. Das Schnee-Wetter ist abgelöst von einem wochenlangen Regenwetter: so daß ich in meinen 5 Wochen 1 hellen Tag erlebt habe (noch dazu war es gerade der Tag eines bösen Anfalls.)
Der Schinken, der mir gut gethan hat, geht nun seinem Ende langsam entgegen: so daß Deine Güte wieder in Anspruch genommen werden muß. Ich hoffe, daß mein Dankbrief für die letzte Sendung, den ich gleich nach dem Empfang schrieb, in Deine Hände gelangt ist.
Von Herzen Dein Sohn
F.
Das neue Nachthemd ist sehr angenehm auf der Haut. Schönsten Dank!
1058. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Sils-Maria,> 11. Juli Mittwoch 1888.
Lieber Freund,
es hat sich Nichts verbessert, weder mit mir, noch mit dem Wetter. Eiskalte Luft heute: der Himmel dick behängt. In fünf Wochen habe ich Einen hellen, freilich sehr kalten Tag erlebt (— leider hatte ich Gründe, ihn zu Bett zu verbringen) Dagegen 24 Tage mit strömendem Regen, Tag und Nacht; und drei Schneetage. Die Temperatur, Dank dem vielen Schnee, der noch liegt, durchschnittlich tief. Der Anfang meines Aufenthaltes hier oben hatte eine widrige schwüle Luft, mit dem höchsten Thermometerstande, der überhaupt im Engadin erreicht werden kann; man gieng nicht 20 Schritte, ohne zu schwitzen. Dies schlug direkt in Schneewetter um. Die ältesten Leute (85 Jahre) haben keinen Begriff von solchen Zuständen.
Treulich Dein Freund
N.
Ein leidender Herr aus Rom reist ab. Insgleichen eine größere Hamburger Familie. Schlimm für die Hôtels.
1059. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
Sils-Maria, d. 12. Juli 1888
Werthester Herr Verleger
dem Wunsche des Dr. Carl Fuchs in Danzig (diese Adresse genügt) wollen wir mit Vergnügen nachkommen.
Es war mir erwünscht, daß Sie mir das Manuscript wieder zurücksandten. Ich hatte es in einem solchen Zustand von Schwäche abgeschrieben, daß ich selbst es unleserlich finde. Seit mehr als fünf Wochen bin ich krank; sehr unwillkommne Rückkehr meiner alten Zustände; tiefe nervöse Erschöpfung mit andauerndem Kopfschmerz und Erbrechen. Ich sage nichts von dem abominablen Wetter, in das mich dies Mal mein Unstern verschlagen hat.
Sobald meine Kräfte es erlauben, will ich mich daran machen, das ganze Manuscript noch einmal mit möglichster Deutlichkeit der Schrift abzuschreiben. Irgend eine genauere Zeitangabe kann ich unmöglich machen. Andres Wetter, andre Gesundheit. Diese Nacht hat es stark gefroren. Die nächsten Berge tief im Schnee. 25 Tage ununterbrochnes Regenwetter. 3 Tage eingeschneit. In 5 Wochen einen hellen Tag, den ich leider zu Bett zubringen mußte. Immer sehr niedrige Temperatur.
Die Proben habe ich mit Interesse angesehn. Die eine, mit den gewohnten Lettern meiner früheren Bücher und mit Einem Strich darum hat meinen ganzen Beifall.
Hochachtungsvoll der Ihrige
Prof. Dr. Nietzsche
1060. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
Sils, Oberengadin d. 16. Juli 1888.
Sehr geehrter Herr Verleger,
es geht besser: Sie bekommen hier den Beweis dafür! —
Das Manuscript, wie es hier vorliegt, ist vollständig fertig: ich bitte sofort es in Arbeit zu nehmen. —
Auch Herr Köselitz ist vorbereitet. Adresse: Herrn Heinrich Köselitz, Annaberg sächs. Erzgebirge
Mit dem Wunsche, daß es jetzt schnell vorwärts geht Ihr
ergebenster
Prof. Dr. Nietzsche.
NB. Die Seiten sind von dem Vorworte an numerirt.
1061. An Carl Spitteler in Basel
Sils, Oberengadin, am 16. Juli 1888
Sehr geehrter Herr,
als ich hier oben eintraf, fand ich, in einer Sonntags-Beilage des „Bund“ abgedruckt, Ihre Worte über Schubert. Meine Freude war groß dabei: so liebevoll und so sachlich zugleich schreibt Niemand heute de rebus musicis et musicantibus. Ich gab sofort einen Auftrag, um Ihnen irgend wodurch ein Zeichen meiner Sympathie zu geben — hoffentlich nicht ohne Erfolg. Ich sage das letzte aus Mißtrauen gegen die Post.
Es fehlte mir so lange jede Nachricht über Sie. Der mir für Nizza zugedachte Brief ist, ich weiß nicht aus was für Gründen, erst gestern, den 15. Juli, in meine Hände gelangt. Es scheint, daß er die Reise um die Welt gemacht hat. Aber die Nachrichten darin sind herrlich, vor allem die Aussicht auf ein Werk, dessen Thema mich nicht weniger interessirt als sein Verfasser. Dieser Credner kann sich gratulieren! — Vielleicht ist es am Platze, daß ich über den genannten Herrn noch etwas deutlicher bin als ich es in meinem letzten Briefe war. Alle Welt achtet ihn, aber alle Welt weiß auch „Geschichten“ von ihm, vor allem seine Autoren. Er ist, unter uns, launenhaft und willkürlich bis zur Dummheit. Vor zwei Jahren verlor er einen Prozeß gegen einen Professor in Tübingen, weil er in dessen Geschichtswerk seine eigne völlig differente politische Gesinnung durch nachträgliche Correkturen eingeschwärzt hatte. Ich selbst war mit ihm über die Herausgabe meines „Jenseits“ in Ordnung: aber, gewarnt wie ich war, habe ich beim ersten Anzeichen von Verleger-Selbstherrlichkeit mein M<anu>s<cript> telegraphisch zurückverlangt. Diesen Winter klagte mir der geistreiche Däne Dr. Brandes brieflich sein Leid: ein bei Credner erschienenes Werk sei in einem Deutsch abgefaßt, für das er, der Autor, keine Verantwortung übernehme — das Deutsch sei Credner-Deutsch. — Seien Sie ein wenig auf der Hut, lieber Herr!
Der eben genannte Dr. Brandes hat mich diesen Winter in Dänemark berühmt gemacht. Er hat einen längeren Cyklus von Vorlesungen an der Kopenhagener Universität gehalten: „über den deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche“. Nach den Zeitungen muß der Erfolg außergewöhnlich gewesen sein; mehr als 300 Zuhörer regelmäßig, eine große Ovation am Schluß. Eben ist mir etwas Ähnliches für New York in Aussicht gestellt worden. Bis jetzt habe ich das Glück des allergewähltesten und zugleich zeitungsscheusten Leserkreises gehabt, den es geben kann; sagen wir dreißig gescheidte Köpfe zwischen Paris und Petersburg. Der Rest geht mich nichts an.
Ich schreibe Ihnen noch ein Paar Worte aus dem Briefe eines verehrungswürdigen Musikers ab (beiläufig desselben, der diesen Winter einige Worte zuviel über eine gewisse Kritik geschrieben hatte) „der gestern eingetroffne Kunstwart enthielt ein verteufelt gescheidtes Artikelchen von Spitteler über Schuberts Sonaten. Der Mann hat Herz, Geschmack und Richtertalent in musikalischen Dingen; er weiß, wie selten sogar Musiker, worum es sich handelt. Merkwürdiger Weise nennt er die Esdur-Sonate nicht, die nach meinem Dafürhalten die vollkommenste Leistung Sch<ubert>s auf diesem Gebiet ist; ebenso wenig die Wanderer-Phantasie, eines der kraft- und schwungvollsten Klavierwerke, die es giebt; selbst Beethoven, mit aller seiner Gewalt, hat nichts so Hinreißendes zu Stande gebracht. Wahrhaftig, Schubert ist ein Riese; aber er hatte keine Idee von seinen Dimensionen und seiner Kraft; ein Riese, der im Grase liegt, mit Kindern spielt und sich selbst für ein Kind hält — ein Phänomen, das nicht gut anderswo möglich ist als unter Deutschen, oder sagen wir „möglich war“, denn die Kinder in Deutschland spielen heute Riese Goliath, und es ist schwer geworden, sich noch als Kind vorzukommen.“ —
Der „Hymnus an das Leben!“ Werther und lieber Herr Spitteler, im Grunde bin ich ein alter Musikant. — Er soll einmal „zu meinem Gedächtniß“ gesungen <werden> — mit andern Worten, er soll von mir übrigbleiben, vorausgesetzt, daß sonst genug „übrig bleibt“… Mottl in Karlsruhe hat mir eine Aufführung in Aussicht gestellt. —
Es grüßt Sie mit dem Ausdruck herzlicher Antheilnahme Ihr
Dr. Nietzsche
1062. An Heinrich Köselitz in Annaberg
Sils, Oberengadin, d. 17. Juli 1888.
Lieber Freund,
großes Vergnügen! nämlich darüber, daß Sie wieder für mich erreichbar sind. Mir fehlte Ihre Münchner Adresse — oh! und wie sehr sie mir fehlte! — Doch davon nachher!
Ich empfehle durchaus, H. v. Bülow ein Exemplar des Duetts zu senden: mein Vorschlag ist, in Anbetracht, daß wir unter einander nicht ohne Rücksichten sind (Bülow und ich —) darauf zu setzen:
Im Namen eines Freundes
mit verehrungsvollem Gruße
überreicht von Prof. Dr. Nietzsche.
(NB. Er ist auch für nächsten Winter der Hamburger Theater Capellmeister. Avis au lecteur.) Übrigens hat man mir hier, wo gerade Hamburger Gesellschaft prädominirt, nicht genug Bülow’s Theater-Direktion rühmen können. Unvergleichlich delikate Mozart-Aufführungen: insgleichen Carmen, geradezu nicht wiederzuerkennen im Vergleich zu älteren Aufführungen (— Bülow habe sich eine Ehrensache daraus gemacht, das Werk nicht in üblich-deutscher Manier zu compromittiren) — Sie können denken, in welche Menagerie ich Ihren Löwen sperren möchte? Pollini!!!
Gestern kam ein sehr erfreulicher Brief des Herrn Spitteler, geschrieben und nach Nizza geschickt vor mehr als 2 Monaten: einen Dank für meine Verleger-Vermittlung ausdrückend. Es handelt sich um ein Hauptwerk Sp<itteler>s, die Aesthetik des ganzen französischen Drama’s darstellend. Die competentesten Sachkenner scheinen außer sich vor Bewunderung desselben (— er hat, mit großer Bescheidenheit, überall erst angefragt)
Mit mir gieng und geht es schlecht. Der alte miserable Zustand von Kopfschmerz und Erbrechen fast permanent; viel zu Bett; wenig Kraft selbst zum Spazierengehn. Im Übrigen ein Hundewetter, so lange ich hier oben bin. Unerschöpflicher Regen, dazwischen Schneetage, durchweg sehr niedrige Temperatur, in 5 Wochen Einen, noch dazu eiskalten hellen Tag (— an dem ich zu Bett lag)
Die allerletzten Tage schien mir die Gesundheit ein paar Schritte vorwärts zu machen: allerdings gieng unmittelbar ihnen der härteste Anfall meines Leidens voraus, den ich hier oben gehabt habe. —
Dr. Fuchs hat so viel geschrieben, daß es eine Litteratur ist. Ein kleines Paket Recensionen geht, auf seinen besonderen Wunsch, dieser Tage an Sie ab. —
Lieber Freund! Erinnern Sie sich, daß ich in Turin ein kleines Pamphlet geschrieben habe? Wir drucken es jetzt; und Sie sind auf das Inständigste ersucht, dabei mitzuhelfen. Naumann hat bereits Ihre Adresse. Der Titel ist:
Der Fall Wagner.
Ein Musikanten-Problem.
Von
Friedrich Nietzsche.
Es ist etwas Lustiges, mit einem fond von fast zu viel Ernst. — Können Sie sich die ges<ammelten> Schriften W<agner>s zu Gebote stellen? Ich hätte gern ein Paar Stellen, um sie genau, mit Band- und Seitenzahl citiren zu können, 1) es giebt im Texte des „Rings“ eine Variante von Brünnhildens letztem Liede, die ganz buddhistisch ist: ich will nur die Seiten- und Bandzahl haben, nicht die Worte 2) wie heißt wörtlich die Stelle des Tristan:
„den furchtbar tief geheimnißvollen Grund
wer macht der Welt ihn kund?“
ist es so richtig? —
- in einer seiner letzten Schriften hat W<agner> einmal ausgesprochen, sogar fettgedruckt, wenn ich mich recht erinnere, daß „die Keuschheit Wunder thut“ Hier hätte ich gern den Wortlaut. —
Im Übrigen ersuche ich <Sie> mir jede Art von Ausstellung, von Wort- und Geschmackskritik zu machen. Es steht viel Verwegenes in diesem kleinen Machwerk. — Correktur-Gang wie herkömmlich. Über Ausstattung, Papier u.s.w. bin ich mit Naumann bereits in Ordnung. Das Manuscript ist den 19. Juli in seinen Händen.
Mit den herzlichsten Grüßen
Ihres Freundes
Nietzsche.
Mich Ihren verehrten Eltern angelegentlich empfehlend.
1063. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Sils, Oberengadin Dienstag 17. Juli <1888>
Meine liebe Mutter,
gestern Abend, als ich gerade das letzte Stück Schinken verzehrte, kam Deine schöne Sendung, recht gut erhalten, wie mir schien: nur daß von den Zwiebäcken Etwas abgebröckelt war und sich dem Paket mitgetheilt hatte. Der Zoll betrug 80 Pf. Machst Du eine genaue Aufzählung des Inhalts oder öffnet die Zollverwaltung das Paket? Ich bin darüber nicht im Klaren. Vielleicht Beides? Ich habe die Würste, die delikat sich anfühlen, aufhängen lassen, will aber den Anfang mit der dicksten machen. Ich bilde mir ein, daß die kleinen sich leichter conserviren als die dicken — was sagst Du dazu? — Den Zwieback kostete ich heute morgen zum Thee: er schmeckt vortrefflich und hat meinen ganzen Beifall. Für die Eröffnung der „Süßigkeit“ will ich einen recht guten Tag abwarten; das Portemonnaie entsprach wunderbar einem „tiefgefühlten Bedürfniß“. Und was für eine schöne, feine, starke Serviette! — Das erinnert mich an die vorzüglichen Nachthemden; ebenfalls an das Wunderthier von Cravatte, deren verborgene Reize ich in der That noch nicht entdeckt hatte (— ich nenne sie das Chamäleon) Was die Schinken betrifft, so fiel mir die Anzeige eines Züricher Geschäfts in die Hand, das als „Gothaische Wursthandlung“ sich bezeichnet. Es empfiehlt seine „Thüringer Milchschinkli“ (ohne Fett, Knochen und Schwarte): sollte das nicht eben unsere Art Schinken sein? — Seit zwei Tagen spüre ich etwas wie Verbesserung: allerdings war unmittelbar vorher der schlimmste Anfall der ganzen Zeit: so daß ich vielleicht nur den Gegensatz wohlthätiger spüre. Das Wetter bleibt winterlich, regnerisch, bedeckt; gestern furchtbarer Sturm. Aber es scheint überall schlimm zu stehn. Wie heiter und hübsch läuft doch Dein Leben in Naumburg! Wie viel passirt immer! und es scheint mir nach jedem Deiner Briefe, daß ihr miteinander sehr heiter gewesen seid und viel gelacht habt. (Nur war das Volckmannsche Kostgeld zu gering.) Der Brief des guten Lama liegt bei. Die Neuigkeit von dem Ankauf von 6000 Morgen verstehe ich absolut nicht: wie mir überhaupt die Finanzlage der Unternehmung ein Räthsel ist. Frl. von Salis ist nicht eingetroffen. Das Hôtel, in dem ich esse hat zwischen 40 und 50 Personen. Meine Lebensweise ist so. Um 5 Uhr nehme ich eine Tasse Cacao (im Bett); um 1/27 ungefähr trinke ich meinen Thee. Um 12 esse ich, allein, eine halbe Stunde vor dem dîner des Hôtels: regelmäßig ein Beefsteak und eine Omelette. Abends um 7 nehme ich nur auf meinem Zimmer ein Stückchen Schinken, 2 rohe Eidotter und 2 weiße Wecken. Für meine Mittagsmahlzeit zahle ich einen sehr ermäßigten Preis, nämlich im Verhältniß dazu, was sonst die Fremden hier oben zahlen: nämlich 2 frs. 25 ct. (= 18 groschen) Die Fremden würden 3—4 fr. zahlen müssen. Die Zubereitung ist gut; das Fleisch ausgezeichnet. — Für den Fall, daß es noch eine Zusendung geben sollte — der Sommer-Aufenthalt dauert für mich hier noch über 2 Monate — bitte ich Stahlfedern ins Auge zu fassen. Inzwischen habe ich eine so schlechte Schrift bekommen, daß eine besondere Art Stahlfedern versucht werden mußte, die von Sönnecken: dieser Brief ist damit geschrieben. Diese Art ist jetzt sehr verbreitet, sie findet sich sicherlich auch in Naumburg. Die genaue Bezeichnung ist:
Sönnecken’s Rundschriftfedern
Nr. 5
Bitte, hebe Dir diese Adresse auf. Das Hauptgeschäft ist in Leipzig.
Findest Du, daß ich wieder leserlich schreibe? Ich war auf dem Punkte, meine eignen Manuscripte nicht mehr entziffern zu können. —
Schreibe mir doch genau, unter welcher Adresse jetzt ein Brief an das Lama zu richten ist. Überhaupt, was Du auf jedem Brief schreibst.
Nochmals meinen herzlichsten Dank, meine alte gute Mutter, ich mache Dir diesen Sommer rechte Mühe!! —
Dein Fritz.
1064. An Carl Fuchs in Danzig
<Sils-Maria> Mittwoch, den 18. Juli 1888
Lieber Herr Doctor,
seien Sie nicht böse, aber ich setze mich, nothgedrungen, gegen Ihre Briefe zur Wehre. Es ist mir vollkommen verboten, dergleichen privatissima, personalissima anzuhören: das wirkt auf mich, ich wage nicht zu sagen wie — es klänge zu medizinisch. Versetzen Sie sich einen Augenblick in die Umstände dessen, der einen Zarathustra auf der Seele hat. Wenn Sie begriffen haben, welche Mühe es mir gekostet, zur ganzen Thatsache Mensch ein ungefähres Gleichgewicht zu erlangen, so werden Sie auch die extreme Vorsicht begreifen, mit der ich jetzt jeden menschlichen Verkehr behandle. Ich will, ein für alle Mal, sehr Vieles nicht mehr wissen, sehr Vieles nie mehr hören — um diesen Preis halte ich es ungefähr aus.
Ich habe den Menschen das tiefste Buch gegeben, das sie besitzen, meinen Zarathustra: ein Buch, das dermaßen auszeichnet, daß wer sagen kann „ich habe sechs Sätze davon verstanden, das heißt erlebt“ damit zu einer höheren Ordnung der Sterblichen gehört. — Aber wie man das büßen muß! abzahlen muß! es verdirbt beinahe den Charakter! Die Kluft ist zu groß geworden. Ich treibe seitdem eigentlich nur Possenreißerei, um über eine unerträgliche Spannung und Verletzbarkeit Herr zu bleiben.
Dies unter uns. Der Rest ist Schweigen.
Ihr Freund
Nietzsche.
1065. An Ferdinand Avenarius in Dresden (Entwurf)
<Sils-Maria, kurz vor dem 20. Juli 1888>
Seien Sie nicht böse! Das Eine ist, daß ich mich absolut nicht dazu überreden kann, Zeitschriften regelmäßig zu lesen. Meine ganze Aufgabe verlangt, mein Geschmack begehrt von mir Entfremdung, Gleichgültig-werden, Vergessen des Gegenwärtigen… Das Andere ist, daß ich wirklich verstimmt war — durch das Preisgeben H. Heine’s; gerade jetzt, wo ein verfluchter Wind von Deutschthümelei bläst, bin ich ohne Milde für solche Condescen<den>zen. Ich habe in Turin eigens das Buch des verfluchten Hehn darauf hin gelesen: diesem Herrn, der zuletzt mit einem sehr kleinen Apparat von Proben seinen Begriff deutsch resumirt (zB. die Deutschen als Musiker einfach vergessen hat) mag es wohl nicht in den Kopf gekommen sein, daß der Cultur-Werth eines Künstlers oder Denkers in Hinsicht auf sein Volk noch ganz und gar nicht mit seinem Werth an sich zusammenfällt — und daß z. B. die Deutschen Lessing und Heine mehr verdanken dürfen, als sie z. B. Goethe verdanken — sie haben sie nöthiger gehabt. Das sagt nichts gegen Goethe (im Gegentheil) — aber sagt Etwas gegen die Miserabilität und Undankbarkeit die jetzt gegen Lessing und Heine eifert. Ich bin an die andere Art gewöhnt, mit der Heines Andenken in Frankreich behandelt wird: wo ihm z. B. die Goncourts die Ehre erweisen, zusammen mit dem Abbé Galiani und dem Prince de Ligne die sublimste Form des esprit Parisien darzustellen (— drei Ausländer! merkwürdig!)
1066. An Franz Overbeck in Basel
Sils, den 20. Juli 1888.
Lieber Freund,
nichts hat sich verbessert, weder das Wetter, noch die Gesundheit, — beides bleibt absurd. Aber heute erzähle ich Dir Etwas, das noch absurder ist: das ist der Dr. Fuchs. Derselbe hat mir inzwischen eine ganze Litteratur geschrieben (darunter einen Brief von 12 großen engen Bogen!) Ich bin allmählich dabei zum Igel geworden, und mein altes Mißtrauen hat sich völlig wieder hergestellt. Sein Egoismus ist so schlau und andrerseits so ängstlich und unfrei, daß ihm Alles nichts hilft — sein großes Talent nicht und vieles ächt Artistische seiner Natur. Er beklagt sich, daß er in Danzig 7 Jahre alle Welt gegen sich gehabt habe; und aus hundert Zeichen geht hervor, daß er auch jetzt dort kein Vertrauen genießt. Er möchte fort; er verhandelt mit Dresden, nachdem es mit der Berliner Musikschule mißlungen ist. Und er hat es an keiner Form des Bewerbs und der Adulation fehlen lassen! Ein neues Paket Recensionen ist nur zu belehrend darüber. Vieles Feine und Gute, so lange es sich um Sachen handelt; kommen Personen in Betracht, so regiert das „Unendlich-Kleine“. Er hat, für mich, Randbemerkungen gemacht. „Dies ist stark übertrieben; aber ich verdanke ihm das und das.“ Oder: „sie haßt mich wegen dieses Worts: es war dumm von mir.“ Nachdem es mit der Bewerbung um eine Professur an der Berliner Hochschule schief gegangen war, kamen 3 Professoren derselben nach Danzig und gaben ein Concert. F<uchs> hebt sie in der impudentesten Weise in den Himmel. Zur Entschuldigung dafür schreibt er an mich, er habe sich seinen Verdruß über seinen Mißerfolg nicht anmerken lassen wollen. In Wahrheit bewarb er sich um drei der einflußreichsten Stimmen. — Er hat mir einen Essai über meine Schriften in Aussicht gestellt: dabei drückt er eine wahre Höllenangst aus, daß das Eintreten für mich Atheisten ihm in seiner Stellung als Organist von St. Peter schadet. Natürlich pseudonym!! er hat bereits meine beiden Verleger beschworen, seine Pseudonymität geheim zu halten. Derselbe F<uchs> hatte jahrelang eine Höllenangst, daß seine Beziehung zu mir ihm bei Wagner schade; ein paar Jahre vorher, wo mein Einfluß in der Wagnerschen Welt unbestreitbar war, hatte er sich nur zu eifrig um mich bemüht. Ich habe es vorausgesagt, daß, mit dem Tode Wagners, ihm der Muth zurückkommen würde, an mich zu schreiben. Es traf ein, in fast komischer Weise. — Er ist auch Organist an der Synagoge in Danzig; Du kannst Dir denken, daß er sich in der schmutzigsten Weise über den jüdischen Gottesdienst lustig macht (— aber er läßt sich’s bezahlen!!)
Schließlich hat er mir einen Brief über seine Herkunft geschrieben, mit so viel ekelhaften und unanständigen Indiskretionen über seine Mutter und seinen Vater, daß ich die Geduld verlor und mir in der gröbsten Weise solche Briefe verbeten habe. Ich habe durchaus keine Lust, mir meine Einsamkeit durch den Zufall von Briefen stören zu lassen. — So weit sind wir. Leider kenne ich diese Art Menschen zu gut, um hoffen zu dürfen, daß wir damit zu Ende sind. —
Herr Spitteler hat an mich mit viel Dankbarkeit geschrieben. Es ist mir gelungen, etwas durchzusetzen, woran er verzweifelte: nämlich einen Verleger zu finden. Es handelt sich um eine Aesthetik des französischen Dramas: und siehe da, Herr Credner in Leipzig (Firma Veit, Verlagshandlung des Reichsgerichts) hat mir in der artigsten Weise seine Bereitwilligkeit zugesagt. Diese kleine Humanität meinerseits hat noch einen Humor hinter sich: es war meine Art Rache für einen extrem taktlosen und unverschämten Artikel Spittelers über meine gesammte Litteratur, der letzten Winter im „Bund“ erschienen ist. — Ich habe eine viel zu gute Meinung vom Talente dieses Schweizers, als mich durch eine Rüpelei beirren zu lassen (— ich habe Respekt vor seinem Charakter — was leider in Bezug auf den Dr. F<uchs> nicht der Fall ist) Sp<itteler> ist durch meine Fürsprache auch Mitarbeiter des „Kunstwarts“ und, nach meinem Geschmack, dessen einzige interessante Feder. Im Übrigen habe ich das Blatt abgeschafft: auf einen jüngst eingetroffenen Brief des Hr. Avenarius, der sich schmerzlich über die Abmeldung beklagte, habe ich ihm kräftig die Wahrheit gesagt (— das Blatt bläst in das deutschthümelnde Horn und hat z. B. in der schnödesten Weise Heinrich Heine preisgegeben — Herr Avenarius, dieser Jude!!!)
Jetzt eben wird von mir ein kleines musikalisches Pamphlet gedruckt, etwas sehr Lustiges (— in Turin geschrieben) — Mit herzlichem Gruß und Glückwunsch für Dich und Deine liebe Frau
Dein Nietzsche
1067. An Franz Overbeck in Basel (Entwurf)
<Sils-Maria, kurz nach dem 20. Juli 1888>
Lieber Freund
ich schreibe Dir noch ein paar Worte, doch ganz für uns, ganz unter uns. Die Schwierigkeit, in der ich lebe, ist außerordentich; doch liegt sie nicht dort, wo Du und andere Freunde sie suchen. Ich weiß kaum, sie begreiflich zu machen. Aber seit der Zeit, wo ich meinen Z<arathustra> auf dem Gewissen habe, bin ich wie ein Thier, das auf eine unbeschreibliche Weise fortwährend verwundet wird. Diese Wunde besteht darin, keine Antwort, keinen Hauch von Antwort gehört zu haben… Dies Buch steht so abseits, ich möchte sagen jenseits aller Bücher, daß es eine vollkommene Qual ist, es geschaffen zu haben — es stellt seinen Schöpfer ebenso abseits, ebenso jenseits. Ich wehre mich gegen eine Art Schlinge, die mich erwürgen will — das ist die Vereinsamung — ich verstehe es andererseits aus aller Tiefe, warum mir Niemand ein Wort sagen kann, das mich noch erreicht… Die Moral ist: man kann daran zu Grunde gehen etwas Unsterbliches gemacht zu haben: man büßt es hinterdrein in jedem Augenblick ab. Es verdirbt den Charakter, es verdirbt den Geschmack, es verdirbt die Gesundheit. Sechs Sätze jenes Buches zu verstehen und erlebt zu haben — das scheint mir Jeden bereits in eine höhere, fremdere Ordnung des Sterblichen zu heben. Aber die ganze Welt jenes Buches, die unausmeßlich schwere Welt von Tiefe, von Ferne, von Noch-niemals-bisher Gesehenem und Geschehenem auf sich haben und nach einem Versuch, sie mitzutheilen d. h. ihre Last sich geringer zu machen, der todten stupiden Einsamkeit sich gegenüber zu finden, ist ein Gefühl über alle Gefühle.
Ich wehre mich, wie Du denken kannst, mit viel Erfindsamkeit gegen diesen Excess des Gefühls. Meine letzten Bücher gehören dahin: sie sind leidenschaftlicher als Alles, was ich sonst gemacht habe. Die Leidenschaft betäubt. Sie thut mir wohl, sie macht ein wenig vergessen… Ich bin außerdem Artist genug, um einen Zustand festhalten zu können, bis er Form, bis er Gestalt wird. Ich habe, mit Willkür, mir jene Typen erfunden, die in ihrer Verwegenheit mir Vergnügen machen, z. B. den „Immoralisten“ — einen bisher unerhörten Typus. Jetzt eben wird ein kleines Pamphlet musik<alischer> Natur gedruckt, das von der heitersten Laune eingegeben scheint: auch die Heiterkeit betäubt. Sie thut mir wohl, sie macht vergessen… Ich lache wirklich sehr viel bei solchen Erzeugnissen —
Die Schwierigkeit, eine Distraktion zu finden, die stark genug <sei>, wird immer größer. Ich bin mitunter auf eine unbeschreibliche <Weise> melancholisch.
1068. An Paul Deussen in Berlin (Entwurf)
<Sils-Maria, 22. Juli 1888>
Lieber F<reund>
ich habe ein Paar Tage verlaufen lassen, um mich von einer kleinen Erstarrung zu erholen. Das Faktum, das Deine Güte mir meldet, steht so abseits in meinem Leben da; ich verstehe es nicht einmal. Es scheint mir, daß ich zu viel vom Gegentheil erlebt habe — daß ich auch bisher nur Geschenke gemacht habe, wie als ob es die natürlichste Sache in der Welt sei. Dank, Anerkennung, Verständniß — sehr schöne Dinge, aber, wenn man grundsätzlich und nicht ohne Erfolg sich von seiner Zeit entfernt, wie ich es thue, so läßt man diese schönen Dinge aus dem Wege. Ich finde bisher das Verhalten gegen mich nicht unbillig. Zu Menschen habe ich mich noch nicht darüber beklagt. Die andere Frage, die bloße Lebensfrage ist einstweilen, durch eine ganz unverdiente Dankbarkeit der Basler, mir nicht eigentlich drückend geworden: in Wahrheit denke ich nicht an sie und haben meine Basler immer erst an sie gedacht. Die absurde Unmöglichkeit, Schriften herausgeben zu können, wenn ich sie nicht selbst drucke, complicirt in der That etwas meine Lage: — und in diesem Sinne bin ich unbeschreiblich dankbar für das, was Deine alte Freundschaft mir dies Mal zu melden hatte… Hätte ich einen besseren Glauben an meine Gesundheit, so dürfte ich meine Lage auch in genannter Hinsicht nur für ein „Interim“ nehmen… Der Übelstand ist, daß ich in diesem Sommer schlimmer als die letzten Jahre wieder an eine gewisse Incurabi<li>tät erinnert wurde… — Ich habe hundert Vorsichten und Klugheiten nöthig, und außerdem noch ein paar günstige Umstände z. B. helles, trocknes Wetter. Dann erreiche ich einen gewis<sen> Grad der Gleichheit. Fehlt mir diese Gunst der Umstände (wie es leider seit Anfang Juni der Fall), so hilft mir alle Vorsicht und Klugheit nichts. — Recrudeszenz der alten Leiden und Zustände und eine große Schwierigkeit, den Muth aufrecht zu erhalten. — Lieber Freund, ich weiß nicht, wem Alles ich zu danken habe. Aber sicherlich Niemandem mehr als Dir. Behalte mich lieb und glaube an die Liebe eines alten „Unmenschen“ und „Unbehausten“, mit G<oethe> zu reden. Mich Dir und Deiner l<ieben> Fr<au> — — — mich Deiner Freundschaft empfehlend
1069. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Sils, den 24. Juli <1888> Montag. <23. Juli>
Meine liebe Mutter,
gleich nach dem Eintreffen der letzten Sendung ist ein Brief an Dich abgegangen: demselben war die andre Hälfte vom Brief des Lama beigelegt. Damals hatte ich den Schinken noch nicht versucht; jetzt kann, aus einer etwas zu reichlichen Erfahrung, darüber geurtheilt werden. Es thut mir sehr leid, aber er ist gar nicht so ausgefallen, wie Du gewünscht hast. Der Lachsschinken ist etwas unvergleichlich Besseres und Gesünderes. Der Mann hat, trotz aller Deiner Aufforderungen, das Salz zu schonen, ihn abscheulich versalzen. Das Fleisch sieht braunroth aus, nicht blaß, wie das Fleisch des Lachsschinkens. Ich muß sechsmal des Nachts Wasser trinken, seit ich Abends diesen Schinken esse; und dabei ist mein Magen entschieden durch das viele Salz überwürzt, so daß mir alles Essen jetzt weniger gut bekommt. Auch hat sich eine gewöhnliche Folge von zu salzigem Fleische eingestellt, eine Zahnfleisch-Entzündung, die mich beim Kauen arg belästigt. Dabei fällt mir das Wort „Milchschinkli“ ein: es ist die reine Ironie auf diese versalzene Sache! Selbst das Fleisch ist lange nicht so gut wie das des Lachsschinkens: letzteren konnte ich schön klein bekommen mit den Zähnen, hier bleibt immer ein Rest von Faser, mit dem man nicht fertig wird. Der Mann hat keinen Begriff davon, was ein Schinken zum Gebrauche von Kranken ist: ich, der ich in der Schule des alten Wiel gewesen bin, habe hierüber ziemliche Erfahrung. —
Dagegen fand ich die Zwiebäcke schmackhafter als irgend welche, die ich bisher gegessen habe. Allerschönsten Dank! Auch der Kürbiss hatte einen sehr angenehmen und interessanten Geschmack: er hat mir gut gethan — man soll Frl. Alwinchen loben.
Bleibt die curiose Geldsache zu besprechen. Gestern Abend kam Dein Brief über dieselbe an; gestern Morgen hatte ich bereits einen Brief an Prof. Deussen abgeschickt. Denn er hatte die Sache auch mir direkt gemeldet: ähnlich wie an Dich, nur mit einer Wendung mehr, die ich zu Deiner Erbauung mittheile: „ich hoffe, Du wirst es mit freundlichem Verständnisse Dir gefallen lassen, wenn Einzelne an ihrem Theile wieder gut zu machen suchen, was die Menschheit an Dir sündigt“. Ich habe mich in meiner Antwort dagegen verwahrt, daß „die Menschheit an mir sündige“, habe die Liberalität und unverdiente Dankbarkeit der Basler zu Ehren gebracht, habe ausdrücklich in Abrede gestellt, daß meine Lage drückend sei und, schließlich, ganz exakt, wie Du es Dir auch ausgedacht hast, nur in Hinsicht auf die Unmöglichkeit, Verleger zu finden und den Zwang, der auf mir liegt, meine Schriften auf eigne Kosten drucken zu lassen, das Geld acceptirt. (In den letzten 4 Jahren sind für Druckkosten mehr als 4000 frs. ausgegeben worden) Das Geld wird zum größten Theil Deussens Geld sein (— er hat mir im vorigen Herbst die allerdringendsten Offerten dieser Art gemacht.) An die „unbekannten“ Berliner Verehrer glaube ich nicht recht: der Einzige, der betheiligt sein könnte und zu dessen Charakter eine solche Handlung stimmen könnte, wäre der Dr. Rée (der mit Deussen in gutem Einvernehmen ist) Dies Alles unter uns. Die Hauptsache ist, daß Niemand Etwas davon erfährt. Es würde mir sehr nachtheilig zum Beispiel in Basel sein, wenn das geringste Wort davon verlautete — sie thun dort wirklich ein Übriges (der Termin meiner Pension ist ja mit 1886 abgelaufen!!) Ich will diesen Winter nicht nach Nizza, weil man das letzte Mal im Hôtel unter den Gästen sich in einer Weise für meine etwas ärmliche Finanzlage interessirt hat, die meinen Stolz verletzte. — Schreibe nichts über diesen Sache nach Paraguay: Lisbeth würde es durchaus nicht als eine „Ehrengabe“, sondern, ganz wie ich selbst, als ein Almosen empfinden. Ich zöge bei weitem vor, meine „Verehrer“ zu beschenken — — Ich werde noch diesen Herbst c. 200 Mark zu Druckkosten nöthig haben. Auch könnte es sein, daß meine Winter-Reise und -Aufenthalt einen kleinen Zuschuß nöthig machten, da ich etwas Neues versuchen will. Ich bedarf, aus vielen Gründen, einer abziehenden und zerstreuenden Reise: ich war bisher außerordentlich bedrückt und melancholisch. Sonst weißt Du, daß ich sparsam bin. Gieb also das Geld an Kürbitz, doch mit der Bemerkung, daß bald ein Theil disponibel sein muß.
Dein altes Geschöpf F.
1070. An Carl Fuchs in Danzig
Sils, den 24. Juli 1888
Lieber Freund,
lassen wir die Windhose laufen! Das Meer ist wieder glatt. —
Heute melde ich Ihnen etwas Heiteres. Es kommt nächstens von mir ein kleines Pamphlet in die Wochen, das vollgestopft von musikalischen Glaubensbekenntnissen ist, — freilich in der riskirtesten Form!! — Dasselbe ist noch in den guten Tagen von Turin geschrieben und nicht in Sils, nicht zwischen Krankheit und Schneegewölk. Es findet sich, anbei gesagt, ein sehr ehrendes Wort für Riemann darin: obwohl sonst nicht gerade Ehren ausgetheilt werden…
Das Manuscript ist bereits in der Druckerei. Es war schon einmal dort, wurde mir wegen Unleserlichkeit zurückgeschickt. Ich hatte die Abschrift in einem solchen Zustand von Schwäche gemacht, daß die lateinischen Buchstaben ebenso gut als griechische verstanden wurden (— eine kleine Druckprobe bewies mir das) Die neue Abschrift ist viel deutlicher, Dank einer besondren Art von Federn, „Sönneckens Rundschriftfedern“, welche der hiesige Lehrer für meine zitternden Hände anempfahl.
Diese letzten Tage war der Himmel öfter hell, und Sils breitete seinen alten Pfauenschweif verführerisch südlicher Farben aus. Und siehe da! ein alter Musikant stellt sich mir vor, ein Kapellmeister vom Dresdener Hoftheater, der ihm seit 1847 zugehört. Ich wickelte den alten schneeweißen Mann auf — und ein ganzes Stück Musikgeschichte mit den wunderlichsten détails kam zum Vorschein. Würden Sie es glauben, daß Wagner, als Hofkapellmeister, alles Ernstes im „Dresdener Anzeiger“ dem Könige proponirte, den Titel „König“ abzulegen und sich „erblichen Präsidenten des Hauses Wettin“ zu nennen? Insgleichen, daß er ihn aufgefordert hat, das Geld abzuschaffen und den Tauschhandel wieder herzustellen? — Die Strafe für solche Excentricitäten war milde und sogar fein: man nahm Wagnern die klassische Oper und ließ ihn Schund dirigieren. Leider machte Bülow, damals ein ganz junger Bursch, der von der Hofintendantur ein Freibillet hatte, einen Strich durch die Rechnung. Mit einem sehr freimüthigen Gebrauch von seinem Billet pfiff er auf eigne Person eine Oper, die Wagner nicht dirigirte, bei erster Gelegenheit aus — und brachte sie zum Fall. —
Genug für heute! Ich schrieb nur, um Ihnen zu schreiben.
Ihr Freund
Nietzsche.
1071. An Carl Spitteler in Neuveville
Sils, Engadin d. 25 Juli 1888.
Sehr geehrter Herr,
was Sie mir melden, betrübt mich. Die Motivierung, die Herr Credner seinem Nein giebt, wäre einfach eine Dummheit, wenn sie wahr wäre. Aber sie ist natürlich nur ein Vorwand. Ich kam gestern mit einem Herrn, dem die intimere Geschichte des Dresdener Hoftheaters seit 40 Jahren bekannt war, zu dem Schluß, daß alle Ablehnungen, von Opern, von Büchern, von Diensten falsch motiviert werden, — daß der eigentliche Grund nie zu Worte kommt. Was mag der in Ihrem Falle sein? — Ein Capitel oder die Einleitung eines Werks vorher der Presse anzuvertrauen gehört in Frankreich zu den regelmäßigsten Klugheiten der buchhändlerischen réclame: — es wirkt „appetitmachend“. Zudem müßte der Charakter, der Werth jener Einleitung Herrn Credner darüber aufgeklärt haben, weß Geistes Kind ihr Autor ist: der sein Autor werden möchte…
Meine eignen Erfahrungen mit Verlegern sind, anbei gesagt, hundert Mal bösartiger als die Ihrigen. Es giebt Sachen darunter, die man nicht aufs Papier bringt — Aber ich bin im Kriege; und ich begreife es, wenn man gegen mich im Kriege ist. In den letzten Jahren habe ich c. 4000 frs Druckkosten ausgegeben: es ist längst die Unmöglichkeit bewiesen, daß ein Buch Nietzsches von jemandem anders gedruckt wird als von ihm selbst. Dies unter uns. —
Was meine Stellung zur deutschen Presse betrifft, nach der Sie fragen, so ist sie seltsam genug: sie gründet sich auf die Furcht, die man vor mir hat. Ich bin einer der Wenigen, die kein Bedenken tragen, sich zu compromittiren: eine sehr bedenkliche Art Mensch! Thatsächlich erfreue ich mich eines ganz beträchtlichen Ansehens — und werde, heimlich, viel gelesen. Es ist etwas, der unabhängigste Geist Europas zu sein. Ich habe in jeder größeren Stadt einen Verehrer-Kreis, selbst noch in Baltimore. Mein werthvollster Schritt dazu, um mir ein-für-alle Mal Respekt zu garantiren, war mein Attentat auf die deutsche „Bildung“ zur Zeit der höchsten nationalen Selbst-Anbetung, bei Gelegenheit eines miserablen aber allseits bewunderten Buchs des altersschwachen Strauß. Es gab gegen 200 zum Theil sehr leidenschaftliche Antworten darauf — und die Sympathie aller tieferen Naturen. Der alte Hegelianer Bruno Bauer war seitdem Nietzschianer. Im Übrigen war ich damals durchaus kein „Neuling“, wie Sie zu glauben scheinen. Ich hatte die Autorität eines jungen Genies in allen Universitäts-Kreisen Deutschlands, war seit meinem 22.ten Jahr Mitarbeiter der ersten gelehrten Zeitschriften und erhielt von Leipzig den Doktortitel ehrenhalber „ob scriptorum praestantiam“ (— lauter philologica —) Ich hatte insgleichen die ganze Wagnerische Partei hinter mir.
Jene Furcht ist — ich möchte es nicht verkennen — von der schätzenswertesten Art: nämlich jeden Augenblick bereit, in Ehrfurcht umzuschlagen. Es ist mir noch nie gelungen, einen persönlichen Feind zu haben.
Die erste Klugheit, um „in der Gesellschaft“ in Betracht zu kommen, ist, gleich beim Eintritt, ein Duell“ sagt Stendhal. Das wußte ich nicht, aber das habe ich gemacht. —
Zum Schluß erlaube ich mir eine Frage. Haben Sie bereits mit Robert Oppenheim (Berlin) in Betreff Ihres Werks verhandelt? Derselbe hat eine verwandte Litteratur in Verlag, zum Beispiel das beste deutsche Buch, das es über Frankreich giebt „Frankreich und die Franzosen von Karl Hillebrandt.“ — Oder soll ich schreiben? —
Mit dem Ausdruck der
freundlichsten Gesinnung
Ihr
ergebenster
Nietzsche
Adresse: Robert Oppenheim
Verlagshandlung
Berlin W
Matthäi-Kirchstraße 7.
1072. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Sils-Maria, 16. Juli 1888>
Lieber Freund, ein Wort noch in der Sache des Dr. F<uchs>. Derselbe hat inzwischen auf meinen Brief geantwortet, ausgezeichnet — und nicht bloß klug. Er giebt übrigens zu, den Brief verdient und sogar erwartet zu haben. In summa: ich habe mir wieder Muth gemacht und lerne Geduld. — Gleichzeitig traf ein Brief des Hr. Spitteler (von den „Basler Nachrichten“) ein, der sich bitter über Credner beklagt. Dieser Unberechenbare hat im letzten Augenblick, nachdem Alles abgemacht war, auf handgreifliche Vorwände hin das Manusc. Sp<itteler>’s zurückgeschickt. Acht Jahre lang keinen Verleger für ein Meisterstück aesthetischer und historischer Kritik finden! Ich habe einen neuen Versuch gemacht, zu helfen. — Ein alter Musikant kam inzwischen von Dresden und marschirte in Sils. Sehr erbaut, ein Musik-Krokodil, wie mich, zu finden, hat er mir fast ein halbes Jahrhundert Musikgeschichte erzählt, mit den curiosesten Einzelheiten: Kapellmeister Riccius, seit 1847 am Dresdener Hoftheater. — Das Wetter, obwohl es noch viel zu wünschen übrig läßt, hat sich aufgehellt; ich auch. Der letzte Anfall war allerdings der härteste; ich wandte mich an den Arzt. Das Hôtel Alpenrose ist völlig besetzt, sogar die vielen Privatzimmer, in der Ortschaft, über die es disponirt. Mit herzlichstem Gruß Dein
N.
1073. An Meta von Salis auf Marschlins (Postkarte)
Sils, d. 27 Juli <1888>
Verehrtestes Fräulein,
Sie würden mich sehr verpflichten, wenn Sie mir die augenblickliche Adresse von Frl. von Meysenbug mittheilen wollten. Ist es wieder Versailles, Villa Amiel? Oder hat das außergewöhnliche Wetter auch in ihre Sommergewohnheiten störend eingegriffen? —
Das Wetter, obwohl immer noch sehr unruhig und unberechenbar, läßt doch wenigstens die Sonne wieder durch. Ich habe noch keine schlechtere Zeit hier oben erlebt, selbst nicht hinsichtlich meiner Gesundheit. —
Mich bestens für Brief und Gruß bedankend
Ihr ergebenster
Prof. Dr. Nietzsche.
1074. An Heinrich Köselitz in Annaberg (Postkarte)
<Sils-Maria, 27. Juli 1888.>
Schönsten Dank! Heute nur ein Paar Worte zu Händen des allerfreundlichsten Correctors. — Erwägen Sie, bitte, in welchen Fällen die drei Punkte… ersetzt oder weggelassen werden können (— sie kommen vielleicht zu oft vor) Wir wollen bei dem Namen Wagner den Accusativ mit n (Wagnern) festhalten, den Dativ aber ohne n. — Ich kann die drei Notizen, um die ich im letzten Briefe bat, nötigenfalls entbehren. Doch würde ich gern die Seitenzahl in Hinsicht auf Nicht-Wagnerianer citiren. —
Herrn Dr. Fuchs möchte ich ein Exemplar des 4ten Zarathustra zugestellt wissen: nichts darauf geschrieben als ineditum (stark unterstrichen!). Wir haben’s ihm doch noch nicht geschickt? — Ihr Duett an Bülow: bravissimo! vivat sequens!
Eben traf wieder ein Hamburger Musiker hier als Gast ein: Hr. von Holten (Pianist) Auch gab es einen alten Dresdner Kapellmeister, der seit 1847 am Dresdner Hoftheater thätig ist und mir die kuriosesten Dinge erzählen konnte (Riccius) Wir haben uns beide etwas aufgehellt — nämlich das Wetter und ich.
Treulich Ihr Freund
Nietzsche.
1075. An Carl Fuchs in Danzig
Sils, Sonntag d. 29. Juli <1888>
Lieber Freund,
inzwischen habe ich den Auftrag gegeben, daß Ihnen eines der wenigen Exemplare meines ineditum zugestellt wird: zum Zeichen, daß Alles wieder zwischen uns in Ordnung ist und daß der farouche Augenblick einer allzuverwundbaren und allzuvereinsamten Seele überwunden ist. Der vierte Theil Zarathustra, von mir mit jener Scham vor dem „Publico“ behandelt, welche in Hinsicht auf die drei ersten Theile nicht gewahrt zu haben mir bittere Reue macht… Genauer ist es ein Zwischenakt zwischen dem Zarathustra und dem, was folgt („Namen nennen dich nicht… “) Der genauere Titel, der bezeichnender wäre:
„Die Versuchung Zarathustra’s.“
Ein Zwischenspiel.
Herr C. G. Naumann hat sicherlich Ihnen inzwischen zu Gebote gestellt, was er von mir in Verlag hat; ich gab den Wink dazu. Was Herr Fritzsch gethan hat, weiß ich nicht; ich kann im Augenblick nichts von ihm verlangen und erlangen — aus Gründen! —
Es hat sich mir ein wirklich intelligenter Musiker präsentirt, der Prof. von Holten aus Hamburg, der mit großem Interesse Ihrer gedachte und mich zu einer Diskussion über die Riemann’schen Prinzipien führte (— auch über andere Prinzipien: wir sind beide sehr antidécadence-Musiker, will sagen antimoderne Musiker) Er wünscht Ihnen übrigens dasselbe, was ich wünsche — einen freieren Wirkungskreis und nicht mehr Danzig.
Das Wetter ist äußerst ungleich und wechselt alle drei Stunden; meine Gesundheit wechselt mit ihm. Gestern kam ein Brief aus Bayreuth an mich an, aus vollem Parsifal heraus geschrieben. Ein mir unbekannter Wiener Verehrer, der mich seinen „Meister“ nennt (oh!!!) und mich zu einer Art Großmuths-Akt gegen den Parsifal auffordert: — ich sollte großmüthiger sein als Siegfried gegen den alten Wanderer. Sprach übrigens im Namen von einem ganzen Kreise meiner „Jünger“, wie er sich ausdrückte, lauter für „Jenseits von Gut und Böse“ sehr dankbaren „freien Geistern“… (— ich hätte ihnen so viele große, tiefe, auch furchtbare Worte gesagt..)
Von dem glänzenden Erfolge des Dr. Brandes in Kopenhagen habe ich Ihnen wohl erzählt. Mehr als 300 Zuhörer für seinen längeren Cyklus über mich; am Schluß eine große Ovation. Er schreibt mir, daß mein Name jetzt in allen intelligenten Kreisen Kopenhagens populär und in ganz Skandinavien bekannt sei. Von New-York aus wurde mir ein englischer Essay über meine Schriften in Aussicht gestellt.
Wenn Sie je daran kommen sollten (— es fehlt Ihnen ja an Zeit dazu, werther Freund!!) über mich etwas zu schreiben, so haben Sie die Klugheit, die leider noch Niemand gehabt hat, mich zu charakterisiren, zu „beschreiben“, — nicht aber „abzuwerthen“. Es giebt dies eine angenehme Neutralität, es scheint mir, daß man sein Pathos dabei bei Seite lassen darf und die feinere Geistigkeit um so mehr in die Hände bekommt. Ich bin noch nie charakterisirt — weder als Psychologe, noch als Schriftsteller („Dichter“ eingerechnet), noch als Erfinder einer neuen Art Pessimismus (eines dionysischen, aus der Stärke geborenen, der sich das Vergnügen macht, das Problem des Daseins an seinen Hörnern zu packen), noch als Immoralist (— die bisher höchsterreichte Form der „intellektuellen Rechtschaffenheit“, welche die Moral als Illusion behandeln darf, nachdem sie selbst Instinkt und Unvermeidlichkeit geworden ist —) Es ist durchaus nicht nöthig, nicht einmal erwünscht, Partei dabei für mich zu nehmen: im Gegentheil, eine Dosis Neugierde, wie vor einem fremden Gewächs, mit einem ironischen Widerstände, schiene mir eine unvergleichlich intelligentere Stellung zu mir. — Verzeihung! Ich schrieb eben einige Naivetäten — ein kleines Recept, sich glücklich aus etwas Unmöglichem herauszuziehn…
Mit freundlichstem Gruße
Ihr N.
Die fröhliche Wissenschaft „la gaya scienza“ müssen Sie jedenfalls lesen: es ist mein mittelstes Buch, — sehr viel feines Glück, sehr viel Halkyonismus…
1076. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Telegramm)
Sils Engadin 30. Juli 1888
bitte manuscript der schlussanmerkung zurueck — nitzsche
1077. An Heinrich Hengster in Bayreuth (Entwurf)
<Sils-Maria, Ende Juli 1888>
Werther Herr
Sie haben mir einen guten Brief geschrieben. Ich habe Verständniß dafür, wenn Jemand mir eine Neuigkeit mit Klugheit und Wohlwollen zum Ausdruck bringt. —
Der Zufall will, daß es eine Antwort auf Ihren Brief schon gab, bevor derselbe gelesen war. Man druckt eben einen Brief von mir, der im Mai dieses Jahres, in Turin, abgefaßt wurde. Sein Titel ist: Der Fall Wagner. Ein Musikantenproblem.
Vielleicht hat noch Niemand in diesem Fall mehr erlebt als ich…
Machen Sie Ihre Freunde auf diese bevorstehende Veröffentlichung (C. G. Naumann, Leipzig) aufmerksam. Sie werden bereits wissen, daß man auf keinem andern Wege etwas über mich erfährt. Die „Presse“ bleibt stumm über mich: ich will’s auch gar nicht anders…
Mit dem Wunsche, immer nur Gutes
von Ihnen zu hören
Ihr ergebenster
Nietzsche
1078. An Malwida von Meysenbug in Rom
Sils, Engadin Schweiz Ende Juli 1888
Hochverehrte Freundin,
endlich! nicht wahr? — Aber ich verstumme unwillkürlich gegen Jedermann, weil ich immer weniger Lust habe, Jemand in die Schwierigkeiten meiner Existenz blicken zu lassen. Es ist wirklich sehr leer um mich geworden. Wörtlich gesagt, es giebt Niemanden, der einen Begriff von meiner Lage hätte. Das Schlimmste an ihr ist ohne Zweifel, seit 10 Jahren nicht ein Wort mehr gehört zu haben, das mich noch erreichte — und dies zu begreifen, dies als nothwendig zu begreifen! Ich habe der Menschheit das tiefste Buch gegeben, das sie besitzt, ein Buch, gegen das gerechnet die Bücher überhaupt bloß Litteratur sind. Wie man das büßen muß! — Es stellt aus jedem menschlichen Verkehr heraus, es macht eine unerträgliche Spannung und Verletzbarkeit, man ist wie ein Thier, das beständig verwundet wird. Die Wunde ist, keine Antwort, keinen Laut Antwort zu hören und die Last, die man zu theilen, die man abzugeben wünschte (— wozu schriebe man sonst?) in einer entsetzlichen Weise allein auf seinen Schultern zu haben. Man kann daran zu Grunde gehn, „unsterblich“ zu sein! — Zufällig habe ich noch das Mißgeschick, mit einer Verarmung und Verödung des deutschen Geistes gleichzeitig zu sein, die Erbarmen macht. Man behandelt mich im lieben Vaterlande wie Einen, der ins Irrenhaus gehört: dies ist die Form des „Verständnisses“ für mich! Außerdem steht mir auch der Bayreuther Cretinismus im Wege. Der alte Verführer Wagner nimmt mir auch nach seinem Tode noch den Rest von Menschen weg, auf die ich wirken könnte. — Aber in Dänemark — es ist absurd, zu sagen! — hat man mich diesen Winter gefeiert!! Der geistreiche Dr. Georg Brandes hat es gewagt, einen längeren Cyklus von Vorlesungen an der Kopenhagener Universität über mich zu halten! Und mit glänzendem Erfolge! Mehr als 300 Zuhörer regelmäßig! Und eine große Ovation am Schluß! — Eben stellt man mir etwas Ähnliches für New York in Aussicht. Ich bin der unabhängigste Geist Europa’s und der einzige deutsche Schriftsteller — das ist Etwas! —
Das erinnert mich an eine Frage Ihres letzten verehrten Briefes. Daß ich für Bücher, wie ich sie schreibe, kein Honorar erhalte, werden Sie voraussetzen. Aber was Sie vielleicht nicht voraussetzen, ich habe auch die ganzen Herstellungs- und Vertriebs-Kosten zu bestreiten (— in den letzten Jahren c. 4000 frs.) In Anbetracht, daß ich bei Presse und Buchhandel verfehmt und ausgeschlossen bin, verkauft sich nicht ein Hundert der gedruckten Exemplare. Ich bin ohne Vermögen, meine Pension in Basel ist bescheiden (3000 frs. jährlich) Doch habe ich von letzterer immer etwas zurückgelegt: so daß ich bis jetzt keinen Pfennig Schulden habe. Mein Kunststück ist, das Leben immer mehr zu vereinfachen, die langen Reisen zu vermeiden, eingerechnet das Leben in Hôtels. Es gieng bisher; ich will es auch nicht anders haben. Nur giebt es für den Stolz diese und jene Schwierigkeit. —
Unter diesem mannichfachen Druck von Innen und Außen her hat leider meine Gesundheit sich nicht zum Besten befunden. In den letzten Jahren gieng es nicht mehr vorwärts. Die letzten Monate, wo die Ungunst des Wetters dazu kam, sahen sogar meinen schlechtesten Zeiten zum Verwechseln ähnlich. —
Um so besser ist es inzwischen meiner Schwester gegangen. Die Unternehmung scheint glänzend gelungen, der festliche, beinahe fürstliche Einzug in der Colonie vor ungefähr 4 Monaten hat einen großen Eindruck auf mich gemacht. Es sind jetzt c. 120 Deutsche, nebst einem reichlichen Zubehör einheimischer Peons; es sind gute Familien darunter, z. B. die Mecklenburger Baron Malzahns. —
Ich wurde kürzlich sehr lebhaft an Sie, verehrteste Freundin, erinnert, Dank einem Buche, in dem eine Vordergrunds-Figur des ersten Bandes der „Memoiren einer Idealistin“ in hellstes Licht trat. Insgleichen hat mir Frl. von Salis sehr dankbar über ihr Zusammensein mit Ihnen geschrieben.
Mit den herzlichsten Wünschen für Ihr Wohlbefinden und der Bitte um fortdauernde, wenn auch stille Antheilnahme
Ihr treu ergebener
Nietzsche.
— Es bedarf Größe der Seele, um meine Schriften überhaupt auszuhalten. Ich habe das Glück, Alles, was schwach und tugendhaft ist, gegen mich zu erbittern.
1079. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
Sils, 2. August 1888
Sehr geehrter Herr Verleger,
Hiermit übersende ich Ihnen den Schluß des Manuscriptes. Wir wollen diese letzte Partie ganz genau so drucken, wie den eigentlichen Schluß: sie wird damit ungefähr einen Bogen länger. Diese Zusätze, die den Namen Nachschrift führen, sollen auf der Seite beginnen, die auf die Schlußseite des eigentlichen „Briefs“ folgt.
Adresse des Herrn Köselitz nach wie vor:
„Herrn Heinrich Köselitz
Annaberg“
Anbei ein Vorschlag für das Buchhändler-Anzeigeblatt. Mir liegt daran, daß bei Zeiten von dieser Publikation die Rede ist.
1080. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Sils-Maria, 2. August 1888>
Meine liebe Mutter
der zweite August! Aber wir sind nach wie vor in einem beständigen Regenwetter drin. Kalt, der Schnee recht nah, der Sommer beinahe zu Ende. Es scheint mir aber, daß meine Widerstandskraft dennoch zugenommen hat. Ich habe der Reihe nach Vielerlei abmachen können, sogar ein kleines Manuscript (die erste Abschrift war, bei meiner großen Schwäche, so unleserlich geworden, daß Naumann sie zurückschickte; die zweite, aus den letzten 8 Tagen, sieht ganz anders aus. Daran sind nicht nur die guten Federn schuld)
Dies Mal sind die Schinken vollkommen nach Wunsch und Geschmack — allerschönsten Dank! Es ist viel leichtere Arbeit für mich, da das Kauen mir immer noch Schwierigkeiten macht. Von den vorletzten Schinken habe ich zwei vertilgt; die Gewohnheit thut in allem viel, so daß der zweite Schinken mir erträglicher war als der erste. Doch sind mir die neuen unvergleichlich lieber. Es war sonderbar, daß die Zwiebäcke ankamen, als ich gerade mir welche bei einem Bäcker in Silvaplana hatte backen lassen. Die Vergleichung fällt natürlich sehr zu Gunsten der Deinigen aus. Daß es noch ein Chamäleon geben soll, ist ganz zum Verwundern; ich habe es gestern alle seine Künste mir vormachen lassen.
Die Gesellschaft des Hôtels ist nicht übel; und was es von distinguirteren Personen giebt, das sucht sich mir vorstellen zu lassen. So ein sehr angenehmer Staatsanwalt Dr. Schön aus Lübeck; ein alter Präsident aus Norddeutschland; jetzt eben wieder ein Prof. von Holten aus Hamburg; ein Kapellmeister vom Dresdener Hoftheater; und selbst die hübschen Mädchen machen mir ganz ersichtlich den Hof. Man hat den ungefähren Begriff, daß ich „ein Thier“ bin. Der Koch kocht dies Jahr für mich mit besondrer finesse. Briefe trafen ein, die zum Theil verrückt vor Enthusiasmus für meine Bücher waren: darunter einer mitten aus dem Bayreuther Parsifal heraus, im Namen eines ganzen Kreises von „Jüngern“ aus Wien. Doch verhalte ich mich sehr kühl allen solchen jugendlichen Anstürmen gegenüber. Ich schreibe ganz und gar nicht für die gährende und unreife Altersklasse. —
Auch Frl. von Salis ist eingetroffen, ein wenig dürrer und blässer noch als vorher. — Sils hat diese Woche seine neuen 3 Glocken aufgehängt, ich lobte heute noch den ausgezeichneten Gießer und Fabrikanten derselben, den ersten der Schweiz. Der Klang ist sehr schön.
Eben erfahre ich das schreckliche Elephanten-Ereigniß von München.
Es donnert; es gießt in Strömen; ich bin heute morgen ganz naß geworden. Nachts fehlt es mir etwas an Schlaf. Das liegt wohl daran, daß das abscheuliche Wetter das Spazierengehn fast unmöglich macht. Mitunter laufe ich trotzdem im Regen hinaus.
Es grüßt und umarmt Dich Dein
altes Geschöpf
1081. An Adolf Ruthardt in Leipzig (Postkarte).
Sils-Maria, Oberengadin d. 7 August 1888
Werther und lieber Herr Professor,
können Sie mir umgehend eine sehr gebildete Auskunft geben? Wie heißen im Originaltexte der „schönen Helena“ die Worte des Chors, die deutsch „auf nach Kreta! auf nach Kreta“ lauten? allons pour Crète vielleicht? Ich habe sonderbarer Weise einen dringenden Grund, dies zu wissen. Sie, als alter Genfer, sind der Einzige, der vielleicht mir hilft.
Mit allerfreundlichstem Gruß
Prof Dr. Nietzsche
1082. An Heinrich Köselitz in Annaberg (Postkarte)
<Sils-Maria,> Donnerstag. <9. August 1888>
Lieber Freund,
es giebt noch Nachschriften zu meinem „Brief“ zu corrigieren, — ich bedaure Sie! Sehr gepfeffert und gesalzen; in der zweiten Nachschrift fasse ich das Problem in erweiterter Form an den Hörnern (— ich werde nicht leicht Gelegenheit haben, von diesen Dingen wieder zu reden; die einmal gewählte Form erlaubt mir viele „Freiheiten“ —) Unter anderem ein Todtengericht auch über Brahms. Einmal habe ich mir sogar erlaubt, auf Sie anzuspielen: in einer Form, die hoffentlich Ihren Beifall hat! —
Eben gab ich Naumann den Auftrag, die letztcorrigirten Bogen, an denen ich Manches verändert habe, Ihnen zu einer letzten Revision zu unterbreiten.
In dankbarstem Gefühle
Ihr Freund
N.
1083. An Heinrich Köselitz in Annaberg
Sils d. 9. August <1888>
Lieber Freund,
in den ersten Zeilen der Vorrede hatte ich die Worte „vielen Späßen“ umgeändert in „hundert Späßen“. Nachträglich scheint mir das Wort „hundert“ hier zu stark; ich würde vorschlagen, daß Sie bei der Revision das ursprüngliche „vielen“ wiederherstellen.
Heute unglaublich schöner Tag, Farben des Südens!
Ihr Freund Nietzsche.
1084. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
Sils-Maria, Donnerstag <9. August 1888>
Geehrtester Herr Verleger,
Heute morgen giengen die Correkturen an Sie ab. Ich habe darauf geschrieben „druckfertig“; aber in Anbetracht, daß es viel zu verändern giebt und daß ich ein sehr geringes Zutrauen zu meiner Schrift habe, scheint es mir räthlicher, die Bogen, wenn sie corrigirt sind, zu einer letzten Revision an Herrn Köselitz zu senden — Derselbe liest meine Schrift besser als ich selber. — Ein wesentlicher Zeitverlust kann nicht dadurch entstehn. — Ich erwarte nur noch die Nachschriften. Es ist mir nicht klar, wie lange eine Sendung von Sils bis zu Ihnen braucht. Was Sie Sonnabend abschicken, ist Montag Nachmittag um 4 in meinen Händen. Ich argwöhne, daß es umgekehrt viel langsamer geht. —
Mit ergebenstem Gruß
Ihr
N.
1085. An Hans von Bülow in Hamburg
Sils-Maria, Engadin d. 10. August 1888
Verehrter Herr,
inzwischen nahm ich mir die Freiheit, einem Freunde zur Übersendung der Anfangs-Nummer einer Oper Muth zu machen. Vielleicht, dachte ich mir, wirkt sie „appetitmachend“. Die Oper heißt „der Löwe von Venedig“: ich sähe diesen Löwen mit größtem Vergnügen in der Menagerie Pollini…
Diese Oper ist ein Vogel der seltensten Art. Man macht jetzt so Etwas nicht mehr. Alle Eigenschaften im Vordergrunde, die heute, skandalös, aber thatsächlich, der Musik abhanden kommen. Schönheit, Süden, Heiterkeit, die vollkommen gute, selbst muthwillige Laune des allerbesten Geschmacks — die Fähigkeit, aus dem Ganzen zu gestalten, fertig zu werden und nicht zu fragmentarisiren (vorsichtiger Euphemismus für „wagnerisiren“)
Mein Freund, Herr Peter Gast, ist eine der tiefsten und reichsten Naturen, die der Zufall in diesen verarmende Zeit hineingeworfen hat. Mein „Schüler“, ich bekenne es, im engsten Sinne, aus meiner Philosophie gewachsen, wie Niemand sonst. 32 Jahr, bis jetzt in vollkommener Unabhängigkeit, gebürtig aus dem sächsischen Erzgebirge (einer erstaunlich tüchtigen Familie zugehörig, die seit Jahrhunderten die Cultur der ersten Stadt des Erzgebirgs in der Hand gehabt hat) Strengste musikalische Erziehung, bevorzugter Schüler des alten Richter in Leipzig, eine Periode überwundener Wagnerei hinterdrein. Seitdem Isolation in Venedig, in wunderbarer Einfalt der Verhältnisse, ohne „Öffentlichkeit“, ohne „Cant“, „Würden“ und andre Eitelkeiten. — Seine Mutter Wienerin.
Der Text der Oper ist einfach das matrimonio segreto, von meinem Freunde übersetzt. Dasselbe galt im vorigen Jahrhundert als Muster-libretto; der erste Entwurf ist von Garrik. Einer Andeutung Stendhals folgend haben wir das Werk ins Venetianische übersetzt, das heißt, es nicht nur dort spielen lassen, vielmehr versucht, Venedig in dies Werk zu übersetzen… Mein Freund, der seit 6 Jahren daselbst in einer geheimnißvollen und glücklichen Verborgenheit daselbst lebt, hat, wie mir wenigstens scheint, einen Zauber von Venediger Farbe der morbidezza für die Musik erfunden, hinzuzurechnen viele reizend-derbe Realitäten des südlichen Lazzaronismus. Wirkungsvollster vierter Akt mit einem Gondoliere-chor am Schluß, couleur locale ersten Ranges. — Es existirt ein ausgezeichnet lesbar und schön geschriebener Clavier-Auszug, das kalligraphische Meisterstück meines Freundes, gleich der Partitur selbst. — Die Ouvertüre ist in Zürich zum ersten Male (in der Tonhalle) aufgeführt worden. Kein Mensch schreibt eine solche Ouvertüre mehr — aus ganzem Holze…
Jetzt, wo Wagner von St. Petersburg bis Montevideo die Theater beherrscht, gehört ein Bülow’scher Muth dazu, gute Musik zu riskiren…
Mit dem Ausdruck alter Verehrung
Prof. Dr. Nietzsche
1086. An Carl Fuchs in Danzig (Postkarte)
<Sils, 10. August 1888>
Seien Sie unbesorgt, werther Freund! Ich rede in dieser Schrift von einer Sache, worin ich nicht nur Autorität, sondern die einzige Autorität bin, die es heute giebt. — Sie selber werden der Erste sein, mir dies zuzugestehn, — und Sie werden es eines Tags über alle Maßen komisch finden, daß Sie sich mir, in diesem Falle, „zur Vermittlung“ angeboten haben…
Mit freundlichstem, aber ganz ironischem Gesichte
Ihr
N.
1087. An Emily Fynn in Genf
Sils den 11. August 1888.
Verehrteste Frau
das war ein Tag, der zehnte August! Das Wetter warm, rein, tiefblau; alles was ich unternahm gerieth; alle zwei Stunden gab es eine angenehme Überraschung (— darunter ein Privatconcert für mich, von einem ausgezeichneten Musiker aus Hamburg, Herrn von Holten veranstaltet: er hatte sich ein Stück meines Venediger Maëstro eingeübt und spielte es sechs Mal hintereinander — auswendig!)
Morgens lief ich um den See von Silvaplana herum, Nachmittag war ich hinten im Fexthal — dort gab es mindestens 70 Fremde, alle wie im Zustande der Genesung, denn bis vorgestern war das Wetter in der Tat wie eine schwere Krankheit. Und als ich Abends nach Hause komme, überrechnend, was der Tag Gutes gebracht hat, so war er noch nicht einmal am Ende mit seinen Geschenken — ich fand Ihren so gütigen, so liebenswürdigen Brief! Einen so unverdienten Brief!
— Aber der Winter war böse auf mich, es war eine düstere und kranke Zeit, ohne Sonnenschein weder oben, noch drinnen. Der ganze Aufenthalt in Nizza mißrathen. Die Philosophen machen es, wenn sie krank sind, wie die Thiere, sie verstummen, sie verkriechen sich in ihre Höhle. Auch meine alte Freundin Meysenbug mag schön erstaunt sein, seit letztem Herbst nichts von mir gehört zu haben. — Die Hitze in Italien trieb mich schon Anfangs Juni ins Engadin — ich Unglücksmensch! — Ein solches Wetter ist nicht zu beschreiben; mein Zustand verschlechterte sich dergestalt, daß er mich an meine traurigsten Zeiten erinnerte. Tiefe Schwäche, alle Wochen ein Paar Mal zu Bett, der fatale Kopfschmerz mit seinen fatalen Consequenzen. Da man nicht ausgehen konnte und den Tag im kalten Zimmer durchfröstelte, fand man Nachts nicht einmal Schlaf. Dazu völligen Mangel an Gesellschaft; die Augen zu schwach zum Lesen; Krankheit und Langweile in Permanenz. — Seit 3 Wochen ungefähr ist das Wetter anders: nicht gerade besser, aber wenigstens mit guten wenn auch kurzen Zwischenakten. Wintertage gab es von größter Strenge, mit ruhigen Winden; auch jetzt ist der Gesammt-Charakter der Landschaft durch die große Masse Schnee sehr winterlich. Aber gestern und vorgestern höchste, irdische und engadinische Vollkommenheit!
In Nizza las ich Abends den Journal de Genève… Wie oft habe ich bei dem traurigen Wetter-Berichte Ihrer und Ihrer leidenden Freundin gedacht! Für einen ersten Winter in Genf war es hart. Paraguay ist, unter solchen Wetter-Verhältnissen, in der That ein verlockender Aspekt.
Die letzten größeren Berichte, vom wahrhaft fürstlichen Einzug und Empfang meiner Angehörigen in der neuen Colonie, haben einen starken Eindruck auf mich gemacht. Zuletzt habe ich Europa als Cultur-Museum absolut nöthig. Die Wildniß (— und das Glück…) ist für einen der keine Philosophie auf dem Gewissen hat!. —
Zu den Curiositäten dieses Winters gehörte es, daß ich anfing berühmt zu werden! Wo? In Dänemark. Der geistreiche Gelehrte Dänemarks, Dr. Georg Brandes hat einen längeren Cyclus von Universitäts-Vorlesungen über den Philosophen Nietzsche gehalten, mit einem außerordentlichen Erfolge, wenn man den Zeitungen trauen darf. Mehr als 300 Personen regelmäßige Zuhörer; am Schluß eine große Ovation. — Man stellt mir eben etwas Ähnliches für New York in Aussicht. — Ich wünschte ich hätte mehr Vergnügen an so etwas. Im Grunde stimmt mich’s ironisch.
Für den nächsten Winter will der Eremit nach Corsika, nicht gerade nach Ajaccio, sondern in eine unentdeckte Welt. Ich habe eine so tiefe Selbstbesinnung nöthig, daß mir es nirgends still, nirgends antimodern genug ist. Sagen Sie, wenn ich bitten darf, ein herzliches Wort von mir Ihrer verehrten Freundin; dasgleiche Ihrer Fräulein Tochter. Es freut mich sehr, daß sie im Verkehr mit einem guten Maler ist. Auch von Fräulein Zimmern höre ich mit großem Interesse: ich möchte, daß sie sich meiner noch erinnert. Es soll ja nicht ein Gruß an die ausgezeichnete Mad. Bichler vergessen werden. Ihr verehrungsvoll ergebener
Nietzsche.
P.S. Eben beginnen die Glocken von Sils zu läuten, — neue Glocken! Ein schöner weicher melodischer Klang. —
1088. An Heinrich Köselitz in Annaberg
Sils den 11. August <1888>
Lieber Freund,
es ist mir keine kleine Herzstärkung gewesen, zu hören, selbst zu sehen, daß Ihnen diese sehr risquirte Schrift Vergnügen gemacht hat. Es giebt Stunden, besonders Abends, wo mir der Muth zu so viel Tollheit und Härte fehlt. In summa: es erzieht mich zu einer noch größeren Einsamkeit — und bereitet mich vor, noch ganz andre Dinge zu verlautbaren als meine Bosheiten über einen solchen „Privat-Fall“. Das Stärkste steht eigentlich in den „Nachschriften“; in Einem Punkte bin ich sogar zweifelhaft, ob ich nicht zu weit gegangen (— nicht in den Sachen, sondern in dem Aussprechen von Sachen) Vielleicht lassen wir die Anmerkung (in der über W<agner>s Herkunft Etwas angedeutet wird) weg und machen dafür zwischen den Hauptabschnitten der „Nachschrift“ kleine Zwischenräume…
Auf S. 27, Zeile 1 müßte es allerdings genauer heißen „sein Instinkt dafür, die höhere Gesetzlichkeit nicht nöthig zu haben“; aber da vorausgeht „sein Bewußtsein davon“, schien es mir zu viel. Machen Sie nach Gutdünken! —
Im Schluß des Ganzen bin ich auf den Gesichtspunkt des „Vorworts“ zurückgekommen: zugleich um der Schrift den Charakter des Zufälligen zu nehmen, — um ihren Zusammenhang mit meiner ganzen Aufgabe und Absicht herauszuheben.
Auf dem Umschlag sind die Schriften angezeigt; auch habe ich den „Hymnus“ nicht vergessen. — Mir gefallen dies Mal die Seiten, — gerade voll genug und nicht so gedrückt und unübersichtlich voll, wie im „Jenseits“ (— das mir schwer lesbar scheint)
Gestern gab es ein Fest für mich. Vielleicht haben Ihnen die Ohren geklungen. Herr von Holten, der Pianist des Hamburger Conservatoriums, hatte sich das „Liebesduett“ eingeübt und führte es mir in einem Privat-concert vor. Er mußte es sechs Mal wiederholen: er hat wunderbar die Singstimme zum Vorschein gebracht — er war selbst ganz erbaut von der „liebenswürdigen und feinen Musik“, wie er sich ausdrückte (— er spielte es auswendig —) er nahm Anstoß an der Logik des ges im Baß Seite 5, unterste Zeile „dein Will gescheh“
Gleich darauf setzte ich mich hin und schrieb nach Hamburg an Hans…
quod deus bene vertat! —
— Und haben Sie Ihr Quartett schon zu hören bekommen? —
Seit drei Tagen ist das Wetter außerordentlich schön: vorher harter Winter, man gieng bei Schneegestöber und eisigem Winde hinaus. —
Was denken Sie über den Winter, der jetzt zu erwarten steht? —
Und bleibt es bei Ihrem Besuche der Familie von Krause? -
Es ist nicht unwahrscheinlich, daß ich von hier wieder nach Turin gehe. Es sei denn daß… Wenn Bülow nur bald antwortete! — Aber wer weiß, wo er steckt!
Leben Sie wohl, lieber Freund!
Immer viel im Geiste bei Ihnen
N.
Das „Leitmotiv“ meiner schlechten Scherze „Wagner als Erlöser“ bezieht sich natürlich auf die Inschrift im Kranze des Münchner Wagner-Vereins „Erlösung dem Erlöser“…
1089. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
<Sils-Maria,> Sonntag, <12. August 1888>
Geehrtester Herr Verleger,
eben traf wieder der Correkturbogen ein — die zwei „Nachschriften“ enthaltend. Inzwischen sandte ich noch ein Stück Manuscript: wir wollen das Stück unter dem Titel Epilog auf der neuen Seite (53) anfangen lassen. Zu ihm habe ich heute morgen noch ein paar sehr substantielle Schlußworte geschrieben, die der Schrift eine bedeutende Rückbeziehung auf meine letztveröffentlichte Schrift geben. Ich bitte um Entschuldigung, daß das Manuscript so bruchstückweise in Ihre Hände gelangt: wüßten Sie, unter was für unglaublichen Verhältnissen ich diesen Sommer hier oben zubringe, so würden Sie mir gewiß Genugthuung wiederfahren lassen. Die Sache, um die es sich in dieser Schrift handelt, ist verantwortlich und schwer genug: ich will absolut mit mir selbst dabei zufrieden sein — und daraus erklärt sich, daß ich immer noch einen Zusatz mache. Ich will nicht nöthig haben, auf dieses ganze Problem zurückzukommen: deshalb habe ich Tag und Nacht jetzt über dasselbe nachgedacht, um alle wesentlichen Punkte desselben zu finden. — Erst seit 3 Tagen ist das Wetter gut; vorher war es winterlich im schlimmsten Sinne. Immer krank!…
Für die Correktur des Vorworts gilt absolut der von mir und Herrn Köselitz festgestellte Text auf dem übersandten Correktur-Bogen: doch bat ich darum, daß eine letzte Revision noch von Herrn K<öselitz> vorgenommen wird.
Auf dem Umschlag wollen wir die Worte ridendo dicere severum weglassen, nachdem dieselben auf dem Blatt, wo die Worte Turiner Brief stehen, eine schicklichere Stelle gefunden haben. —
Der Umschlag, wo Alles grün ist, Worte und Papier, gefällt mir sehr. Es bleibt dabei. — Das Papier ist auch schön stark. —
Auch Ihre Vorschläge in Betreff der Zahl der Exemplare und der Bezeichnung der letzten 500 als zweite Auflage haben meinen vollen Beifall. — Preis ebenfalls.
Nach Ihren Worten schließe ich, daß der erste Bogen noch nicht gedruckt ist? In diesem Falle wird also die kleine Veränderung auf S. 7 noch gemacht worden sein? nämlich an Stelle der drei Verszeilen diese anderen:
„das kann ich dir nicht sagen,
und was du frägst,
das kannst du nie erfahren.“
Der kleine Entwurf für das Buchhändler-Börsenblatt darf natürlich in jedem Sinn und in jedem Worte verändert werden: Vielleicht gefällt Ihnen der Ausdruck „geniales Pamphlet“ nicht; oder die Sache mit den „Hörnern“; machen Sie, bitte, nach Gutdünken! Hier fehlt mir alle Erfahrung in Bezug auf das, was erlaubt und was nützlich ist. —
Mit den besten Wünschen für das gute Gelingen unsrer Unternehmung
Ihr ergebenster Dr. Nietzsche
1090. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Sils-Maria,> Montag, <13. August 1888>
Meine liebe Mutter,
wir haben seit 4 Tagen ein unvergleichlich schönes Wetter und athmen alle auf. Vorher noch war es tief winterlich; so daß meine Wirthin mir doppelte Decken aufs Bett legte und ich alle Wintersachen, die ich hatte, in Gebrauch nahm. Aber mit Einem Male ist eine wunderbare Sommer-Stimmung da; die allerschönsten Farben, die ich hier oben gesehen habe, und der Himmel vollkommen rein wie in Nizza. Heute morgen bin ich mit Fräulein v. Salis auf dem See herumgegondelt; gestern hat mir ein ausgezeichneter Musiker ein kleines Privatconcert gegeben, in dem er Sachen von Herrn Köselitz spielte, die er für mich eingeübt hatte. Ebenfalls langte ein sehr liebenswürdiger Brief von Missis Fynn aus Genf an (trotzdem daß ich seit vorigem Herbste vollkommen verstummt war und mehrere Briefe unbeantwortet gelassen hatte). In meinem Hôtel sind jetzt 60 Gäste. Es gab sehr viel zu thun für mich, wir sind wieder in voller Druck-Arbeit. —
Nunmehr habe ich die etwas zu salzigen und derben Schinken aufgegessen; insgleichen einen von den feinen und kleinen. Der zweite ist auch bereits angeschnitten: so daß es nun nicht mehr sehr lange dauert, daß der Vorrath erschöpft ist. Meine Absicht ist immer noch, bis zum 15. Sept. auszuhalten: obwohl bei dem Wetter von diesem Jahre nichts zu versprechen ist. Im Grunde war der ganze bisherige Aufenthalt eine Geduldsprobe allerersten Ranges: man kann sich etwas Schauderhafteres gar nicht denken. Ich wußte sehr oft nicht, wie über eine unglaubliche Melancholie und Schwäche hinwegkommen.
Sils hat sich neue Glocken angeschafft, deren Klang sehr weich und voll ist.
Von den Federn bitte ich mir doch eine ganze Schachtel aus, von wegen der Reise nach dem Süden, wo ich nichts mehr beziehn kann.
Vor ein paar Tagen habe ich auch an Herrn von Bülow nach Hamburg geschrieben, der jetzt 2 Winter daselbst die Oper dirigirt hat, um ihm das Werk des ausgezeichneten Herrn Köselitz ans Herz zu legen. Er wäre der Einzige, der so etwas Neues wagte: aber da er ein unberechenbarer Mensch ist, so rechne ich auf nichts. —
In herzlicher Liebe Dich umarmend
Dein altes Geschöpf.
1091. An Heinrich Köselitz in Annaberg (Postkarte)
<Sils-Maria, 18. August 1888>
Lieber Freund, sehr erbaut von Ihrem eben anlangenden Brief! — Was die Anmerkung betrifft, so habe ich mich (außer einer vorsichtigeren Nuancirung der Herkunftsfrage) dazu entschlossen, sie ganz festzuhalten. Ich komme nämlich in einer Art Epilog mit aller Wucht auf die Falschheit W<agner>s zurück: so daß jeder Wink nach dieser Seite hin werthvoll wird. (Genannten Epilog habe ich noch mehrere Mal umgearbeitet: das was Ihnen zugeht, ist noch nicht das Rechte. Aber Sie senden mir’s, corrigirt!) — Ich meine in der That die venet<ianischen> Epigramme (und nicht die römischen Elegien) Es ist historisch (wie ich aus dem Buch von Hehn gelernt habe), daß sie den größten Anstoß gaben. — Die Familie v. Krause wird, wie alle Welt, jetzt auf Reisen sein. Das Duett ist noch gar nicht angelangt. — Beer nicht, Betz! —
In Freundschaft Ihr N.
Sonnabend. — Seit 10 Tagen wunderbares Wetter, gestern abgerechnet.
1092. An Carl Fuchs in Danzig (Postkarte)
Sils, am 22. August 1888.
Werther Freund, es fehlt mir immer noch in kaum beschreiblicher Weise an Zeit, vor allem an Augen, um Ihnen für Ihre reichen Mittheilungen zu danken. Es ist gerade Hochfluth bei mir von allerlei Notwendigkeiten, die mein bischen Sehkraft nur zu vollständig absorbiren. Sie kennen glücklicher Weise diesen physiologischen Mißstand nicht. Ich habe zum Lesen und Schreiben Brille Nr. 3 nöthig — wenn meine drei Augenärzte Recht behalten hätten, so wäre ich seit Jahren blind. Thatsächlich bleibt mir von jedem Tage nur eine ganz kleine Zahl Stunden zum Schreiben und Lesen; und wenn das Wetter finster wird, gar nichts. Dies in Ökonomie zu einer Großes fordernden gelehrten Cultur zu bringen ist ein Problem…
Mit der neuen Schrift hat es vielleicht noch 1 1/2 Monate Zeit. Für die Correktur habe ich den Freund, der seit 10 Jahren jedes Blatt aus meiner Hand corrigirt, Herrn Peter Gast.
Treulich Ihr N.
1093. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Sils, Mittwoch, d. 22. August <1888>
Meine liebe Mutter,
wir haben gerade wieder recht verdrießliches Wetter, naß und kalt: um so mehr habe ich mich über die Ankunft Deiner Sendung gefreut, die (gestern) Dienstag Nachmittag in meine Hände kam. Abends habe ich sogleich den Schinken angeschnitten, denn ich war vollständig fertig geworden mit den kleinen. Es schien mir, daß er noch delikater schmeckt, was vielleicht mit der Größe zusammenhängt. Ende gut Alles gut — dachte ich dabei. Wir wollen sehen, wie lange es reicht. Ich rechnete eben, daß mein Aufenthalt hier oben noch 24 Tage beträgt — am 15. Sept. Abreise —. Die Zwiebäcke kamen mir um so mehr zurecht, als die, welche ich beim Bäcker in Silvaplana letzten Samstag geholt hatte, nicht gut gerathen waren. Den Thee habe ich sofort in Blechbüchsen gefüllt: es ist mir eine sehr angenehme Abwechselung. Die Serviette kommt insofern zur rechten Zeit, als ich die andre in die Wäsche geben muß. Allerschönsten Dank, meine gute liebe Mutter! Es ist doch angenehm, von Hause aus solche Kistchen zu bekommen — viel besser als von einem Schweizer Wurst-Fabrikanten…
Frl. v. Salis ist seit einigen Tagen abgereist. Überhaupt leert es sich schnell. Eine sehr angenehme Gesellschaft ist mir der Berliner Professor Kaftan und Frau, die mich noch von Basel her gut kennen und zum ersten Mal hier oben sind. (K<aftan> brachte mir Nachrichten und Grüße von Deussen, auch von Romundt: ich kann den Gedanken nicht völlig ausschließen, er möchte vielleicht selbst einer der „unbekannt bleibenden wollenden“ Freunde sein. Es ist übrigens einer der sympathischsten Theologen, die ich kenne) — Was jenes Geld betrifft, so kam mir immer mehr die Einsicht, daß es sehr zur rechten Zeit eingetroffen ist. Wenn Alles so fort geht, wie es gut begonnen hat, so werde ich in den nächsten Jahren fertig mit einer Hauptsache meines Lebens — und brauche hübsch viel Geld zum Druck. — Die Rücksicht auf diese Hauptsache, und um so wenig wie möglich mir alles Experimentiren unter jetzigen Umständen zu ersparen, wird mich doch wieder nach Nizza führen. Von hier gehe ich direkt wieder nach Turin. Auf diese Weise bleibe ich auf dem Wege. — Vor einigen Tagen machte ich folgendes Verzeichniß meiner Habseligkeiten: 4 Hemden. 4 Nachthemden. 3 wollne Hemden. 8 Paar Strümpfe. Ein guter Rock. Ein stärkerer Überrock. Der Winterüberzieher aus Naumburg (noch recht gut, aber ich trage ihn zu selten!) 2 schwarze Hosen, eine sehr dicke Hose. 2 hohe schwarze Westen, die 2 letzten Naumburger Westen (die ganz gut wären, nur um eine Hand zu kurz) Die dicken Morgenschuh. — Das scheint mir gerade genug. Ich darf, um meinen Koffer nicht zu überfüllen, nur sehr vorsichtig sein und lasse dies Mal den Schlafrock hier oben (— er ist arg zerrissen und es scheint mir für einen Gelehrten, wie ich bin, schicklicher, wenn er keine Schlafröcke trägt. Der Naumburger Winterüberzieher wird wohl an seine Stelle rücken)
Jetzt eben kommt die Sonne wieder zum Vorschein. Den 2. Sept. habe ich nicht vergessen. — Es giebt sehr Viel zu thun; und ich wünschte mehr schlafen zu können.
In Liebe
Dein altes Geschöpf
1094. An Meta von Salis auf Marschlins
Mittwoch, Sils. <22. August 1888>
Verehrtes Fräulein,
ein Wetter, wie am Morgen Ihrer Abreise — zum ersten Mal seitdem: lautes Geplätscher. Ich mache mir die kluge Erholung, die ich mir so oft im Kampf mit den „Naturgeistern“ diesen Sommer gemacht habe — und unterhalte mich ein wenig mit Ihnen. Zu alledem liegt ein gewisses Buch vor mir: es kam gestern Abend an. Noch niemals habe ich mich so würdig angeputzt gesehn — beinahe als „Classiker“. Der erste Blick hinein gab mir eine Überraschung: ich entdeckte eine lange Vorrede zu der „Genealogie“, deren Existenz ich vergessen hatte… Im Grunde hatte ich bloß den Titel der drei Abhandl. im Gedächtniß: der Rest, dh. der Inhalt war mir flöten gegangen. Dies die Folge einer extremen geistigen Thätigkeit, die diesen Winter und dies Frühjahr ausfüllte und die gleichsam eine Mauer dazwischen gelegt hatte. Jetzt lebt das Buch wieder vor mir auf — und, zugleich, der Zustand vom vorjährigen Sommer, aus dem es entstand. Extrem schwierige Probleme, für die eine Sprache, eine Terminologie nicht vorhanden war: aber ich muß damals in einem Zustande von fast ununterbrochener Inspiration gewesen sein, daß diese Schrift wie die natürlichste Sache von der Welt dahinläuft. Man merkt ihr keine Mühsal an — Der Stil ist vehement und aufregend, dabei voller finesses; und biegsam und farbenreich, wie ich eigentlich bis dahin keine Prosa geschrieben. Freilich sagt der große Kritiker Spitteler: daß er, seitdem er diese Schrift von mir gelesen habe, alle Hoffnungen auf mich als Schriftsteller aufgegeben habe…
Im Vergleich mit letztem Sommer, der mir eine solche Improvisation über horrible Themata erlaubte, erscheint dieser Sommer freilich geradezu „ins Wasser gefallen“. Dies thut mir außerordentlich leid: denn aus dem zum ersten Male wohlgerathenen Frühlings-Aufenthalte brachte ich sogar mehr Kraft mit herauf als voriges Jahr. Auch war alles zu einer großen und ganz bestimmten Aufgabe vorbereitet. Das „Pamphlet“ gegen Wagner (— auf das ich, unter uns, stolz bin) gehört in allem Wesentlichen nach Turin und war eigentlich die rechte, allerbeste Erholung, die Jemand sich mitten in schweren Dingen machen konnte.
Zu den Spezialitäten dieses Sommers gehört die absurde Insomnie. Auch heute, wie gestern, wie vorgestern seit zwei Uhr nachgedacht… um 4 Uhr Cacao…
Gestern Nachmittag war ich mit Prof. Kaftan im Fexthal. In der „Alpenrose“ sind noch c. 30 Personen. Im Grunde geht es jetzt schnell zu Ende. Der Herbst — wir haben ein unzweifelhaftes September-Wetter: wenn dies nicht gar noch ein Euphemismus ist. Ich will dennoch bis Mitte Sept. auszuhalten suchen.
Mit den herzlichsten Wünschen für Ihr Wohlergehen und mit einem vielfachen Anlaß, Ihnen zu danken
Ihr ergebenster
Dr. Nietzsche.
— Sie dürfen sich darauf verlassen, daß das Buch wie ein Ei geschont und in einer vollkommen festen (gebundenen) enveloppe zu Ihnen zurückkehrt.
1095. An Heinrich Köselitz in Buchwald (Postkarte)
<Sils-Maria,> 24 Aug. 1888
Lieber Freund, ich sende eben den Epilog an Naumann ab, mit der Bestimmung, daß er zu einer letzten Revision Ihnen noch einmal vorgelegt wird. Es schien mir nützlich, ein paar Sachen deutlicher zu sagen (— es schien mir eine finesse, das Christenthum gegen W<agner> in Schutz zu nehmen —) Auch ist der allerletzte Satz jetzt stärker, — auch heiterer…
„Auf nach Creta!“ — ist ein berühmter Chor der schönen Helena. Ich sage Ihnen das aus Bosheit, nachdem Sie mich über die Schlußworte des Parsifal „unterrichtet“ haben. Diese „letzten Worte“ Wagner’s waren ja mein Leitmotiv…
Noch nichts Neues. Alle Welt reist ab. Alle Welt ist noch unterwegs. Von Mitte September an in Turin große Feste zur Hochzeit des Prinzen Amedeo: als Festoper „Tannhäuser“, deutsch, von Angelo Neumann (teatro regio, sonst nur Carneval-Theater)… Was läge mir daran, Sie in der Nähe, d. h. in Venedig zu haben!
Dankbar
Ihr Freund N.
1096. An Carl Fuchs in Danzig
Sils, Sonntag <26. August 1888>
Lieber Freund,
ein paar Tage Ruhe. Es gab auch ein Paar Tage Krankheit. Doch soll es gehn — und es geht. Dies Mal bin ich an der Reihe zu erzählen. — Zuerst von Dr. Brandes. Derselbe hat für mich nur gethan, was er seit 30 Jahren für alle unabhängigen Geister Europa’s thut — er hat mich seinen Landsleuten vorgestellt. Was ich in meinem Falle hoch zu ehren habe, das ist, daß er da seinen leidenschaftlichen Widerwillen gegen alle jetzigen Deutschen überwunden hat. Eben hat er wieder, nach dem Besuch des Kaisers, in „einer wahren Teufels-Laune“, wie die Kölnische Zeitung sagt, seine Verachtung gegen alles Deutsche ausgedrückt. Nun, man giebt es ihm reichlich zurück. In den gelehrten Kreisen genießt er des allerschlechtesten Rufs: mit ihm in Beziehung zu stehn gilt als entehrend (Grund genug, für mich, so wie ich bin, der Geschichte von den Winter-Vorlesungen die allerweiteste Publizität zu geben). Er gehört zu jenen internationalen Juden, die einen wahren Teufels-Muth im Leibe haben, — er hat auch im Norden Feinde über Feinde. Er ist mehrsprachig, hat sein bestes Auditorium in Rußland, kennt die gute geistige Welt Englands und Frankreichs auf’s Persönlichste — und ist ein Psycholog (was ihm die deutschen Gelehrten nicht verzeihen…) Sein größtes Werk, mehrmals erschienen, „die Hauptströmungen der Litteratur des neunzehnten Jahrhunderts“ ist immer noch das beste deutsch geschriebene Cultur-Buch über dieses große Objekt. — Zur Musik steht er, wie er mir im Winter schrieb, zu seinem Bedauern in keinem Verhältniß. —
Vor 4 Tagen hat uns Herr von Holten verlassen. Wir sind alle betrübt. Eine solche Vereinigung von Liebenswürdigkeit und Bosheit ist ein ganz selten Ding. Ein alter Abbé, mit den Launen eines großen Schauspielers. Dabei eine ganz merkwürdige Erfindsamkeit im Wohlthun, im Freude-machen — Jedermann hat eine Geschichte davon zu erzählen. Er muß in der That in den glücklichsten Verhältnissen sein, ich meine nicht des Beutels sondern des Herzens, denn es vergieng kein Tag, wo er nicht Etwas derart „verbrochen“ hätte. — Für mich hatte er sich folgende Artigkeit ausgedacht: er hatte sich eine Composition des einzigen Musikers, den ich heute gelten lasse, meines Freundes Peter Gast eingeübt und spielte sie mir privatissime sechs Mal auswendig vor, entzückt über „das liebenswürdige und geistreiche Werk“. — In rebus musicis et musicantibus vertrugen wir uns zum besten d. h. wir waren ohne jede Toleranz und secirten den „Einäugigen“ unter den Blinden… Was Riemann betrifft, so haben wir ernst genug darüber gesprochen, doch auch im gleichen Sinn, nämlich daß eine „phrasirte“ Ausgabe schlimmer ist als jede andere — nämlich als eine bösartige Schulmeisterei. Was „unrichtig“ ist, läßt sich in der That in zahllosen Fällen bestimmen, was richtig ist, fast nie. Die Illusion der „phraseurs“ in diesem Punkte schien uns außerordentlich. Die Grundvoraussetzung, auf die sie bauen, daß es überhaupt eine richtige d. h. Eine richtige Auslegung giebt, scheint mir psychologisch und erfahrungsmäßig falsch. Der Componist, im Zustande des Schaffens wie des Reproduzirens, sieht diesen feinen Schatten in einem bloß labilen Gleichgewicht — jeder Zufall, jede Erhöhung oder Ermattung des subjektiven Kraftgefühls faßt bald größere, bald nothwendig engere Kreise als Einheiten zusammen. Kurz, der alte Philologe sagt, aus der ganzen philologischen Erfahrung heraus: es giebt keine alleinseligmachende Interpretation, weder für Dichter, noch für Musiker (Ein Dichter ist absolut keine Autorität für den Sinn seiner Verse: man hat die wunderlichsten Beweise, wie flüssig und vag für sie der „Sinn“ ist —).
— Ein andrer Gesichtspunkt, über den wir sprachen (— es könnte sein, daß ich ihn auch schon einmal gegen Sie, lieber Freund, berührte, vor ein paar Jahren). Dieses Beseelen, Beleben der kleinsten Redetheile der Musik (— ich möchte, Sie und Riemann wendeten die Worte an, die Jeder aus der Rhetorik kennt: Periode (Satz), Kolon, Komma, je nach der Größe, insgleichen Fragesatz, Conditionalsatz, Imperativ — denn die Phrasirungslehre ist schlechterdings das, was für Prosa und Poesie die Interpunktionslehre ist), — also: wir betrachteten diese Beseelung und Belebung der kleinsten Theile, wie sie in der Musik zur Praxis Wagner’s gehört und von da aus zu einem fast herrschenden Vortrags-System (selbst für Schauspieler und Sänger) geworden, mit verwandten Erscheinungen in anderen Künsten: es ist ein typisches Verfalls-Symptom, ein Beweis dafür, daß sich das Leben aus dem Ganzen zurückgezogen hat und im Kleinsten luxuriirt. Die „Phrasirung“ wäre demnach die Symptomatik eines Niedergangs der organisirenden Kraft: anders ausgedrückt: der Unfähigkeit, große Verhältnisse noch rhythmisch zu überspannen — eine Entartungsform des Rhythmischen… Dies klingt beinahe paradox. Die ersten und leidenschaftlichsten Förderer der rhythmischen Präzision und Eindeutigkeit wären nicht nur Folgeerscheinungen der rhythmischen décadence, sondern auch deren stärkste und erfolgreichste Werkzeuge! In dem Maße, in dem sich das Auge für die rhythmische Einzelform („Phrase“) einstellt, wird es myops für die weiten, langen, großen Formen: genau wie in der Architektur des Berninismus. Eine Veränderung der Optik des Musikers — die ist überall im Werke: nicht nur in der rhythmischen Überlebendigkeit des Kleinsten, unsere Genußfähigkeit begrenzt sich immer mehr auf die delikaten kleinen sublimen Dinge… folglich macht man nur auch noch solche — —
Moral: Sie sind mit Riemann ganz und gar auf dem „rechten Wege“ — dem einzigen nämlich den es noch giebt…
Wir besprachen auch einen Punkt, der Sie besonders angeht. Von Holten meinte, mit solchen Phrasirungs-Concerten, wie Sie sie veranstalten, werde absolut nichts erreicht. Es sei da die Illusion des Vortragenden vollkommen. Man höre eben gar nicht, inwiefern der Vortrag von jedem früher gehörten abweiche: selbst dem professionellen Klavierspieler sei durchaus nicht mit der wünschenswerthen Deutlichkeit (einzelne Fälle, wie billig, ausgenommen) die von ihm gewohnte und festgehaltene Interpretation dergestalt Bewußtseins-Sache, um in jedem Augenblick eine Verschiedenheit zu spüren. Solche Concerte überzeugten absolut von nichts, weil sie gar keinen Unterschied zum Bewußtsein brächten. Ein Anderes sei es, natürlich auch nur in Hinsicht auf ganz raffinirte Musiker, verschiedene Vortrags-Arten dicht hinter einander zu stellen; was er leugne, sei, daß die Evidenz des Richtigen sich damit beweisen lasse. Sie möchten nur abstimmen lassen…
Alles, was Sie mir schreiben, bestärkt mich in dem Wunsche, daß Danzig delenda est, — Bonn: das klingt viel heiterer… Ich nehme im Stillen an, daß daselbst noch als Kapellmeister der gutartige Schumannianer Brambach fungirt (— ich habe unter ihm mit in Köln in dem großen Gürzenich-Musikfeste gesungen — z. B. Schumann’s Faust —). Es lebt viel gute Welt daselbst, auch Ausländerinnen. Die klimatische Differenz ist unbeschreiblich günstig… Die gesamte Welt-Färbung verändert sich am Rhein im „lieben Gemüth“ — crede experto —. Zuletzt giebt es wirklich ein rheinisches Musik-Leben. — Sie haben einmal in Naumburg meinen Freund Krug gesehn: derselbe, jetzt ein großes Thier, das 80 Angestellte unter sich hat, Justizrath und Direktor der linksrheinischen Eisenbahn, Sitz Köln, hat ganz vor Kurzem in Köln einen Wagner-Verein großen Stils in’s Leben gerufen: er ist dessen Präsident. —
Mit vielen herzlichen Wünschen und für alles Nicht-Willkommne dieses Briefs um Verzeihung bittend
Ihr ergebenster
Nietzsche
NB. bis 14. Sept. Sils. Am 15. Abreise — —
— Sie haben hoffentlich mein „litterarisches Recept“ nicht ernst genommen?? — Ich mache in puncto „Publizität“ und „Ruhm“ nichts als Bosheiten. — Einige werden posthum geboren. —
1097. An Carl Fuchs in Danzig
<Sils-Maria, vermutlich Ende August 1888>
Zur Auseinanderhaltung der antiken Rhythmik („Zeit-Rhythmik“) von der barbarischen (“Affekt-Rhythmik“).
1. Daß es außer dem Wortaccent noch einen andern Accent gegeben habe, dafür fehlt bei den Rhythmikern (zb. Aristoxenos) jedes Zeugniß, jede Definition, selbst ein dazu gehöriges Wort. — Arsis und Thesis wird erst seit Bentley in dem fälschlichen Sinne der modernen Rhythmik verstanden — die Definitionen, die die Alten von diesen Worten geben, sind völlig unzweideutig.
2. Man warf, in Athen sowohl, wie in Rom, den Rednern, selbst den berühmtesten vor, Verse unversehens gesprochen zu haben. Es werden zahlreiche Beispiele solcher entschlüpften Verse citirt. Der Vorwurf ist, nach unsrer üblichen Art, griechische und lateinische Verse zu sprechen, einfach unbegreiflich (— erst der rhythmische Ictus macht bei uns aus einer Abfolge von Silben einen Vers: aber gerade das ganz gewöhnliche Sprechen enthielt, nach antikem Unheil, sehr leicht vollkommene Verse —)
3. Nach ausdrücklichen Zeugnissen war es nicht möglich, den Rhythmus von gesprochenen lyrischen Versen zu hören, wenn nicht mit Taktschlägen die größeren Zeit-Einheiten dem Gefühle zum Bewußtsein gebracht wurden. So lange der Tanz begleitete (— und die antike Rhythmik ist nicht aus der Musik, sondern aus dem Tanz her gewachsen), sah man die rhythmischen Einheiten mit Augen.
4. Es giebt Fälle bei Homer, wo eine kurze Silbe ungewöhnlicher Weise den Anfang eines Daktylus macht. Man nimmt philologischer Seits an, daß in solchen Fällen der rhythmische Ictus die Kraft habe, den Zeit-Mangel auszugleichen. Bei den antiken Philologen, den großen Alexandrinern, die ich eigens auf diesen Punkt hin befragt habe, findet sich nicht die leiseste Spur einer solchen Rechtfertigung der kurzen Silbe (dagegen fünf andere).
5. Es tritt sowohl auf griechischem als auf lateinischem Boden ein Zeitpunkt ein, wo die nordischen Lied-Rhythmen Herr werden über die antiken rhythmischen Instinkte. Unschätzbares Material dafür in dem Hauptwerk über christlich-griechische Hymnologie (aus einem südfranzösischen gelehrten Kloster hervorgegangen). Von dem Augenblick an, wo unsre Art rhythmischer Accent in den antiken Vers eindringt, ist jedes Mal die Sprache verloren: sofort geht der Wortaccent und die Unterscheidung von langen und kurzen Silben flöten. Es ist ein Schritt in die Bildung barbarisirender Idiome.
6. Endlich die Hauptsache. Die beiden Arten der Rhythmik sind conträr in der ursprünglichsten Absicht und Herkunft. Unsere barbarische (oder germanische) Rhythmik versteht unter Rhythmus die Aufeinanderfolge von gleich starken Affekt-Steigerungen, getrennt durch Senkungen. Das giebt unsere älteste Form der Poesie: drei Silben, jede einen Hauptbegriff ausdrückend, drei bedeutungsvolle Schläge gleichsam an das Sensorium des Affekts — das bildet unser ältestes Versmaß. (In unsrer Sprache hat im Durchschnitt die bedeutungsschwerste Silbe, die Affekt-dominirende Silbe den Accent, grundverschieden von den antiken Sprachen.) Unser Rhythmus ist ein Ausdrucksmittel des Affekts: der antike Rhythmus, der Zeit-Rhythmus, hat umgekehrt die Aufgabe, den Affekt zu beherrschen und bis zu einem gewissen Grade zu eliminiren. Der Vortrag des antiken Rhapsoden war extrem leidenschaftlich (— man findet im Jon Platon’s eine starke Schilderung der Gebärden, der Thränen u.s.w.): das Zeit-Gleichmaß wurde wie eine Art Oel auf den Wogen empfunden. Rhythmus im antiken Verstande ist, moralisch und ästhetisch, der Zügel, der der Leidenschaft angelegt wird.
In summa: unsre Art Rhythmik gehört in die Pathologie, die antike zum „Ethos“…
Herrn Dr. Carl Fuchs zu freundlicher Erwägung anheimgegeben.
F. N.
1098. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Sils den 30. August 1888
Meine liebe Mutter,
mein Wunsch ist, daß dieser Brief spätestens am 2. September in Deine Hände kommt, nicht gerade zur Sedanfeier, sondern weil an diesem Tage es zehn Jahre wird, daß Deine vortreffliche Alwine bei Dir ist. In unsrer Zeit, wo Alles zusammen und wieder auseinander läuft, ist ein solcher Zeitraum ein halbes Wunder; und es giebt wenig Dinge, um die Du mehr beneidet werden kannst (es müßte denn Dein Sohn sein —) Gerade bei Deiner Einsamkeit, wo Deine zwei Kinder über die ganze Erde zerstreut sind, brauchst Du, um wirklich bei Dir zu Hause zu sein, ein solches gutes und treues Wesen. Der Übelstand ist, daß Du nicht leicht einen Ersatz finden wirst, falls er einmal nöthig sein sollte. Bitte, sage Alwinen auch in meinem Namen meinen Dank und meine Anerkennung: ich denke, daß alles Gute auf dieser Erde seinen Lohn findet. —
Wir sind gerade hier mit einem herrlichen Wetter beschenkt und genießen reichlich, was wir durch lange Geduld verdient haben. Augenblicklich hat mein Hôtel die Auszeichnung, den über die Maaßen einflußreichen Herrn Bädecker aus Leipzig zu Gaste zu haben; seine Frau mit Töchterchen, sehr artig immer gegen mich, war den ganzen Sommer da. Ich bin wieder vollkommen in Thätigkeit, — hoffentlich geht es noch eine Weile, da eine gut und lange vorbereitete Arbeit, die diesen Sommer abgethan werden sollte, wörtlich „ins Wasser“ gefallen ist. Dies war die unersetzbare Einbuße von Seiten dieses entsetzlichen Sommers. —
Bis zum 15. September gedenke ich Stand zu halten. An diesem Tage Abreise, wieder nach Turin, das mir vom Frühling her bestens im Gedächtniß geblieben ist. Dort findet in der zweiten Hälfte des September eine ganz große Fürsten-Hochzeit statt, vom Prinzen Amedeo. Als Fest-Oper ist Tannhäuser gewählt (deutsch wohlverstanden, die Gesellschaft des Angelo Neumann —) Herr Köselitz ist bei seinen Freunden, Baron von Krause’s, auf deren Gütern in Hinterpommern, einer sehr liebenswürdigen Einladung folgend. Freund Seydlitz schrieb gestern, daß ihm der Kaiser von Japan einen artigen Dankesbrief für seine Verdienste um Ausbreitung des japanesischen Geschmacks durch seinen Botschafter überreicht habe. — Eine kleine Sendung wird noch nöthig sein: kein Zwieback, aber ein Schinken von gleicher Größe und Qualität, wie die letzten (die ich delikat finde) Dann bitte ich nochmals um ein Gros Sönneckens Rundschriftfeder Nr. 5, von wegen der Abreise nach dem Süden. Insgleichen suche mir doch einen unzerbrechbaren Kamm aus (etwas recht Feines!); es fehlt mir übrigens auch ein Staubkamm (eng, aber sehr scharf muß er sein —) — Mit dem Thee hatte ich meinen Spaaß. Diesen Sommer verfolgt mich der Souchong. Ich habe 4 Male Thee kommen lassen und immer anderen bestellt (weil Souchong zu schwach und im Geschmack nicht streng genug für mich ist) aber man hat mir 4 Mal Souchong geschickt! Zuletzt gar noch die Mutter! Was Deinem Sohn gut thut, ist ein feiner Congo (aber bestellt an einem Hauptgeschäft: die kleinen Händler unterscheiden selbst nicht die Sorten)
Mit dem herzlichsten Gruße
Dein altes Geschöpf
1099. Vermutlich an Carl Spitteler in Basel (Entwurf)
<Sils-Maria, verm. Anfang September 1888>
Spitteler.
Werther Herr.
Sie unterschätzen mich ganz und gar. Ich habe es bisher durchaus nicht an Humanität gegen meine Zeitgenossen (— die Zeit: sonst habe ich nichts mit ihnen gemein) fehlen lassen. — Ich könnte Ihnen 2 Fälle erzählen, die Sie verstehen würden. — Ihr Freund W<idmann> hat einmal über ein Buch von mir die unanständigsten Dummheiten, die es nur geben kann, drucken lassen: ich machte mir den Scherz, ihm zu sagen „er habe mich verstanden“ … er hats geglaubt.
Was Hr. Sp<itteler> betrifft, so hat er einmal eine wahre Wuth darüber ausgedrückt, Schriften von mir lesen zu müssen; er hat eine Schrift, die ihm mein Verleger anbot, sogar abgewiesen („Jenseits von Gut und Böse“) Bisher habe ich geglaubt, daß eine Creatur dieser Zeit sich eine unverdiente Ehre anthut, wenn sie ein Buch von mir in die Hand nimmt.
Bisher war ich ebenfalls gewohnt, daß, wer in meine Bücher kam, die Schuhe auszog… Die Herren Widmann und Spitteler haben nicht einmal die Stiefeln ausgezogen — und was für Stiefeln!…
Ich habe mich über die Deutschen in puncto Verständniß lustig gemacht: zweifeln Sie nicht daran, daß ich auch über schweizerisches Hornvieh meine Erfahrungen habe.
N.
1099a. An Cosima Wagner in Bayreuth (Entwurf)
<Sils-Maria, verm. Anfang September 1888>
Antwort auf einen durch Artigkeit sich auszeichnenden Brief der Wittwe Wagner‘s
Sie erweisen mir die Ehre, mich auf Grund meiner Schrift, die die erste Aufklärung über W<agner> gab, öffentlich anzugreifen, — Sie machen selbst den Versuch, auch über mich aufzuklären. Ich bekenne, warum ich im Nachtheil bin: ich habe zuviel Recht, zu viel Vernunft, zu viel Sonne auf meiner Seite, als daß mir ein Kampf unter solchen Umständen erlaubt wäre. Wer kennt mich? — Frau Cosima am allerletzten. Wer kennt Wagner? Niemand außer mir, hinzugenommen noch Frau C<osima> welche weiß daß ich Recht habe… sie weiß, daß der Gegner <Recht> hat — ich gebe Ihnen auf diese Position hin Alles zu. Unter solchen Umständen verliert das Weib seine Anmuth, beinahe seine Vernunft… Man hat damit nicht Unrecht, daß man schweigt: namentlich wenn man Unrecht hat…
Si tacuisses, Cosima mansisses…
Mit dem Ausdruck
einer den Umständen angemessenen
Theilnahme
Sie wissen sehr gut, wie sehr ich den Einfluß kenne den Sie auf W<agner> ausgeübt haben — Sie wissen noch besser, wie sehr ich diesen Einfluß verachte… Ich habe in dem Augenblick Ihnen und Wagner den Rücken gekehrt, als der Schwindel los ging…
Wenn die Tochter Liszt in Dingen der deutschen Cultur, oder gar der Religion mitreden will, so habe ich kein Erbarmen…
1100. An Carl Fuchs in Danzig (Entwurf)
<Sils-Maria, September 1888>
Werther Freund, Sie sollten, endlich! erwägen, daß Phrasirung nichts ist, was mich anginge: und daß ich es, aus Theilnahme gegen Sie und aus einer gewissen angewöhnten Objektivität gegen unangenehme Dinge, unterlassen habe, was jeder andere an meiner Stelle längst gethan hätte: nämlich zu sagen „Hole Sie der Teufel!“ Jetzt aber bin ich einfach in der Nothwehr. Ich wehre mich <mit> Händen und Füßen dagegen, daß mich Jemand mit Briefen überfällt. Was hat meine etwas ernsthafter ausgefüllte Existenz mit solchen absurden Fragen wie „Phrasirung“ zu thun!
Jeder, der den geringsten Begriff von der tiefen Sammlung und Concentration hat, die die Entscheidung über die höchsten Fragen von mir verlangt, scheut sich mir zu schreiben. Ich habe längst keinen Briefwechsel mehr, außer mit meiner Mutter und mit meinem Freunde Gast — mit letzterem genau aus dem Grunde, aus dem ich mit Ihnen meinen Verkehr abzubrechen wünsche. Ihr dicker Brief wird, wie so ein dicker Riese mich noch eine Zeitlang durchs Leben begleiten — unaufgebrochen: des dürfen Sie versichert sein; — — —
1101. An Carl Fuchs in Danzig
Sils, den 6. Sept. 1888
Lieber Freund,
in den nächsten Tagen verlasse ich Sils; da ich noch für lange tiefe Sammlung nöthig habe, so verschwinde ich wieder einmal, meiner Mönchs-praxis gemäß, für Besuche jeder Art — eingerechnet Briefe. Vor mir liegt bereits ein Pack ungelesener Briefe: ich fürchte, es sind zwei von Ihnen darunter. — Zuletzt verberge ich Ihnen meinen Verdacht nicht: sollten dieselben nicht von der heiligen „Phrasierung“ handeln? In diesem Falle wäre alles Ernstes einmal zu erwägen, ob sie nicht falsch adressirt sind? Briefe über „Phrasierung“ an den Philosophen der Umwerthung aller Werthe!… In Nizza will man mich durchaus für Mars-Bewohner interessiren; man hat dort die stärksten Teleskope Europa’s für dies Gestirn. Frage: wer steht mir eigentlich näher, die Mars-Bewohner oder die Phrasierung? — Ich möchte gerne fortfahren, mich für Dr. Fuchs zu interessiren, doch mit Ausschluß seiner Marsbewohner…
Eine kleine Schrift, mit dem Titel
Der Fall Wagner
Ein Musikanten-Problem.
wird im Oktober Ihnen zugehen. —
Mit einem herzlichen Gruß
der Philosoph von
Sils-Maria.
NB. man sucht mich hier in Sils für die größte Forelle zu interessiren, die je gefangen worden ist, 30 Pfund schwer; wer weiß, in diesem Falle, eine gute sauce Mayonaise vorausgesetzt…
1102. An Meta von Salis auf Marschlins
Sils den 7. Sept. 1888
Verehrtes Fräulein,
Hiermit sende ich, zugleich mit meinem verbindlichsten Danke, das Buch wieder an Sie zurück. Ich habe es in einen festen Carton gesteckt: mein Wunsch ist, daß die Post keine Brutalitäten begeht.
Inzwischen war ich sehr fleißig, — bis zu dem Grade, daß ich Grund habe, den Seufzer meines letzten Briefs über den „ins Wasser gefallenen Sommer“ zu widerrufen. Es ist mir sogar etwas mehr gelungen, Etwas, das ich mir nicht zugetraut hatte… Die Folge war allerdings, daß mein Leben in den letzten Wochen in einige Unordnung gerieth. Ich stand mehrere Male nachts um 2 auf, „vom Geist getrieben“ und schrieb nieder, was mir vorher durch den Kopf gegangen war. Dann hörte ich wohl, wie mein Hauswirth, Herr Durisch, vorsichtig die Hausthür öffnete und zur Gemsen-Jagd davon schlich. Wer weiß! vielleicht war ich auch auf der Gemsenjagd…
Der dritte September war ein sehr merkwürdiger Tag. Früh schrieb ich die Vorrede zu meiner Umwerthung aller Werthe, die stolzeste Vorrede, die vielleicht bisher geschrieben worden ist. Nachher gieng ich hinaus — und siehe da! der schönste Tag, den ich im Engadin gesehn habe, — eine Leuchtkraft aller Farben, ein Blau auf See und Himmel, eine Klarheit der Luft, vollkommen unerhört… Es war nicht nur mein Urtheil… Die Berge, bis tief hinunter in Weiß — denn wir hatten ernsthafte Wintertage — erhöhten jedenfalls die Intensität des Lichtes. —
Dann gieng ich zu Tisch und fand, neben meinem Couvert, Briefe, darunter auch einen kurios dick gerathenen Brief von Ihnen…
Nachmittags lief ich um den ganzen See von Silvaplana herum: der Tag wird mir wahrscheinlich im Gedächtniß bleiben. —
Am 15. September gehe ich fort, nach Turin; was den Winter betrifft, so wäre doch, aus Gründen tiefer Sammlung, wie ich sie nöthig habe, der Versuch mit Corsica ein wenig risquirt… Doch wer weiß —
Im nächsten Jahre werde ich mich dazu entschließen, meine Umwerthung aller Werthe, das unabhängigste Buch, das es giebt, in Druck zu geben… Nicht ohne große Bedenken! Das erste Buch heißt zum Beispiel der Antichrist.
Mit dem herzlichsten Gruße und einer vollkommenen Zustimmung zu Ihrem Urtheile über Zürich, gar nicht zu reden von den Wasser-Strolchen,
bleibe ich dankbarst ergeben
Ihr
Friedrich Nietzsche
1103. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
<Sils, den 7. Sept. 1888>
Sehr geehrter Herr Verleger,
dies Mal werde ich Ihnen eine Überraschung machen. Sie denken gewiß, daß wir mit Drucken fertig sind: aber siehe da! Soeben geht das allersauberste Ms. an Sie ab, das ich je Ihnen gesandt habe. Es handelt sich um eine Schrift, welche in Hinsicht auf Ausstattung vollkommen der Zwilling zu dem „Fall Wagner“ bilden soll. Ihr Titel ist: Müssiggang eines Psychologen. Ich habe es nöthig, sie jetzt noch herauszugeben, weil wir Ende nächsten Jahres wahrscheinlich daran gehen müssen, mein Hauptwerk die Umwerthung aller Werthe zu drucken. Da dasselbe einen sehr strengen und ernsten Charakter hat, so kann ich ihm nichts Heiteres und Anmuthiges hinten nach schicken. Andrerseits muß ein Zeitraum zwischen meiner letzten Publikation und jenem ernsten Werke liegen. Auch <mö>chte ich nicht, daß es unmittelbar auf die übermüthige farce gegen Wagner folgte. —
Diese Schrift, deren Umfang nicht beträchtlich ist, kann vielleicht auch in dem Sinne wirken, die Ohren etwas für mich aufzumachen: so daß jenes Hauptwerk nicht wieder solchem absurden Stillschweigen begegnet wie mein Zarathustra. — Also in Allem gleich wie die Schrift über Wagner: auch gleiche Zahl der Exemplare.
Ich verlasse am 15. Sept. Sils und gehe wieder nach Turin. Von dort aus melde ich Ihnen meine Adresse. Es steht nichts entgegen, daß wir sofort wieder mit dem Druck beginnen: und in Anbetracht, daß ich für diesen Winter eine tiefe Sammlung nöthig habe, wäre es mir sogar sehr wünschenswerth, wenn diesen wenigen Bogen sobald wie möglich erledigt würden. — Nachsendungen von Ms. haben Sie nicht zu fürchten. Ich war die letzten Wochen in einem wesentlich besseren Zustand als den ganzen Sommer. —
Ich ersuche Sie, Freiexemplare vom „Fall Wagner“ an folgende Adressen zu senden (mit der Bemerkung von Ihrer Hand: Im Auftrag des Herrn Verfassers
C. G. Naumann
Herrn Baron Carl von Gersdorff, Ritter usw.
auf Ostrichen bei Seidenberg,
Schlesien
Herrn Baron R. von Seydlitz, München, Heßstr. 3
Herrn Dr. Brandes, Kopenhagen, St. Anne-Platz 24
(drei Exemplare)
Herrn Professor Dr. Jakob Burckhardt, Basel
Herrn Professor Dr. Overbeck, Basel
Seevogelstr.
Herrn Dr. Fuchs, Danzig
Frau Dr. Elisabeth Förster
Colonie Neu-Germanien
Nueva-Germania
Paraguay (Südamerika)
(dieser Brief ist zu recommandiren)
Herrn Professor Dr Deussen, Berlin W.
(2 Exempl.) Kurfürstendamm 142
Fräulein Meta von Salis, Doktorin der Philosophie
Marschlins bei Landquart (Schweiz)
Herrn Heinrich Köselitz 2 Exempl.
Herrn von Holten, Professor der Musik
Hamburg
Ich erwarte jeden Tag die Ankunft, sei es von Exemplaren, sei es wenigstens von Aushängebogen. Lassen Sie sich doch von E. W. Fritzsch die Musikzeitungen ausschreiben, denen wir Exemplare schicken müssen. Kein Exemplar, bitte, an den „Bund“. — Dagegen eins an die Adresse:
Herrn Ferdinand Avenarius
Redaktion des „Kunstwart“
Dresden, Stephanienstr. 1
Hochachtungsvoll
Ihr ergebenster
Prof. Dr Nietzsche.
1104. An Carl Fuchs in Danzig
Sils den 9. Sept. 1888.
Lieber Freund,
ich komme noch nicht so bald fort als ich vor zwei Tagen noch glauben durfte; einige Verlags- und Druck-Fragen wollen durchaus noch hier abgewickelt resp. abgewartet sein. Der nächste, ziemlich wahrscheinliche Termin ist der 16. September. — Heute bin ich in einer unvorhergesehenen freien Verfassung der „lieben Seele“ — und Sie sollen’s sofort zu spüren bekommen. Die letzten Wochen war ich auf die seltsamste Art inspirirt: so daß Einiges, was ich mir nicht zugetraut hatte, wie unbewußt eines Morgens fertig war. Dies gab manche Unordnung und Ausnahme in meiner Lebensweise: ich stand (oder sprang) öfter Nachts um 2 auf, um „vom Geist getrieben“ Etwas hinzuwerfen. Dann hörte ich wohl die Hausthür gehn: mein Wirth schlich auf die Gemsen-Jagd. Wer von uns Beiden war mehr auf der Gemsen-Jagd? — Unglaublich, aber wahr: ich habe heute morgen das sorgfältigste, sauberste und ausgearbeitetste Manuscript, das ich je verfaßt habe, an die Druckerei geschickt — ich mag gar nicht nachzählen, in wie wenig Tagen es zu Stande gekommen. Der Titel ist liebenswürdig genug „Müssiggang eines Psychologen“ — der Inhalt vom Allerschlimmsten und Radikalsten, obwohl unter viele finesses und Milderungen versteckt. Es ist eine vollkommene Gesammt-Einführung in meine Philosophie: — das Nächste, was dann kommt, ist die „Umwerthung aller Werthe“ (deren erstes Buch beinahe fertig ist) Sehen wir zu, bis zu welchem Grade eigentlich „Denkfreiheit“ heute möglich ist: ich habe einen dunklen Begriff, darauf hin in schönster Form verfolgt zu werden.
Moral: ich habe Zeit bekommen, zwei Briefe zu lesen — und aufrichtig! mit Entzücken. Der Humor der Sache ist, daß ich eben Riemann öffentlich gelobt habe: und damit Sie meine intimere Gesinnung verstehen, schreibe ich Ihnen ein paar Worte des Herrn Gast ab, die er, beim Correctur-lesen der betreffenden Worte, mir geschrieben hat.
„Riemann’s metrische Studien, angeregt und hervorgegangen aus Wagner’s Vortrags-Propaganda, sind vielleicht noch als Wagnern gefährlich werdende Waffe zu bezeichnen: wie Sie einmal (Morgenröthe S. 184) die historische Wissenschaft als Tochter und schließliche Besiegerin der Romantik darstellten. Ich möchte wenigstens glauben, daß wenn sie die Schärfung der Empfänglichkeit für die musikalische Periode einige Jahrzehnte fortsetzen, sie dann auch den Sinn für den großen Parallelismus der Perioden und endlich für den Bauplan einer Composition wieder erwecken werden, wie er um die Wende dieses Jahrhunderts wach war; und ein Gesetz dazu!“ — Sie werden mir gewiß erlauben, daß ich Ihre ganz ausgezeichnete oratio pro domo (und arte) meinem Freunde zu lesen gebe? Er ist im Augenblick gar nicht zu weit von Ihnen: von einer vornehmen Familie zu Gast auf deren Güter in Hinterpommern geladen (— Venediger Freundschaft; sehr schönes Mädchen usw) Vielleicht geben Ihnen die abgeschriebenen Worte selbst einen Begriff von unsrem sehr purificirten gustus. Ich bin eben mit Bülow in Beziehung getreten, zum Zweck, eine komische italiänische Oper des Herrn Gast („der Löwe von Venedig“) der Menagerie Pollini zu überantworten. Der Öffentlichkeit ist fast Nichts bisher übergeben; es liegt nicht gerade in den Wünschen meines Freundes, gerade jetzt schon, mitten in einer Geschmacks-Verwirrung, auf sich aufmerksam zu machen. Eine tiefe Stille, ein Für-sich-sein im Besseren ist hundert Mal wichtiger als „bekannt“ d. h. mißverstanden werden. — Im Übrigen genau mein Fall — und meine Praxis…
Aus meinem „Pamphlet“ werden Sie von meinem Musik-Pessimismus einen gehörigen Begriff bekommen; und auch, in diesem besondren Falle, bin ich noch durch gewisse sehr deutliche und unangenehme Erinnerungen an meine Intimitäts-Zeit mit Wagner bestimmt. Eine Aufführung der Zauberflöten-Ouvertüre in Mannheim (— wo ich die Ehre hatte, Frau Cosima bei ihrem ersten Auftreten vor der „Welt“ als cavaliere zu führen) war durch die „Überlebendigkeit“ um jeden Preis, durch wahre Excesse von Contrasten eine Art Typus von „Berninismus“ im Vortrag. —
Ich bekenne zum Schluß, daß es mir außerordentliches Vergnügen macht, einmal gegen Sie, lieber Freund, ganz entschieden Unrecht gehabt und selbst gethan zu haben. Dies verbessert unsre Beziehungen unvergleichlich: glauben Sie dies dem „müßiggängerischen Psychologen“…
Der Himmel weiß — Sie sind ein Künstler und kein Schulmeister! — ich weiß es auch…
Treulich Ihr N.
Nochmals gesagt: für die nächste Woche und vielleicht noch länger bin ich wieder menschenfreundlich…
1105. An Heinrich Köselitz in Buchwald
Sils, den 12. Sept. 1888 Mittwoch
Lieber Freund,
noch weiß ich Ihre Adresse nicht, aber in Anbetracht, daß ich Ihnen noch vor meiner Abreise schreiben möchte, will ich annehmen, daß auch ein nach Annaberg gesandter Brief in Ihre Hände kommt. Sonntag soll es fortgehen, nach Turin, versuchsweise: daß der Schluß meines Silser Aufenthaltes mir noch die schwerste Geduldsprobe auferlegen würde, habe ich mir nicht träumen <lassen>. Ein unerhörtes Hochwasser-Wetter seit einer Woche; Alles überschwemmt; Tag und Nacht strömt es, mit Schnee untermischt. In 4 Tagen allein sind 220 millimeter Niederschlag gefallen (während der Monats-Durchschnitt hier 80 mm zu sein pflegt) Meine Gesundheit ist dabei nicht zum Besten weggekommen: ich schreibe auch augenblicklich etwas mit Kopfschmerz.
Ich sende dieser Tage noch ein Paket an Sie ab, lauter Drucksachen, darunter, mit bestem Dank, das Heft Bayreuther Blätter. Das Andere sind Fuchsiana: eine Anzahl Recensionen und etwas von seinen sehr merkwürdigen Briefen (— darunter einer, der einen ausgezeichnet guten Begriff von Riemann’s ganzer Unternehmung giebt: Sie werden finden, daß F<uchs> von ihm Dasselbe erhofft, was Sie erhoffen — eine Stärkung und Wiedergewinnung des großen rhythmischen Sinns)
Eben höre ich, daß von Hans von Bülow eine Schrift erscheinen wird „Alt- und Neu-Wagnerianer“ betitelt. Das Zusammentreffen mit meinem Pamphlet ist curios. Sonst warte ich immer noch auf eine Antwort von ihm. —
Es giebt noch etwas Curioses zu melden. Ich habe vor wenig Tagen Herrn C. G. Naumann wieder ein Manuscript zugesandt, das den Titel führt „Müssiggang eines Psychologen“. Unter diesem harmlosen Titel verbirgt sich eine sehr kühn und präcis hingeworfne Zusammenfassung meiner wesentlichsten philosophischen Heterodoxien: so daß die Schrift als einweihend und appetitmachend für meine Umwerthung der Werthe (deren erstes Buch beinahe in der Ausarbeitung fertig ist) dienen kann. Es ist viel darin von Urtheilen über Gegenwärtiges, über Denker, Schriftsteller usw. Der letzte Abschnitt heißt Streifzüge eines Unzeitgemäßen; der erste Sprüche und Pfeile. Im Ganzen sehr heiter, trotz sehr strengem Urtheile (— es scheint mir, unter uns, daß ich erst in diesem Jahre deutsch — will sagen französisch — schreiben gelernt habe). Capitel, außer den genannten: das Problem des Sokrates; die „Vernunft“ in der Philosophie. Wie die „wahre“ Welt endlich zur Fabel wurde. Moral als Widernatur. Die vier großen Irrthümer. Die „Verbesserer“ der Menschheit. Es sind wirkliche psychologica und vom Unbekanntesten und Feinsten. (— Den Deutschen werden manche Wahrheiten gesagt, insbesondere wird meine geringe Meinung über die reichsdeutsche Geistigkeit begründet)
Diese Schrift, in Allem als Zwilling zum „Fall Wagner“ auftretend (wenn auch etwa doppelt so stark) muß möglichst bald heraus: weil ich eine Zwischenzeit brauche bis zur Veröffentlichung der Umwerthung (— diesen mit einem rigorosen Ernst und hundert Meilen weit abseits von allen Toleranzen und Liebenswürdigkeiten)
Meine Hoffnung ist, daß dieser Brief Sie in einer angenehmen Ungewohntheit von Existenz vorfindet. Ein paar Worte von Ihnen werden mir in Torino (ferma in posta) sehr willkommen sein.
Treulich und dankbar
Ihr Freund
Nietzsche.
— Was macht inzwischen das Quartett?
1106. An Meta von Salis auf Marschlins (Postkarte)
<Sils-Maria,> Mittwoch 12. Sept. 1888
Verehrtes Fräulein
ein letzter Gruß aus Sils, zugleich um Ihnen von unsrer Wassernoth zu erzählen. Die letzte Woche war die größte Geduldsprobe dieses Sommers (— was viel sagen will!) es goß Tag und Nacht in Strömen, zeitweilig mit Schnee untermischt. Die Seen sind übervoll, hier und da bis auf die Straße hinauf. Die Halbinsel ist eine ganze Insel; das Thal von Samaden stellt einen großen See dar. Eben versuchte ich den Waldweg an der Säge vorbei: er hatte einen Reiz mehr — man gieng längere Zeit direkt am Wasser (— der See erschien viel größer). Die Eisenbahn Colico-Chiavenna soll zum Theil durch das Wasser entfremdet sein. — Hr. Caviezel berechnete uns das Quantum Niederschlag der letzten 4 Tage auf 220 Millimet. (während das normale Quantum eines ganzen Monats 80 ist) Sonntag Abreise nach Torino. — Meine ergebensten Empfehlungen und Wünsche
Dr. N.
1107. An Georg Brandes in Kopenhagen
Sils-Maria d. 13. Sept. 1888.
Verehrter Herr,
Hiermit mache ich mir ein wahres Vergnügen — nämlich mich Ihnen wieder in’s Gedächtniß zurück zu rufen: und zwar durch Übersendung einer kleinen boshaften, aber trotzdem sehr ernst gemeinten Schrift, die noch in den guten Tagen von Turin entstanden ist. Inzwischen nämlich gab es böse Tage in Überfluß: und einen solchen Niedergang von Gesundheit, Muth und „Willen zum Leben“, Schopenhauerisch geredet, daß mir jene kleine Frühlings-Idylle kaum mehr glaublich erschien. Zum Glück besaß ich noch ein Dokument daraus den „Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem.“ Böse Zungen wollen lesen „der Fall Wagner’s“…
So sehr und mit so guten Gründen Sie sich auch gegen Musik vertheidigen mögen (— die zudringlichste aller Musen), so sehen Sie sich doch einmal dies Stück Musiker-Psychologie an. Sie sind, verehrter Herr Cosmopoliticus, viel zu europäisch gesinnt, um nicht dabei hundert Mal mehr zu hören, als meine sogenannten Landsleute, die „musikalischen“ Deutschen…
Zuletzt bin ich, in diesem Falle, Kenner in rebus et personis — und, glücklicher Weise, bis zu dem Grade Musiker von Instinkt, daß mir über die hier vorliegende letzte Werthfrage von der Musik aus das Problem zugänglich, löslich erscheint.
Im Grunde ist diesen Schrift beinahe französisch geschrieben, — es möchte leichter sein, sie ins Französische zu übersetzen als ins Deutsche…
Würden Sie mir noch ein Paar russische oder französische Adressen geben können, in deren Fall es Vernunft hätte, die Schrift mitzutheilen?
Ein paar Monate später giebt es etwas Philosophisches zu erwarten: unter dem sehr wohlwollenden Titel Müssiggang eines Psychologen sage ich aller Welt Artigkeiten und Unartigkeiten — eingerechnet dieser geistreichen Nation, den Deutschen —
Dies Alles sind in der Hauptsache nur Erholungen von der Hauptsache: letztere heißt Umwerthung aller Werthe— Europa wird nöthig haben, noch ein Sibirien zu erfinden, um den Urheber dieser Werth-Tentative dorthin zu senden.
Hoffentlich begrüßt Sie dieser heitere Brief in einer bei Ihnen gewohnten resoluten Verfassung —
Sich gern Ihrer erinnernd
Dr. Nietzsche
Adresse bis Mitte November: Torino (Italia)
ferma in posta.
1108. An Jacob Burckhardt in Basel
Sils-Maria, Herbst <13. September> 1888.
Hochverehrter Herr Professor,
Hiermit nehme ich mir die Freiheit, Ihnen eine kleine ästhetische Schrift vorzulegen, die, wie sehr auch immer mitten im Ernst meiner Aufgaben als Erholung gemeint, doch ihren Ernst für sich hat. Sie werden sich hierüber nicht einen Augenblick durch den leichten und ironischen Ton irreführen lassen. Vielleicht habe ich ein Recht, von diesem „Fall Wagner“ einmal deutlich zu reden, — vielleicht selbst eine Pflicht. Die Bewegung ist jetzt in höchster Glorie. Drei Viertel aller Musiker ist ganz oder halb überzeugt, von St. Petersburg bis Paris, Bologna und Montevideo leben die Theater von dieser Kunst, jüngst hat noch der junge deutsche Kaiser die ganze Angelegenheit als nationale Sache ersten Ranges bezeichnet und sich an deren Spitze gestellt: Gründe genug, daß es erlaubt ist, auf den Kampfplatz zu treten. — Ich bekenne, daß die Schrift, bei dem durchaus europäisch-internationalen Charakter des Problem’s, nicht deutsch, sondern französisch hätte geschrieben werden müssen. Bis zu einem gewissen Grade ist sie französisch geschrieben: und jedenfalls möchte es leichter sein, sie ins Französische zu übersetzen als ins Deutsche…
— Es ist mir nicht verborgen geblieben, daß es vor nicht lange einen Tag gab, wo die Pietät einer ganzen Stadt sich mit tiefer Dankbarkeit ihres ersten Erziehers und Wohlthäters erinnerte. Ich habe mir, in aller Bescheidenheit, erlaubt, mein eignes Gefühl zu dem einer ganzen Stadt hinzu<zu>legen.
Mit dem Ausdruck großer Liebe und Verehrung
Ihr
Dr. Friedrich Nietzsche
(Meine Adresse ist bis Mitte November Torino poste restante: ein einziges Wort von Ihnen würde mich glücklich machen.)
1109. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
Sils-Maria d. 13 Sept. 1888
Geehrtester Herr Verleger,
in diesem Augenblick traf Ihr werthes Schreiben ein, aus dem ich mit Vergnügen sehe, wie weit Sie schon sind. Was die Zeitungen angeht, denen es Sinn hat, ein Exemplar zu senden, so bin ich zu meinem Bedauern gerade für diesen Fall gar nicht competent. Das Thema ist von einem sehr allgemeinen Interesse: im Grunde wird über nichts so viel geredet und „geschwätzt“ als über W<agner>. Ich meine, wir sollten die Wiener Hauptzeitungen nicht vergessen (— die freie Presse z. B.). Zeitungen, deren unartiges resp. völlig schweigendes Verhalten Sie constatirt haben, lassen Sie bitte bei Seite. Vielleicht ist dies Mal auch Frankreich nicht außer Acht zu lass<en>: die Bewegung, das Für und Wider ist dort in der Frage Wagner mindestens so groß wie in Deutschland. Ich würde proponiren, der
revue des deux mondes
dem Figaro
dem Journal des débats
und dem (Schweizerischen)
Journal de Genève
je ein Exemplar zu senden. Die Adressen werden Sie in Leipzig leicht sich schaffen können (— jedes Zeitungs-Büreau hat sie)
auf diesen Exempl. muß mein Name bezeichnet sein als:
Monsieur le professeur Dr. Nietzsche
de Bâle.
Von Privatpersonen bitte ich noch in meinem Namen zu bedenken:
- dem Freiherrn Dr. Hans von Bülow
Hamburg
- Herrn Carl Spitteler, Basel
Gartenstr. 74
- Herrn Lothar Volkmar, Rechtsanwalt
Berlin W. Leipziger Straße 135
— Ein Blatt Manuscr. zum Vorwort des „Müssiggangs eines Psychologen“ ist vorgestern noch abgegangen. —
Nächsten Montag oder Dienstag treffe ich in Torino ein. Einstweilen wollen wir noch etwas Ferien machen und den neuen Druck lassen. Herr Köselitz ist nämlich gerade auf Reisen (in Hinterpommern): so daß die Raumdistanz zwischen Turin, Leipzig und Herrn Köselitz einen Correktur-gang unpraktikabel macht.
Vielleicht versehen Sie die Freiexempl. an Einzelne wieder mit einem solchen rothen Zettel, gleichen Inhalts, nur zuletzt
Adresse: Prof. Dr. Nietzsche
Torino (Italia)
ferma in posta
Ich bleibe dort bis Mitte November. —
Mit ergebenstem Gruße Ihr
Professor Nietzsche
1110. An Reinhart von Seydlitz in München
Sils-Maria, d. 13. September 1888.
Lieber Freund,
es scheint Manches, das bereits für München unterwegs war, dies Jahr ausgeblieben zu sein: rechne auch mich — ich sage es mit viel Bedauern — unter das Münchener Defizit. Der Sommer war, wie alle Welt weiß, ein Skandal: ich bewundere meine Geduld, ich hätte Gründe gehabt, aus so viel Häuten zu fahren, um mein Zimmer damit zu tapeziren. Zuletzt überschwemmte sich noch das Engadin in einem Anfall von Wassersucht, daß wenig gefehlt hat und wir wären Fische geworden. Lauter ungewöhnliche Dinge in Sils: ein Sommer, gluthheiß, von 1 1/2 Wochen im Ganzen und vor den Frühling arrangirt; an Stelle des Frühlings und Sommers ein zweideutiger und nicht immer zweideutiger Winter; achtzehn Unthiere von Lawinen, die Hinterlassenschaft des sogenannten eigentlichen Winters; neue Glocken; eine Forelle von 30 Pfund; Herr Bädeker und Frau, welche mein Hôtel (Alpenrose) den ganzen Sommer über aus zeichneten, „ansternten“… Zuletzt berechnete mir unser Meteorolog, daß eben in vier Tagen 220 Millimeter Niederschlag gefallen sind, während ein Monat mit gesunden Durchschnitts-Bedürfnissen nur 80 Millimeter Wasser nöthig hat. —
Übermorgen geht es westwärts —: es ist nicht nur die geographische Lage, welche es verbietet, Turin zum „Süden“ zu rechnen. — Ich komme gerade dort an, wenn die große Hochzeit Savoyen-Bonaparte zu Ende geht. Später — wer weiß! — aber ich glaube Nizza. — Mein innerer Haushalt steht ganz und gar im Dienste einer extremen Unternehmung, die, als Büchertitel, in drei Worte zu bringen ist „Umwerthung aller Werthe“. Ich sinne öfter über die Maßregeln nach, die die Toleranz Europa’s gegen mich erfinden wird: eigens ein kleines Sibirien mit künstlicher Eis- (und gelato-) Bildung construiren, um mich nach Sibirien verbannen zu können…
Dies schließt nicht aus, daß ich ein paar Heiterkeiten verbrochen habe. Die eine, welche sich alsbald die Freiheit nehmen wird, mit einigem Muthwillen über Deine Schwelle zu springen, heißt „Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem.“ (— böse Zungen lesen: Der Fall Wagner’s). Auch Hans von Bülow giebt sich über ein verwandtes Thema zum Besten: und in Anbetracht, daß wir Beide etwas hinter den Coulissen gelebt haben… Ende des Jahres wird eine andre Sache von mir veröffentlicht, welche meine Philosophie in ihrer dreifachen Eigenschaft, als lux, als nux und als crux, zur Erscheinung bringt. Sie heißt, mit aller Anmuth und Tugend: „Müßiggang eines Psychologen“ — und ist entstanden, während ich hier „an den Wänden“ hinaufstieg. Unter anderem wird den Deutschen darin dergestalt die Wahrheit gesagt, daß auch für mich Ehren und Handschreiben nur noch etwa von Japanischen Majestäten zu gewärtigen sind. Ich deute in aller Bescheidenheit an, daß der „Geist“, der sogenannte „deutsche Geist“ spazieren gegangen und irgendwo in der Sommerfrische wohnt — jedenfalls nicht im „Reich“ — eher schon in Sils-Maria….
Womit ich Dir und Deiner lieben Frau mich mit herzlichem Bedauern empfehle.
Treulich Dein Nietzsche.
(Bis Mitte November muthmaßliche Adresse: Torino, ferma in posta.)
1111. An Paul Deussen in Berlin
Sils-Maria, d. 14. Sept. 1888 Adresse bis 15. November: Torino (Italia) ferma in posta.
Lieber Freund,
ich möchte Sils nicht verlassen, ohne Dir nochmals die Hand zu drücken, in Erinnerung an die größte Überraschung, die mir dieser an Überraschungen reiche Sommer gebracht hat. Auch darf ich jetzt wieder muthiger reden als damals, wo ich Dir zu antworten hatte: die Gesundheit ist seitdem wiedergekommen, mit dem „besseren“ Wetter, denn der Begriff „gut“ ist für Meteorologen und Philosophen impraktikabel. Zwar hatten wir die allerletzte Woche noch den eigentlichen Exceß des ganzen Jahrs — eine wahre Sündfluth, die die ernstesten Überschwemmungs-Nothstände im Ober- und Unterengadin hervorrief. Es fiel in 4 Tagen 220 millim. Niederschlag, während das Normal-Quantum eines ganzen Monats hier 80 m<illimeter> ist. — Du wirst noch in diesem Monate eine Zusendung erhalten: eine kleine aesthetische Streitschrift, in der ich, zum ersten Male und auf die unbedingteste Weise das psychologische Problem Wagner an’s Licht stelle. Es ist eine Kriegserklärung ohne pardon an diesen ganze Bewegung: zuletzt bin ich der Einzige, der Umfang und Tiefe genug hat, um hier nicht unsicher zu sein. — Daß eine Schrift von mir, ein Pamphlet, wenn man will, gegen Wagner, eine gewisse Aufregung mit sich bringt, giebt mir schon der letzte Bericht meines Verlegers zu verstehn. Bloß auf die vorläufige Ankündigung im Buchhändler-Börsenblatt hin sind so viel Bestellungen eingelaufen, daß die Auflage von 1000 Ex. als erschöpft betrachtet werden kann (d. h. wenn die Exemplare, die verlangt sind, später nicht den Krebsgang gehn…). Lies die Schrift einmal auch vom Standpunkt des Geschmacks und Stils: so schreibt heute kein Mensch in Deutschland. Es würde ebenso leicht sein die Schrift ins Französische zu übersetzen als schwer, fast unmöglich, sie ins Deutsche zu übersetzen…
— Es ist bereits ein andres M<anu>s<kript> bei meinem Verleger, das einen sehr strengen und feinen Ausdruck meiner ganzen philosophischen Heterodoxie giebt — unter vieler Anmuth und Bosheit versteckt. Es heißt: Müssiggang eines Psychologen. — Zuletzt sind diese beiden Schriften nur wirkliche Erholungen inmitten einer unermeßlich schweren und entscheidenden Aufgabe, welche, wenn sie verstanden wird, die Geschichte der Menschheit in zwei Hälften spaltet. Der Sinn derselben heißt in drei Worten: Umwerthung aller Werthe. Es steht Vieles hinterdrein nicht mehr frei, was bis jetzt frei stand: das Reich der Toleranz ist durch Werth-Entscheidungen ersten Rangs zu einer bloßen Feigheit und Charakter-Schwäche heruntergesetzt. Christ sein — um nur Eine Consequenz zu nennen — wird von da an unanständig. — Auch von dieser radikalsten Umwälzung, von der die Menschheit weiß, ist Vieles bei mir schon in Fluß und Gang. Nur, nochmals gesagt, habe ich jede Art Erholung und Seitensprung nöthig, um das Werk ohne jedwede Mühe, wie ein Spiel, wie eine „Freiheit des Willens“ hinzustellen. Das erste Buch davon ist zur Hälfte vollendet. — Mein alter Freund, Du erräthst, daß es Etwas in diesem und in den nächsten Jahren zu drucken giebt — und daß wirklich jene seltsame Geld-Großmuth in einem entscheidend guten Augenblick an meine Thür klopfte. Man muß zu Allem Glück haben, selbst noch zum Gutes-Thun… Ein Paar Jahre früher — wer weiß, was ich Dir geantwortet hätte! —
Mit dem herzlichsten Gruße Dein Freund
Nietzsche.
— Ich sende auch ein Exemplar an Hrn. Rechtsanwalt Volkmar. —
1112. An Elisabeth Förster in Paraguay
Sils d. 14 Sept. 1888
Mein liebes Lama,
sehr anders als es mein Wunsch war, komme ich erst am Schluß meines Engadiner Sommers (—?—) dazu, Dir zu schreiben. Es gieng dies Jahr in allen Stücken sehr außergewöhnlich zu: man konnte nichts versprechen, nichts beschließen. Dabei kam meine Gesundheit recht in die Brüche; und als es wieder besser gieng, habe ich den großen Zeitverlust für meine Aufgabe durch eine um so angespanntere Arbeit auszugleichen gesucht. Nun ist wirklich Etwas erreicht: und ich kann zu menschenfreundlicheren Arbeiten und selbst zu Briefen mir wieder Zeit nehmen. Wie lange schon lag mir es auf dem Herzen, Dir meine große Freude über das Definitivum der Übersiedelung und die festliche Art und Weise, in der sie vollzogen wurde, auszudrücken! Auch daß Deine Gesundheit der Menge neuer Pflichten und Sorgen so tapfer Stand hält, ist keine kleine Beruhigung. Wir haben es Beide, auf eine etwas verschiedene Weise, schwer — wir haben es Beide andrerseits auch wieder gut. Wir lassen uns nicht so leicht fallen — uns nicht und auch die Sachen nicht, die uns angehen. Das eigentliche malheur in der Welt ist Alles bloß Schwäche…
Von mir wäre zu erzählen, daß zu den bewiesenen Orten Nizza und Sils noch ein dritter als Zwischenakt hinzugekommen ist: Turin. Klimatisch und menschlich der mir sympathischste Ort, den ich bisher gefunden habe. Großstadt, aber ruhig, vornehm, aristokratisch, Universität, gute Bibliotheken, sehr viel Entgegenkommen für mich, ausgezeichnete Theater-Verhältnisse — und sehr billige Preise. Kost und Luft, Wasser und Spaziergänge — alles vollkommen nach meinem Geschmack. Die größeren Buchhandlungen dreisprachig (französisch, deutsch, italiänisch, so daß ich für neue wissenschaftliche Litteratur dort bei weitem besser daran bin als in Leipzig selbst.) Der Ring von Hochgebirge, der auf 3 Seiten Turin einschließt, hält dieselbe trockne und dünne Luft aufrecht, wie sie, aus gleichen Gründen, Sils und Nizza haben. Da ich mitten in der entscheidenden Arbeit meines Lebens bin, so ist mir eine vollkommne Regel für eine Anzahl Jahre die erste Bedingung. Winter Nizza, Frühling Turin, Sommer Sils, zwei Herbstmonate Turin — dies ist der Plan. Entsprechend ist auch meine Diät normal gemacht d. h. absolut persönlich, und den eigensten Bedürfnissen gemäß eingerichtet. Dazu gehört natürlich die Emancipation von jedem Essen in Gesellschaft. Der Erfolg des allmählich von mir ausprobirten Optimum von Existenz zeigt sich in einer enormen Steigerung der Arbeitskraft. Die drei Abhandlungen vom vorigen Sommer, denen Ihr die Ehre Eurer Antheilnahme geschenkt habt, sind in weniger als 25 Tagen beschlossen, ausgeführt und druckfertig fortgeschickt worden. Dasselbe habe ich diesen Sommer bei dem ersten Umschwung zum Bessern, noch einmal geleistet. In Turin ist, mit spielender Leichtigkeit, ein entscheidendes Stück Musiker-Psychologie zu Stande gekommen, das Euch diesen Herbst zugehen wird. Auch von der Umwerthung aller Werthe giebt es, beinahe wenigstens, das erste Buch. — Diese Nachrichten sind nicht schlecht, nicht wahr? mein liebes Lama? — Der Haken liegt darin, daß ich meine Schriften selbst drucken muß — und daß die Zeit für immer vorbei ist, wo es zwischen mir und der Gegenwart irgend noch ein andres Verhältniß gäbe als Krieg aufs Messer! — Mit diesem etwas indianerhaft gerathenen Schluß grüßt und umarmt Dich, mein liebes Lama, Dein Bruder Fritz. — Das Herzlichste an Deinen Bernhard. —
1113. An E. Kürbitz in Naumburg
Sils-Maria, Oberengadin d. 14. Sept. 1888
Sehr geehrter Herr,
Hiermit möchte ich Sie ersuchen, meiner Mutter Frau Pastor Nietzsche, nochmals in meinem Namen die Summe von 30 M (dreißig Mark) zu übermitteln. Eine wesentlich größere Summe wird ein Paar Monate später nach Leipzig zu zahlen sein. Darüber berichte ich Ihnen zur Zeit.
Hochachtungsvoll Ihr Professor Dr. Nietzsche
1114. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Sils-Maria, an einem der letzten Tage. <14. September 1888>
Meine alte Mutter hat mir aber einen ganz traurigen Brief geschrieben und jedenfalls die Gedanken die ganze Zeit über wo anders gehabt: sonst würde ihr eingefallen sein, daß der Sohn in jedem Briefe seine Abreise von Sils auf den 15. Sept. festgesetzt hat. Nun haben wir heute den 14. Sept., es ist Nachmittag und nichts außer Deinem lieben Briefe eingetroffen. Um mir einen kleinen Scherz zu machen, schrieb ich ein Paar Worte an Herrn Kürbitz: derselbe wird der guten Mutter ein ganz kleines Geldchen überreichen, von dem als von einer „Ehrengabe“ kleinsten Stils gar nicht geredet werden soll. Vielleicht stopft es etwas für den Monat September noch die Kasse der guten Mutter aus, die mich, in aller Noth des Augenblicks, durchaus noch beschenken will. (Herrn Kürbitz habe ich genau denselben Auftrag gegeben, wie das letzte Mal; er wird denken, daß Du wieder etwas für mich besorgen sollst) — Ich habe diesen Sommer recht ökonomisch gelebt: wozu mir Deine schönen Naumburger Sendungen wesentlich geholfen haben.
Ein Brief meines Freundes Overbeck, der seit Monaten geschwiegen hatte, gab Nachricht von einem langen und schweren Erschöpfungs-Zustand, aus dem er nur sehr langsam auftaucht. Er hat jetzt ein eignes Haus in Basel, aber er hat vergessen, auch nur ein Wort davon zu schreiben. Frau Rothpletz soll 3 Tage gar nicht weit von hier gewesen sein, aber im Schrecken über unsren vollkommenen Winter schnell die Flucht ergriffen haben. Das Letzte war eine höchst bedenkliche Überschwemmung, bei der aller Ort schwer zu Schaden gekommen, mit Ausnahme von Sils, das bei Zeiten (vor 20 Jahren) große Dämme aufgeworfen hatte. Trotzdem war auch hier Alles ein See; und man konnte längere Zeit nicht spazieren gehn. Der Regen, mit Schnee untermischt, floß Tag und Nacht; es ist in 4 Tagen 3 Mal so viel gefallen als sonst in einem Monat. —
Heute morgen habe ich noch einen wohlgemuthen Brief an’s Lama abgeschickt. Es nützt gar nichts, sich über Dinge, in die wir nicht klar sehn, Sorgen zu machen. Nach dem, was Du von Claire Heinze erzählst, nehme ich an, daß man in Leipzig viel Bestimmteres weiß als in Naumburg. Die Leipziger Colonial-Gesellschaft muß ja vollkommen über die Vertrags-Bedingungen unterrichtet sein, unter denen die dortige Regierung sich mit Förster eingelassen. Sie selbst hat offenbar nicht das Gleiche versprechen können. Wir sind in der That über die Hauptsachen nicht unterrichtet: ich merke das jedes Mal, wenn meine guten Köchlin’s in Nizza darüber Auskunft haben wollen. Dann fragen sie wohl der Reihe nach „ist Dr. Förster reich, um ein so ungeheures Besitzthum an sich zu bringen?“
Dann „steht wohl eine Colonial-Gesellschaft hinter ihm?“ — „Oder ein großes deutsches Bankhaus?“ — „Aber er wird sich das Geld doch nicht geborgt haben?“ — Colonien gründen ohne Einiges sogar zu viel zu haben, soll kaum möglich sein. Es steht da wie mit den großen Hôtels. Die erste Gesellschaft risquirt sich dabei; die zweite, die es billig übernimmt, gedeiht.
Wie viele große Schweizer Vermögen sind mit Colonie-Gründung in Südamerika drauf gegangen! — Das Ermuthigende liegt hier genau in dem Vertrauen der Paraguayer: man darf durchaus nicht annehmen, daß sie bloß auf persönliche Sympathie hin Förster eine so große Sache in die Hände gegeben haben, sondern auf wirkliche Garantien hin. Zuletzt sind es Südamerikaner — sehr kluge Leute. Offen gesagt, wenn die vertrauen, dürfen wir es hundert Mal. —
2ter Bogen
— In diesem Augenblick trifft Deine Sendung ein — großes Vergnügen! Ich habe sofort den Kamm probirt und ihn bereits achten gelernt. Diese kleine Arbeit der Reinigung jeden Abend vor Schlafengehn wird mit diesem gründlichen Instrument mir noch mehr zu Nutzen kommen. Insgleichen kam die sehr vermißte Brille an, an der ein Arm zerbrochen war. Die Theemaschine mag hier bleiben; für unterwegs habe ich nicht den geringsten Platz mehr. — Sehr erbaut bin ich nun doch noch die Federn bekommen zu haben: denn es ist in meinem Leben, einem rechten Schreibthier-leben, eine Sache ersten Ranges, für sich selber lesbar zu schreiben. Dies hatte im Frühling vollkommen aufgehört. Es thut mir nur leid, daß die Besorgung Dir so viel Noth gemacht hat. Eine Postkarte nach Leipzig mit der Adresse „Sönnecke Stahlfederfabrik“ hätte Dir alles erspart. —
Zuletzt: meine gute Mutter, wir wollen nicht den Muth verlieren. Eigentlich glaube ich, daß wir Beide jetzt etwas krank sind und deshalb Alles zu schwer nehmen. Ich bin wirklich krank und denke nicht daran, morgen abzureisen: ich werde einen verdorbenen Magen seit 8 Tagen nicht mehr los. Sobald ich den Brief an Dich expedirt habe, will ich mich zu Bett legen, — der Kopf taugt nichts, Appetit fehlt auch. Meine Hauptsache ist die militärische Genauigkeit im Kleinsten der Lebensweise: ich muß die Versuche und Abweichungen außer allem Verhältnisse büßen. —
Die Reise, meine Mutter, ist nichts Langes. Turin ist Mitte Wegs nach Nizza: so daß ich eigentlich keinen Umweg mache. Vormittags setze ich mich hier in die Post; Mittags bin ich in Chiavenna; Abends in Mailand. Dort bleibe ich die Nacht. Am andren Tage komme ich in 3 Stunden Schnellzug nach Turin. — Eine Reise, wie sonst, nach Venedig und von dort nach Nizza ist doppelt und dreifach so weit. — Es umarmt Dich das alte Geschöpf.
(Vom Schinken lebe ich die nächsten Tage und auf der Reise.)
Adresse: Torino (Italia)
poste restante.
1115. An Franz Overbeck in Basel
<Sils-Maria, 14. September 1888>
Lieber Freund,
mit einer wahren Erleichterung empfieng ich Deinen Brief; denn nach Allem, was ich aus Deinen letzten Berichten schließen durfte, stand es nicht zum Besten um Dich. Eine kleine Wendung zum Guten, mindestens zum Besseren, scheint doch festgestellt. Zuletzt glaube ich, daß die merkwürdige Ungunst der meteorologischen Zustände jede Art Erschöpfung in diesem Jahre bedenklich macht, — ich rede aus Erfahrung. Man ist durchaus nicht isolirt vom ganzen Naturleben: wenn der Wein nicht aus Mangel an Sonne geräth, werden wir auch sauer… Seltsam, daß hier oben uns die stärkste Geduldsprobe bis zuletzt aufgespart war: es gab gerade schauderhafte Zustände die ganze letzte Woche: — ich lag wieder Tage lang wie betäubt. Die Wasser-Masse, die allein in 4 Tagen gefallen ist, beträgt 220 millimeter: während das normale Quantum eines ganzen Monats in Sils 80 mill. ist. Trotzdem war Sils der einzige Ort im Engadin, der ohne Schaden durch diesen Katastrophe (— unerhört in der Geschichte des Engadin!) durchgekommen ist. — Mein Hôtel, die Alpenrose, in der ich immer verkehre, aber allein esse hatte diesen Sommer die Auszeichnung, Herrn Bädecker und Frau aus Leipzig ein paar Monate zu Gaste zu haben: eine wirkliche Censur, auch für Sils! — Ein sehr angenehmer, witziger und raffinirter Musiker, in übrigens glänzenden Verhältnissen, war hier ein Umgang für mich: Herr von Holten, aus Hamburg, vom Conservatorium. Er gab mir ein kleines Privatconcert, wo er lauter Köselitziana (die er sich für mich eingeübt hatte) auswendig spielte, — entzückt „über die feine und liebenswürdige Musik.“ — Bei der Berufung Harnack’s habe ich sehr Deiner gedacht: dieser junge Kaiser präsentirt sich allmählich vortheilhafter als man erwarten durfte, — er ist neuerdings scharf anti-antisemitisch aufgetreten und hat den Beiden, die ihn in der rechten Zeit von der compromittirenden Gesellschaft Stöcker und Co. taktvoll auslösten (Bennigsen und dem Baron v. Douglas) jetzt vor aller Welt seine große Erkenntlichkeit dafür ausgedrückt. — Man sagt mir selbst, daß sein Benehmen gegen seine Mutter hundert Mal rücksichtsvoller ist, als die Parteileidenschaft es in Deutschland und England wünschen möchte. — Darf ich von mir erzählen? In der Hauptsache fühle ich mehr als je die große Ruhe und Gewißheit, auf meinem Wege und sogar in der Nähe eines großen Ziels zu sein. Ich habe, zu meiner eignen Überraschung, bereits das erste Buch meiner Umwerthung aller Werthe bis zur Hälfte in seiner endgültigen Form fertig. Es hat eine Energie und Durchsichtigkeit, welche vielleicht von keinem Philosophen je erreicht worden ist. Es scheint mir, als ob ich mit Einem Male schreiben gelernt hätte. Was den Inhalt, die Leidenschaft des Problems betrifft, so schneidet dieses Werk durch Jahrtausende hindurch — das erste Buch, unter uns gesagt, heißt „der Antichrist“, und ich will schwören, daß Alles, was je zur Kritik des Christenthums gedacht und gesagt worden, eitel Kinderei dagegen ist. — Ein solches Unternehmen macht tiefe Pausen und Distraktionen selbst hygienisch nöthig. Eine solche wird in etwa 10 Tagen bei Dir aufwarten: sie heißt „der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem.“ Es ist eine Kriegserklärung ohne Pardon — mein Verleger meldet mir, daß schon seit ein paar Wochen (auf die erste Ankündigung im Buchhändler-Blatt) so viel Bestellungen darauf eingelaufen sind, daß die Auflage von 1000 Ex. als erschöpft gelten kann. — Auch ein zweites Manuscript, vollkommen druckbereit, ist bereits in den Händen des Herrn C. G. Naumann. Doch wollen wir es einige Zeit noch liegen lassen. Es heißt „Müssiggang eines Psychologen“ und ist mir sehr werth, weil es in der allerkürzesten (vielleicht auch geistreichsten) Form meine wesentliche philosophische Heterodoxie zum Ausdruck bringt. Im Übrigen ist es sehr „zeitgemäß“: ich sage über alle möglichen Denker und Künstler des heutigen Europa meine „Artigkeiten“ — eingerechnet, daß darin den Deutschen in puncto Geist, Geschmack und Tiefe* die unerbittlichsten Wahrheiten ins Gesicht gesagt werden. —
In wenig Tagen will ich nach Turin abreisen: der Versuch, den Herbst daselbst kennen zu lernen, nachdem mir der Frühling so ausnahmsweise gut gethan hat, ist nicht zu unterlassen. Es wäre mir eine große Wohlthat, mein Leben für eine Anzahl tief arbeitsamer und innerlich entscheidender Jahre in die regelmäßige Ordnung Sils, Turin, Nizza, Turin, Sils usw. gebracht zu haben. Für Nizza habe ich eine Neuerung nöthig: mich vollkommen so unabhängig in Diät und Gesellschaft zu machen, als ich es in Sils bin. Ich habe entdeckt, daß die unnöthige Verdüsterung und selbst ein gewisses Mißrathen fast aller meiner Nizzaer Winter an Concessionen liegt, die ich in diesen beiden Punkten gemacht. Genau so war’s in Sils: erst seit vorigem Sommer stehe ich auf meinen Füßen — und seitdem erst weiß ich, wie unschätzbar gerade mir dies Sils ist. — Ich habe für meine Lebensweise keine andere Kritik als das Maaß meiner Arbeits-Kraft. Im vorigen Sommer schrieb ich die drei Abhandlungen der „Genealogie“ in weniger als einem Monate druckfertig; in diesem habe ich jenen „psychologischen Müßiggang“ in 20 Tagen abgemacht. — Diese Leistungs-Fähigkeit drückt sich besonders auch in der Sehkraft aus: während jeder Diätfehler, jedes böse Wetter mich sofort darin depotenzirt. — Es bleibt Etwas zu erzählen, aber, alter Freund, privatissime unter uns. Man hat mir, von Berlin aus, seitens „unbekannt bleiben wollender“ Freunde und Verehrer (unter denen aber Prof. Deussen als Vermittler und wahrscheinlich Hauptbetheiligter sich zu erkennen gegeben hat) eine „Ehrengabe“ von 2000 Mark zugestellt. Ich habe dieselbe, mit ausdrücklicher Ablehnung des Gedankens, als ob ich in einer Nothlage wäre und mit einem Ausdruck der Dankbarkeit für die Basler Liberalität, nur in Hinsicht der Nöthigung, meine Schriften selbst drucken zu müssen, acceptirt. Thatsächlich kam das Geld sehr zur rechten Zeit, — ich athme in dieser absurden Druck-Necessität wieder freier. — Nach dieser Seite hin werde ich also die Basler Ersparnisse nicht in Anspruch nehmen. — Die 1000 frs., welche zunächst fällig werden, bitte ich mir erst für Nizza, das heißt ungefähr für den 16. November (ha! was für ein Tag!) aus. Du erräthst, daß ich eine kleine Ökonomie getrieben habe, sowohl in Turin, wie hier, so daß ich es ein paar Monate noch aushalte. —
Verzeihung, lieber Freund! Ich sehe eben, daß der Brief etwas zu lang für Deine Gesundheit gerathen sein möchte. Mit dem allerbesten Wunsche und der Bitte, Deiner lieben Frau angelegentlich empfohlen zu werden bin ich in alter Liebe und Anhänglichkeit
Dein Nietzsche.
Adresse, etwa vom 18. Sept. an bis 14. Nov. Torino (Italia) ferma in posta.
Die große Hochzeit daselbst, Savoyen-Bonaparte, soll erst vorüber sein. Jetzt sind alle Hôtels dort überfüllt.
1116. An Unbekannt (Entwurf)
<Sils-Maria, Mitte September 1888>
Werthester Herr
es ist eben eine Schrift von mir erschienen, die gegen W<agner> gerichtet ist. Ich bitte es mir nicht übel zu deuten, wenn ich dieselbe Ihnen nicht zuschicke. Ich sende sie an Niemanden (weder „Mensch“ noch „Zeitung“), dessen antiwagnersche Gesinnung mir bekannt ist. Gründe dafür verlangen Sie gewiß nicht…
1117. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Visitenkarte)
<Sils-Maria, Mitte September 1888>
Prof. Dr. Friedrich Nietzsche.
Abreise von Sils am 16. Sept (nicht
am 15.)
Ich ersuche bis dahin um Mittheilung. —
1118. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
Sils-Maria d. 15 Sept. 1888
Geehrtester Herr Verleger,
heute morgen habe ich die neue Schrift von Anfang bis Ende durchgesehen — sie ist fehlerfrei. Ein Paar feine Veränderungen, auch hinsichtlich der Zeilen-Anordnung, gehn vermuthlich auf Herrn Köselitz zurück. In der That macht die Ausstattung der Schrift den Eindruck, den ich wünsche — ich drücke Ihnen meine volle Anerkennung dafür aus, so gut mich in dieser Hauptsache berathen zu haben. — Daß ich den Epilog hinzuschrieb, scheint mir jetzt der allerglücklichste Einfall: ich habe damit diesen Einzelheit „den Fall Wagner“ in Zusammenhang mit meiner Gesamt-Tendenz gebracht. Zuletzt werden die fünf letzten Seiten der Schrift über mich mehr Aufklärung geben, als irgend welche Essay’s und Abhandlungen zu geben vermöchten, vorausgesetzt, was vielleicht vorausgesetzt werden darf, daß die Schrift in viele Hände und vor viele Augen kommt.
Inzwischen habe ich auch etwas Anderes begriffen: daß jetzt eine weitere Publikation unzulässig ist. Sie würde den Eindruck dieser Schrift stören, brechen, — sie würde die Nothwendigkeit, sich einmal nach meinen früheren Schriften umzusehn, eine sehr wünschbare Nothwendigkeit, beinahe aufheben. — Nehmen Sie also, werthester Herr Verleger, das übersandte Ms. eine Zeitlang (— sagen wir vorläufig bis Ostern des nächsten Jahrs) in Gewahrsam. Es ist mir lieb, wenn Sie es mir nicht zurückschicken, — man muß, als Denker, sich vor allem Fertigen, Abgemachten zu schützen wissen (— ich habe deshalb fast nie meine eignen Schriften bei mir —)
— Ich schrieb an Dr. Brandes nach Kopenhagen, ob er mir noch ein paar französische und russische Adressen, die in diesem Falle in Betracht kommen könnten, zu geben wisse. Sehen Sie zu, daß er als Einer der Ersten die Schrift erhält. —
Eben höre ich, daß auch Hans von Bülow eine Schrift dies Problem betreffend herausgiebt. Sehr erwünscht: wir sind die beiden Einzigen, die Muth und Kenntniß aller Intimitäten des „Falls Wagner“ besitzen… Auch er soll so schnell wie möglich die Schrift erhalten.
Mit dem besten Wunsche
und angelegentlichsten
Danke Ihr
Dr. F. Nietzsche.
— Es versteht sich von selbst, daß ich Ihrer Termin-setzung 22.Sept. in jedem Betracht Folge leiste.
1119. An Heinrich Köselitz in Buchwald
Sils-Maria, d. 16. Sept. 88
Lieber Freund,
unsre Briefe haben sich gekreuzt, — dies ist aber am wenigsten ein Grund, Ihnen nicht sofort zu antworten. Denn Ihr Brief kam sehr willkommen, zumal gar keine Briefe mich mehr erreichen: alle Welt glaubt mich abgereist. Ich wäre es gern: aber was hilft es! Die „höhere“ Naturgewalt, nachdem sie mich den ganzen sogenannten Sommer hindurch hier oben maltraitirt hat, hält mich zuletzt noch hier oben fest… Ich schrieb heute nach Turin, wo ich mich angemeldet hatte, „Non si può partire. Grandi inondazioni. La ferrovia Chiavenna-Colico molte volte interrotta“. — Der Postmeister will mir melden, wenn Alles in Ordnung ist: eine Woche sitze ich wohl noch fest. — Das Wetter ist zum Glück mild und nicht September… Ich habe beim Schreiben eben als Unterlage das erste fertige Exemplar vom „Fall Wagners“… Naumann meldet, daß die öffentliche Versendung am 22. September beginnt. — Beim sorgsamen Durchlesen der Schrift fand ich zwanzig Gründe mehr, Ihnen dankbar zu sein. Eine ganze Anzahl feiner technisch-buchdruckerischer Arrangements geht sicher auf Sie zurück. Daß in dem Bücher-Verzeichniß auf der Rückseite die „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ fehlen, ist geradezu bewunderungswürdig. — In Einem Fall von Correktur haben Sie Recht, — aber ich auch: „seinen Geschmack an Jemanden verlieren“ (Accusativ) ist nur eine andre Nuance als „an Jemandem“. — Ich war beim Durchlesen äußerst erbaut, den „Epilog“ hinzugeschrieben zu haben: das Niveau der Schrift erhebt sich damit ungeheuer, — sie erscheint nicht mehr als Einzelnheit, als Curiosum inmitten meiner Aufgabe. — Daß ich unsern jungen deutschen Kaiser als einen „unästhetischen Begriff“ bezeichnet habe, wird man schon heraushören… Übrigens gefällt er mir immer mehr: er thut fast jede Woche einen Schritt, um zu zeigen, daß er weder mit „Kreuzzeitung“, noch mit „Antisemitismus“ verwechselt werden will. Gestern sandte ich ein dickes Packet Fuchsiana an Sie ab, — die Briefe sind zum Theil hochbelehrend und immer sehr geistreich. Er hat mich besonders noch drum gebeten, in einer letzten Karte, Ihnen seinen Brief über Riemann zu lesen zu geben. — Die Gesundheit bei mir wackelt wieder: ich bin seit 10 Tagen meines Lebens nicht mehr froh geworden, — habe auch heute wieder das Mittagsessen weislich unterlassen. — Ihre prachtvolle vornehme Wald- und Schloß-Wildniß, eingerechnet die „Wilden und Zahmen“, die in ihr wandeln, macht mir viel Vergnügen. Irgendwer erzählte mir, daß Ihre v. Krauses in Beziehungen zum Grafen Hochberg stünden: leider ist letzterer nun auch ad acta gelegt, irgendein unzweideutiger Wagnerianer soll sein Nachfolger werden. — Im Grunde bin ich dieses Mal neugierig, was man mit meiner „Kriegserklärung“ gegen Wagner anfängt. Herrn Naumann habe ich bereits gemeldet, daß wir jetzt unter keinen Umständen etwas Neues herausgeben dürfen: es würde die Wirkung brechen und beinahe annulliren (— bis Ostern darf das übersandte Manuscript in Leipzig warten) —
Meine Absicht bleibt immer noch, Turin für den Herbst zu versuchen: Mitte November etwa Nizza, doch mit einigen wesentlichen Änderungen der Lebensweise daselbst (— Freiheit in der Diät und gegen alle Gesellschaft: ein Zustand, wie er hier in Sils erreicht ist —) Sonst möchte ich diesen auch räumlich kleinen Kreislauf festhalten: Sils, Turin, Nizza, Turin, Sils.
Es grüßt Sie lieber Freund, auf das Herzlichste
Ihr
Nietzsche.
— Ich habe dem Avenarius den „Fall“ auch zugeschickt: sollten Sie wirklich noch eine Absicht haben, sich drüber zu äußern, so geben Sie, bitte, umgehend dem Avenarius eine Mittheilung davon, — damit er niemand anders beauftragt. N.B. Wollen Sie gefälligst die Recension an Dr. Fuchs, Danzig zurücksenden? — Die Briefe selber nicht an mich zurück. —
1120. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Telegramm).
<Sils-Maria, 18. September 1888>
druck einverstanden vorwaerts turin — nietzsche
1121. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
Sils, d. 18 Sept. 1888
Geehrtester Herr Verleger,
sehr überrascht, aber noch mehr erbaut davon, daß Sie sofort an den Druck des „Müßiggangs“ gegangen sind. Meine Bedenken im letzten Brief ausgedrückt kommen gegen die Bedenken, die mein erster Brief über dies Thema enthielt, nicht in Betracht. Um jenes außerordentlich ernste Werk, die Umwerthung aller Werthe herausgeben zu können, bedarf es wirklich eines Jahrs zum Mindesten von Zwischenraum, Zwischenzeit in Hinsicht auf frühere Publikationen. Vielleicht nehmen wir, um die beiden Schriften nicht zusammen zu werfen, einen Termin von 1—2 Monaten an, in dem dann die zweite Schrift erscheint. Soviel bedingt zuletzt auch schon der Druck. —
Daß ich noch nicht in Turin bin, ist Folge der ungeheuren Überschwemmungen, die Engadin und Oberitalien erfahren haben. Die Eisenbahn Colico-Chiavenna ist noch nicht hergestellt: doch verspricht man’s für die allernächsten Tage. — Ich bitte also von jetzt ab nach Torino (Italia) ferma in posta zu adressiren. —
Die Adresse des Herrn Köselitz wird noch für 2 Wochen ungefähr diesen sein:
Buchwald b/Wurchow
(Hinterpommern)
mit der Neben-Adresse
S‘Hochwohlgeboren
Herrn von Krause
Anbei folgt das Vorwort, das gilt. — Was ich Ihnen bisher als Vorwort geschickt habe (das gestrichne Stück natürlich abgerechnet), ist von mir noch etwas fortgesetzt worden, so daß es jetzt in das Buch kommen soll — und zwar an vorletzter Stelle. (— den Schluß bilden die „Streifzüge eines Unzeitgemäßen“) Wir wollen dem Aufsatz den Titel geben:
Was den Deutschen abgeht.
Er hat jetzt, mit seiner Verlängerung, die ich Ihnen heute übersende, im Ganzen 7 kleine Abschnitte. Entsprechend muß auch in der Inhalts-Angabe dieser Titel eingetragen werden. —
Das Vorwort ist jetzt viel kürzer — und zweckentsprechender. —
Ich telegraphirte heute morgen, nur um Sie über den Druck nicht irre werden zu lassen.
Hochachtungsvoll Ihr
ergebenster
Dr Nietzsche
— Es ist mir sehr lieb, auf diesen Weise den Winter frei zu bekommen. —
1122. An Heinrich Köselitz in Buchwald
Turin, den 27. Sept 88
Lieber Freund,
heute traf Ihre am 24ten von Wurchow abgegangene Correktur des Bogen 2 hier ein, zugleich mit Naumann’s Sendung vom 25ten (der 4te Druckbogen) Im Grunde dürfte die Verbindung Berlin—Turin erheblich schneller sein, als Wurchow—Turin. Die Sache geht auch nicht mehr lange; es werden wahrscheinlich 6 Bogen sein oder ein Weniges mehr. Eine letzte Revision thut nicht noth; das Manuscript war viel besser vorbereitet als das Wagner-Pamphlet.
Was den Titel angeht, so kam Ihrem sehr humanen Einwände mein eignes Bedenken zuvor: schließlich fand ich aus den Worten der Vorrede die Formel, die vielleicht auch Ihrem Bedürfnisse genugthut. Was Sie mir von der „großen Artillerie“ schreiben, muß ich, mitten im Fertig-machen des ersten Buchs der „Umwerthung“, einfach annehmen. Es läuft wirklich auf horrible Detonationen hinaus: ich glaube nicht, daß man aus der ganzen Litteratur ein Seitenstück zu diesem ersten Buche in puncto Orchesterklang (eingerechnet Kanonendonner) findet. — Der neue Titel (der an 3 bis 4 Stellen ganz bescheidne Veränderungen nach sich zieht) soll sein:
Götzen-Dämmerung.
Oder:
wie man mit dem Hammer philosophirt.
Von
F. N.
Der Sinn der Worte, zuletzt auch an sich errathbar, ist, wie gesagt, das Thema der kurzen Vorrede. — Der erste Brief über den „Fall“ war von Gersdorff. Er schreibt auch vom Löwen-Duett (ex ungue leonem —) „Das ist Musik, wie ich sie liebe. Wo sind die Ohren, sie zu hören, wo die Musikanten, sie zu spielen?“ — Ein Curiosum, das Gersdorff mittheilt und das mich sehr erbaut: G<ersdorff> ist Zeuge eines rasenden Wuthausbruchs Wagners gegen Bizet gewesen, als Minnie Hauck in Neapel war und Carmen sang. Auf dieser Grundlage, daß W<agner> auch hier Partei genommen hat, wird meine Bosheit an einer gewissen Hauptstelle viel schärfer empfunden werden. Übrigens warnt mich Gersdorff ganz ernsthaft vor den Wagnerianerinnen. — Auch in diesem Sinne wird der neue Titel Götzen-Dämmerung gehört werden, — also noch eine Bosheit gegen Wagner…
Alter Freund, Sie sind noch gar nicht auf meiner Höhe mit Ihrer Auseinandersetzung über Dativ und Nominativ beim Gottesbegriff. Der Nominativ ist ja der Witz der Stelle, ihr zureichender Grund zum Dasein…
Meine Reise hatte Schwierigkeiten und Geduldsproben schlimmer Art: ich kam Mitternachts erst nach Mailand. Das Bedenklichste war eine lange Passage Nachts in Como durch überschwemmtes Terrain auf einem ganz schmalen Holzbrett-Brückchen — bei Fackelbeleuchtung! Ganz wie gemacht für mich Blindekuh! — Durch die schlaffe und widrige Luft der Lombardei erschöpft kam ich in Turin an: aber seltsam! wie im Ruck war Alles in Ordnung. Wunderbare Klarheit, Herbstfarben, ein exquisites Wohlgefühl auf allen Dingen. In zwei Hauptsachen, nämlich Wohnung und trattoria, ist mein zweitmaliges Erscheinen in der allerwillkommensten Weise empfunden worden. Ordnung, Reinlichkeit, Aufmerksamkeit in ersterer um 50 Procent gewachsen; die Güte in Qualität und Quantität in der tratt<oria> um 100, ohne daß hier oder dort die sehr mäßigen Preise verändert wären. Auch habe ich hier meinen ersten Schneider, der mir recht arbeitet. — Fünf Schritt von mir ist die größte piazza, mit dem alten mittelalterlichen Castell: auf ihm ist ein reizendes kleines Theater, vor dem man Nachts (von 8 1/4) im Freien sitzt, sein gelato ißt und jetzt gerade allerliebst die französische Operette Mascotte von Audran hören kann (— mir sehr gut bekannt von Nizza) Diese in keinem Punkte gemein werdende Musik, mit soviel hübschen, geistreichen kleinen Melodien, gehört ganz in die idyllische Art Sein, die ich jetzt Abends nöthig habe. (Das Gegenstück dazu: der Zigeunerbaron von Strauß: ich lief mit Ekel und bald davon — die zwei Arten der deutschen Gemeinheit, die animalische und die sentimentale, nebst ganz schauderbaren Versuchen, hier und da den gebildeten Musiker zu zeigen: Himmel! Was sind im Geschmack uns die Franzosen über!) — Das Wetter läßt zu wünschen. Aber ich vertrage hier das schlechte Wetter besser und habe noch keinen Tag zur Arbeit verloren. Es grüßt Sie, lieber Freund, mit den allerherzlichsten Wünschen für Berlin und was daran hängt, Ihr N.
— Zuletzt habe ich mich nicht einmal für Ihren guten Brief bedankt, aus dem mir die “Worte „voll der merkwürdigsten, sonderbarsten, unbegreiflichsten Eindrücke“ im Gedächtniß geblieben sind.
1123. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Turin,> 28. Sept. <1888>
Meine liebe Mutter, nur eine Karte, um Dich zu benachrichtigen, wie es dem alten Geschöpf in Turin geht, wo es am 21. Sept. eingetroffen ist. Obwohl das Wetter auch hier unsicher ist, so thut mir doch die ganze Existenz hier wieder über die Maaßen wohl, — ich habe noch keinen Tag Arbeit eingebüßt und bin unvergleichlich besser dran als im Engadin. Turin ist auch der einzige Ort, wo meine Nahrung vollkommen meinen sehr persönlichen Bedürfnissen entspricht. Ein wahrer Glücksfund für mich, dies Turin! — Zum zweiten Mal angelangt, erfreue ich mich einer großen Zunahme an Aufmerksamkeit und Entgegenkommen. Ein neuer eleganter Herbst-Überzieher ist auch da. — Der Schinken war für die Reise, die sehr angreifend war, unschätzbar: ich werde ander Mal Dich bitten, mich ebenso zu versorgen. Zum ersten Mal seit Jahren nicht unterwegs krank geworden. — Sehr in Arbeit. — Dein Dich umarmender
F.
1124. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
Turin, den 4. Okt. 1888
Geehrtester Herr Verleger,
anbei sende ich noch vier Seiten Ms., die in den letzten Abschnitt „Streifzüge eines Unzeitgemässen“ eingeschoben werden mögen. Nicht gerade gegen das Ende hin: wir wollen die letzten 10 Nummern ungefähr die letzten sein lassen. Aber vorher, es liegt wenig daran, wo die Einschiebung gemacht wird. —
Den dritten Bogen mit der Correctur sandte ich Ihnen an dem Tage, an dem von Ihnen der 4te einlief. Zu meiner Verwunderung hat Herr Köselitz (dessen Adresse seit einiger Zeit Berlin poste restante ist) ihn bis heute mir nicht zugeschickt.
Ein böser Fehler im „Fall Wagner“ Seite 20, dritte Zeile von unten Das letztere statt Der letztere. Ich glaubte, das noch corrigirt zu haben. — Mit ergebenstem Gruß Ihr Dr. Nietzsche.
Befinden bedeutend verbessert. Mein Sommer war ganz unerträglich. —
1125. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
<Turin, Anfang Oktober 1888>
Bitte, umgehend drei Exemplare an diese Adresse zu senden: Madame la Baronne M. de Meysenbug
Versailles
France Villa Amiel
Ich projektire eine französische Ausgabe des „Fall Wagner“
1126. An Malwida von Meysenbug in Rom
Turin, den 4. Okt. 1888
Verehrteste Freundin,
eben gab ich meinem Verleger Auftrag, umgehend drei Exenrplare meiner eben erscheinenden Schrift Der Fall Wagner.
Ein Musikanten-Problem an Ihre Versailler Adresse abgehn zu lassen. Diese Schrift, eine Kriegserklärung in aestheticis, wie sie radikaler gar nicht gedacht werden kann, scheint eine bedeutende Bewegung zu machen. Mein Verleger schrieb, daß auf die allererste Meldung von einer bevorstehenden Schrift von mir über dies Problem und in diesem Sinne soviel Bestellungen eingelaufen sind, daß die Auflage als erschöpft gelten kann. — Sie werden sehn, daß ich bei diesem Duell meine gute Laune nicht eingebüßt habe. Aufrichtig gesagt, einen Wagner abthun gehört, inmitten der über alle Maaßen schweren Aufgabe meines Lebens, zu den wirklichen Erholungen. Ich schrieb diesen kleine Schrift im Frühling, hier in Turin: inzwischen ist das erste Buch meiner Umwerthung aller Werthe fertig geworden — das größte philosophische Ereigniß aller Zeiten, mit dem die Geschichte der Menschheit in zwei Hälften auseinander bricht…
Diese Schrift gegen Wagner sollte man auch französisch lesen. Sie ist sogar leichter in’s Französische zu übersetzen als ins Deutsche. Auch hat sie in vielen Punkten Intimitäten mit dem französischen Geschmack, das Lob Bizet(s) am Anfang würde sehr gehört werden. — Freilich, es müßte ein feiner, ein sogar raffinirter Stilist sein, um den Ton der Schrift wiederzugeben —: zuletzt bin ich selber jetzt der einzige raffinirte deutsche Stilist. —
Ich wäre sehr erkenntlich, wenn Sie in diesem Punkte den unschätzbaren Rath von Ms. Gabriel Monod einholen wollten (— ich hätte diesen ganzen Sommer Anlaß gehabt, einen andren Rath einzuholen, den des Ms. Paul Bourget, der in meiner nächsten Nähe wohnte: aber er versteht nichts in rebus musicis et musicantibus: davon abgesehn wäre er der Uebersetzer, den ich brauchte —)
Die Schrift, gut ins Französische übersetzt, würde auf der halben Erde gelesen werden: — ich bin in dieser Frage die einzige Autorität und überdies Psychologe und Musiker genug, um auch in allem Technischen mir nichts vormachen zu lassen.
— Ihren gütigen Brief, hochverehrte Freundin, habe ich mit wahrer Rührung gelesen. Sie haben einfach Recht — ich auch…
Ihnen das Allerherzlichste von Seiten eines alten Freundes wünschend —
Meine Adresse bleibt bis Mitte November, vielleicht noch länger
Torino (Italia) ferma in posta
Mit der Bitte, mich dem verehrten Kreise, in dem Sie leben, angelegentlich zu empfehlen.
N.
Exemplare der Schrift sind vom Verleger gesandt an die Revue, an das Journal des débats und den Figaro.
Eben finde ich noch bei mir ein Exemplar der Schrift. Vielleicht wissen Sie ein Paar für die Frage dieses Briefes noch in Betracht kommende Personen, denen dann ein Exemplar zugedacht sein mag. —
1127. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)
Turin, Sonnabend <6. Oktober 1888>
Geehrter Herr,
bitte, senden Sie mir umgehend das mit Seite 4 bezeichnete Blatt noch einmal zurück. Gestern ist Bogen 4 mit der Köselitzschen Correktur angelangt und sofort an Sie expedirt worden.
Ergebenst
Dr Nietzsche
1128. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
Torino (Italia) ferma in posta am 9. Oct. 1888
Lieber Freund, dies Mal ersuche ich Dich nur um ein Citat aus meinen eignen Schriften, die ich, meiner Gewohnheit nach, nicht bei mir habe. In Menschliches Allzumenschliches Erster Band habe ich in dem Abschnitt, der vom Staat handelt, die Demokratie als die Verfalls-Form des Staates bezeichnet. Ich hätte gern die Seitenzahl dieser Stelle. — Seit dem 22. September hier, sobald die Folgen der schrecklichen Überschwemmungen mir die Abreise aus Sils erlaubten. Befinden wesentlich gegen das vom Sommer verbessert, der mir in der unheimlichsten Erinnerung geblieben ist. Hoffentlich darfst Du von Dir dasselbe melden.
Von Herzen ergeben Dein Nietzsche
1129. An Hans von Bülow in Hamburg
Turin, 9. Oktober 1888.
Verehrter Herr,
Sie haben auf meinen Brief nicht geantwortet, — Sie sollen ein für alle Mal vor mir Ruhe haben, das verspreche ich Ihnen. Ich denke, Sie haben einen Begriff davon, daß der erste Geist des Zeitalters Ihnen einen Wunsch ausgedrückt hatte.
Friedrich Nietzsche.
1130. An Heinrich Köselitz in Berlin
Turin, den 14. Okt. 1888
Lieber Freund,
ich werde mich hüten, Ihnen von meinen Recepten zur „himmlischen und irdischen Reconvalescenz“ zu sprechen, da Sie, nicht nur dem Anscheine nach, sich hundert Mal besser auf dies Problem, die „Lösung“ eingerechnet, verstehn. Unter diesen Umständen ist selbst Berlin kein Umstand: es macht mir das größte Vergnügen, Sie gerade dort zu wissen. Selbst Turin ist eigentlich kein Gesichtspunkt mehr. — In Sachen des „Löwen“ hat Bülow nicht geantwortet: was ihm schlecht bekommen ist. Denn dies Mal war ich’s, der ihm einen groben und vollkommen berechtigten Brief geschrieben hat, um ein für alle Mal mit ihm zu Ende zu sein. Ich habe ihm zu verstehn gegeben, daß „ihm der erste Geist des Zeitalters einen Wunsch ausgedrückt habe“: ich erlaube mir jetzt dergleichen. —
Heute kam Bogen 6 von Naumann an; es werden doch wohl noch 2 Bogen mehr. In der That hat man mich mit dieser Schrift in nuce: sehr Viel auf kleinem Raum. —
Eben trifft ein Brief des Professor Deussen aus Madrid ein: er will noch ganz Spanien durchreisen und doch zur rechten Zeit für die Berliner Vorlesungen wieder am Platz sein. „Die Luft von Madrid, einzig an Reinheit, Trockenheit, Dünne und Durchsichtigkeit, — Alles erscheint in einen farbigen Aether getaucht, glänzend, wie ein überfirnißtes Gemälde.“ —
Wissen Sie, wer den „Fall“ zugeschickt bekommt? Die Wittwe Bizet’s. Und zwar auf eifrigste Fürsprache des Dr. Brandes: er nennt sie „die lieblichste charmanteste Frau mit einem kleinen nervösen tic, der ihr sonderbar gut steht, aber ganz echt, ganz wahr und feurig“. Er meint, daß sie etwas deutsch versteht. „Das Kind Bizet’s ist von idealer Schönheit und Lieblichkeit“. —
Er hat ein Exemplar meiner Schrift an den größten schwedischen Schriftsteller, der ganz für mich gewonnen sei, August Strindberg gegeben, er nennt ihn ein „wahres Genie“, nur etwas verrückt. Insgleichen bittet er für ein paar Personnagen der höchsten Petersburger Gesellschaft um Exemplare, die bereits auf mich aufmerksam gemacht sind, so weit dies bei dem Verbot meiner Schriften in Rußland möglich ist: der Fürst Urussow und die Prinzessin Anna Dmitrievna Ténicheff. Das sind „höhere Feinschmecker“…
Die Franzosen haben den Hauptroman Dostoiewsky’s auf die Bühne gebracht. Insgleichen ist eine Oper „Bacchos“ mir im Gedächtniß hängen geblieben, Musik und Dichtung vom Gleichen, der Name ist mir entwischt. Nicht aufgeführt, nur in Aussicht.
Gegen Turin ist Nichts einzuwenden: es ist eine herrliche und seltsam wohlthuende Stadt. Das Problem, innerhalb der besten Quartiere einer Stadt, nahe, ganz nahe ihrem Centrum, eine Einsiedler-Ruhe, in ungeheuer schönen und weiten Straßen zu finden — dies für Großstädte anscheinend unlösbare Problem ist hier gelöst. Die Stille ist hier noch die Regel, die Belebtheit, die „Großstadt“ gleichsam Ausnahme. Dabei annähernd 300 000 Einwohner.
Das Wetter ist seit einigen Tagen von Nizzahafter Reinheit und Leuchtkraft der Farben, nur etwas zu frisch für mich, der ich durch die Engadiner Winter-Einsperrung geradezu eine Angst vor dem neuen Winter im Leibe habe. Seit Juni habe ich gefroren und wie! Ohne jedwedes Gegenmittel! — Es kommt dazu, daß meine Gesundheit über einen choc nicht hinwegkommt, der durch eine etwas zu lange Dysenterie (Kolik auf deutsch) bedingt ist. Ich glaubte zuerst an Vergiftung: doch haben die normalen Mittel Bismuth und Dower’sches Pulver ihre Schuldigkeit gethan. Immerhin resultirt eine Entkräftung daraus, die auch gegen Kälte empfindlicher macht. —
Es grüßt und umarmt Sie auf das Herzlichste Ihr getreuer Freund
Nietzsche
Soeben, am 15. Morgens, finde ich einen liebenswürdigen Gratulationsbrief vor: schönsten Dank! Um so mehr, als es der einzige ist! — Daß ein Orchester Ihnen wohlthut, erfreut mich über die Maaßen, — Ihre Reise bekommt immer mehr Sinn, — zuviel bereits…
Bogen 6 eben ab an Naumann.
1131. An Malwida von Meysenbug in Rom
Turin, den 18. Okt. 1888
Verehrte Freundin,
das sind keine Dinge, worüber ich Widerspruch zulasse. Ich bin, in Fragen der décadence, die höchste Instanz, die es auf Erden giebt: diesen jetzigen Menschen, mit ihr<er> jammervollen Instinkt-Entartung, sollten sich glücklich schätzen, Jemanden zu haben, der ihnen in dunkleren Fällen reinen Wein einschenkt. Daß dieser Hanswurst es verstanden hat, von sich den Glauben zu erwecken (— wie Sie es mit verehrungswürdiger Unschuld ausdrücken), der „letzte Ausdruck der schöpferischen Natur“, gleichsam ihr „Schlußwort“ zu sein, dazu bedarf es in der That des Genie’s, aber eines Genie’s der Lüge… Ich selber habe die Ehre, etwas Umgekehrtes zu sein — ein Genie der Wahrheit — —
Friedrich Nietzsche.
1132. An Franz Overbeck in Basel
Turin, den 18. Okt. 1888
Lieber Freund,
ich machte gestern, mit Deinem Brief in der Hand, meinen gewohnten Nachmittags-Spaziergang außerhalb Turins. Reinstes Oktoberlicht überall; der herrliche Baumweg, der mich ungefähr eine Stunde dicht am Po entlang führte, vom Herbste noch kaum berührt. Ich bin jetzt der dankbarste Mensch von der Welt — herbstlich gesinnt in jedem guten Sinne des Wortes: es ist meine große Erntezeit. Alles wird mir leicht, Alles geräth mir, obwohl schwerlich schon Jemand so große Dinge unter den Händen gehabt hat. Daß das erste Buch der Umwerthung aller Werthe fertig ist, druckfertig, das melde ich Dir mit einem Gefühle, für das ich kein Wort habe. Es werden vier Bücher; sie erscheinen einzeln. Dies Mal führe ich, als alter Artillerist, mein großes Geschütz vor: ich fürchte, ich schieße die Geschichte der Menschheit in zwei Hälften aus einander. — Mit jener Schrift, über die ich im letzten Brief eine Andeutung machte, sind wir bald am Ende: es ist, um mir möglichst wenig Zeit von meiner jetzt ganz unschätzbaren Zeit zu nehmen, mit ausgezeichneter Präcision gedruckt worden. Dein Citat aus „Menschl. Allzumenschl.“ kam vollkommen zur rechten Zeit, um eingetragen zu werden. — Diese Schrift ist bereits eine hundertfache Kriegserklärung, mit einem fernen Donner im Gebirge; im Vordergrund viel „Lustiges“, von der Art meiner bedingten Lustigkeit… Man kann sich zum Erstaunen leicht mit dieser Schrift über meinen Grad von Heterodoxie unterrichten, die in der That keinen Stein auf dem andern läßt. Gegen die Deutschen gehe ich darin in ganzer Front vor: Du wirst Dich nicht über „Zweideutigkeit“ zu beklagen haben. Diese unverantwortliche Rasse, die alle großen malheurs der Cultur auf dem Gewissen hat und in allen entscheidenden Momenten der Geschichte etwas „Andres“ im Kopfe hatte (— die Reformation zur Zeit der Renaissance; Kantische Philosophie, als eben eine wissenschaftliche Denkweise in England und Frankreich mit Mühe erreicht war; „Freiheits-Kriege“ beim Erscheinen Napoleon’s, des Einzigen, der bisher stark genug war, aus Europa eine politische und wirtschaftliche Einheit zu bilden —) hat heute „das Reich“, diesen Recrudescenz der Kleinstaaterei und des Cultur-Atomismus, im Kopfe, in einem Augenblicke, wo die große Werthfrage zum ersten Mal gestellt wird. Es gab nie einen wichtigeren Augenblick in der Geschichte: aber wer wüßte Etwas davon? Das Mißverhältniß, das hier zu Tage tritt, ist vollkommen nothwendig: im Augenblick, wo eine noch nie geahnte Höhe und Freiheit der geistigen Leidenschaft Besitz ergreift von dem höchsten Problem der Menschheit und für deren Schicksal die Entscheidung heraufbeschwört, muß sich die allgemeine Kleinheit und Stumpfheit um so schärfer dagegen abheben. Gegen mich giebt es durchaus noch keine „Feindschaft“: man hat einfach keine Ohren für irgend Etwas von mir, folglich weder ein Für, noch ein Wider*…
Lieber Freund, lege, wenn ich bitten darf, auch noch die 500 frs. von denen Du schreibst, bei der Handwerkerbank nieder. Ich muß jetzt mit aller Kraft Ökonomie machen, um den außerordentlichen Druckkosten der nächsten drei Jahre gewachsen zu sein. (Ich nehme also an, daß die am 1. Oktober fällig gewordenen 1000 frs. jetzt ganz daselbst deponirt sind.) Ende Dezember werde ich dann freilich die 500 frs. sehr dringend nöthig haben. Mein Plan ist, bis zum 20. November hier auszuhalten (— ein etwas frostiges Vorhaben, da der Winter früh kommt!) Dann will ich nach Nizza und daselbst, mit vollkommenem Bruch aller bisherigen usances, mir die Existenz herstellen, die ich jetzt brauche. Ich habe bisweilen auch an Bastia auf Corsica gedacht: doch fürchte ich mich, mitten in der tiefen Selbstbesinnung, die mir noth thut, vor dem Experiment und seinen Gefahren.
Herr Köselitz ist nach Berlin übergesiedelt; seine Briefe athmen die allerbeste Seelenverfassung, die man auf Erden wünschen kann. Auch geschieht Etwas für ihn: darüber einmal später. Adresse: Berlin SW. Lindenstraße 116 IV 1. —
Es grüßt Dich und Deine liebe Frau auf das Dankbarste
Dein Nietzsche
1133. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Turin> d. 19. Okt. 1888
Dies Mal hat die alte Mutter den Geburtstag des alten Geschöpfs vergessen, der, wenn ich mich nicht irre, auf den 15ten Oktober fällt. Eben traf Dein guter Brief ein, es freut mich, daß die häuslichen Sorgen ein wenig kleiner geworden sind. Hier geht es immer besser; Tag für Tag ein Wetter von vollkommen unbeschreiblicher Reinheit und Lichtfülle — ich habe noch nirgendswo einen solchen Herbst gesehn. Von den wunderbaren Trauben und andren Früchten darf ich gar nicht reden. Die Stadt großartig, aber still, mit allen ihren 300 000 Einwohnern. — Der Ofen-Fabrikant in Dresden will mir den Ofen franco Fracht und Emballage nach Turin für 24 Mark liefern, ebenfalls den Sack mit 1000 Cylindern Heizmaterial für 12 Mark franco und zollfrei bis Turin. Sehr acceptabel! —
Viel Arbeit, aber immer guter Muth!
Dein Fritz
Genau die Adresse: Torino (Italia) poste restante
Engadin hatte mich tief herunter gebracht!!!
1134. An Georg Brandes in Kopenhagen
Turin, den 20 Okt. 1888
Werther und lieber Herr,
wiederum kam ein angenehmer Wind von Norden mit Ihrem Briefe: zuletzt war es bisher der einzige Brief, der ein „gutes Gesicht“, der überhaupt ein Gesicht zu meinem Attentat auf Wagner machte. Denn man schreibt mir nicht. Ich habe selbst bei Näheren und Nächsten einen heillosen Schrecken hervorgebracht. Da ist zum Beispiel mein alter Freund Baron Seydlitz in München unglücklicher Weise gerade Präsident des Münchener Wagner-Vereins; mein noch älterer Freund der Justizrath Krug in Köln Präsident des dortigen Wagner-Vereins; mein Schwager Dr. Bernhard Förster in Südamerika, der nicht unbekannte Antisemit, einer der eifrigsten Mitarbeiter der Bayreuther Blätter; und meine verehrenswürdige Freundin Malvida von Meysenbug, die Verfasserin der „Memoiren einer Idealistin“ verwechselt nach wie vor Wagner mit Michel Angelo…
Andrerseits hat man mir zu verstehn gegeben, ich solle auf der Hut sein vor der „Wagnerianerin“: die hätte in gewissen Fällen keine Skrupel — Vielleicht wehrt man sich, von Bayreuth aus, auf reichsdeutsche und kaiserliche Manier, durch eine Interdiktion meiner Schrift — als „der öffentlichen Sittlichkeit gefährlich“: der Kaiser ist ja in diesem Falle Partei. Man könnte selbst meinen Satz „wir kennen Alle den unaesthetischen Begriff des christlichen Junkers“ als Majestäts-Beleidigung verstehn - - -
Ihre Intervention zu Ehren der Wittwe Bizet’s hat mir großes Vergnügen gemacht. Bitte, geben Sie mir ihre Adresse; insgleichen die des Fürsten Urussow. Ein Exemplar ist an Ihre Freundin die Fürstin Dmitrievna Ténicheff abgesandt. — Bei meiner nächsten Veröffentlichung, die nicht gar zu lange mehr auf sich warten lassen wird (— der Titel ist jetzt: Götzen-Dämmerung. Oder: Wie man mit dem Hammer philosophirt) möchte ich sehr gern auch an den von Ihnen mit so ehrenden Worten mir vorgestellten Schweden ein Exemplar senden. Nur weiß ich seinen Wohnort nicht. — Diese Schrift ist meine Philosophie in nuce — radikal bis zum Verbrechen…
Über die Wirkung des Tristan hätte auch ich Wunder zu berichten. Eine tüchtige Dosis Seelen-Qual scheint mir ein ausgezeichnetes Tonicum vor einer Wagnerischen Mahlzeit. Der Reichsgerichtsrath Dr. Wiener in Leipzig gab mir zu verstehn, auch eine Karlsbader Kur diene dazu…
Ach was Sie arbeitsam sind! Und ich Idiot, der ich nicht einmal dänisch verstehe! — Daß man gerade „in Rußland wieder aufleben“ kann, glaube ich Ihnen vollkommen; ich rechne irgend ein russisches Buch, vor allem Dostoiewsky (französisch übersetzt, um des Himmels Willen nicht deutsch!!) zu meinen größten Erleichterungen.
Von Herzen und mit einem Recht, dankbar zu sein
Ihr Nietzsche
1135. An Malwida von Meysenbug in Rom
Turin, den 20 Okt. 1888.
Verehrte Freundin,
vergeben Sie mir, wenn ich noch einmal das Wort nehme: es könnte das letzte Mal sein. Ich habe allmählich fast alle meine menschlichen Beziehungen abgeschafft, aus Ekel darüber, daß man mich für etwas Andres nimmt als ich bin. Jetzt sind Sie an der Reihe. Ich sende Ihnen seit Jahren meine Schriften zu, damit Sie mir endlich einmal, rechtschaffen und naiv, erklären „ich perhorrescire jedes Wort“. Und Sie hätten ein Recht dazu. Denn Sie sind „Idealistin“ — und ich behandle den Idealismus als eine Instinkt gewordne Unwahrhaftigkeit, als ein Nicht-sehn-wollen der Realität um jeden Preis: jeder Satz meiner Schriften enthält die Verachtung des Idealismus. Es giebt über der bisherigen Menschheit gar kein schlimmeres Verhängniß als diese intellektuelle Unsauberkeit; man hat den Werth aller Realitäten entwerthet, damit, daß man eine „ideale Welt“ erlog… Verstehn Sie nichts von meiner Aufgabe? Was es heißen will „Umwerthung aller Werthe“? Warum Zarathustra die Tugendhaften als die verhängnißvollste Art Mensch ansieht? weshalb er der Vernichter der Moral sein muß? — haben Sie vergessen, daß er sagt „zerbrecht, zerbrecht mir die Guten und Gerechten?“ —
— Sie haben sich — Etwas, das ich nie verzeihe — aus meinem Begriff „Übermensch“ wieder einen „höheren Schwindel“ zurechtgemacht, Etwas aus der Nachbarschaft von Sybillen und Propheten: während jeder ernsthafte Leser meiner Schriften wissen muß, daß ein Typus Mensch, der mir nicht Ekel machen soll, gerade der Gegensatz-Typus zu den Ideal-Götzen von Ehedem ist, einem Typus Cesare Borgia hundert Mal ähnlicher als einem Christus. Und wenn Sie gar, in meiner Gegenwart, den ehrwürdigen Namen Michel Angelo in Einem Athem mit einer durch und durch unsauberen und falschen Creatur wie Wagner in den Mund nehmen, so erspare ich Ihnen und mir das Wort für mein Gefühl dabei. — Sie haben sich, in Ihrem ganzen Leben, fast über Jedermann getäuscht: nicht wenig Unheil, auch in meinem Leben, geht darauf zurück, daß man Ihnen Vertrauen schenkt und daß Ihr Urtheil absolut unvertrauenswürdig ist. Zuletzt vergreifen Sie sich zwischen Wagner und Nietzsche! — Und indem ich das schreibe, schäme ich mich, meinen Namen in diese Nachbarschaft gebracht zu haben. — Also Sie haben nichts von dem Ekel begriffen, mit dem ich, mit allen anständigen Naturen, vor 10 Jahren Wagnern den Rücken kehrte, als der Schwindel, mit den ersten Bayreuther Blättern, handgreiflich wurde? Ihnen ist die tiefe Erbitterung unbekannt, mit der ich, gleich allen rechtschaffnen Musikern, diese Pest der Wagnerischen Musik, diese durch sie bedingte Corruption der Musiker, immer weiter um sich greifen sehe? Sie haben nichts davon gemerkt, daß ich, seit zehn Jahren, eine Art Gewissensrath für deutsche Musiker bin, daß ich an allen möglichen Stellen wieder die artistische Rechtschaffenheit, den vornehmen Geschmack, den tiefsten Haß gegen die ekelhafte Sexualität der Wagnerischen Musik angepflanzt habe? daß der letzte klassische Musiker, mein Freund Köselitz, aus meiner Philosophie und Erziehung stammt? — Sie haben nie ein Wort von mir verstanden, nie einen Schritt von mir verstanden: es hilft nichts; darüber müssen wir unter uns Klarheit schaffen, — auch in diesem Sinn ist der „Fall Wagner“ für mich noch ein Glücksfall — —
Friedrich Nietzsche.
1136. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Turin, 26. Oktober 1888>
Nur ein Kärtchen, meine gute Mutter, damit Du wieder ein Lebenszeichen von mir in die Hände bekommst. Es war gar kein Grund, Dich so zu erschrecken: das macht nichts unter uns. Hoffentlich giebt es bei Dir jetzt auch einen so herrlichen sonnigen Herbst: ich wenigstens habe ein schöneres Wetter überhaupt noch nirgends wo erlebt. Unter diesen Umständen geht Alles glücklich vorwärts; nicht die geringste Ermüdung oder Beschwerde. Der Ofen ist bestellt, doch nicht der ganz kleine, die nächste Nummer. Mein Wirth hat mir angeboten, für den Fall, daß ich Ende Winters ihn nicht behalten wollte, mir die Hälfte dessen, was er mir koste, zu zahlen. Es grüßt und umarmt Dich Dein altes Geschöpf.
1137. An Heinrich Köselitz in Berlin
Turin, d. 30. Okt. 88.
Lieber Freund,
ich sah mich eben im Spiegel an, — ich habe nie so ausgesehn. Exemplarisch gut gelaunt, wohlgenährt und zehn Jahre jünger als es erlaubt wäre. Zualledem bin ich, seitdem ich Turin zur Heimat gewählt habe, sehr verändert in den honneurs, die ich mir selber erweise, — erfreue mich zum Beispiel eines ausgezeichneten Schneiders und lege Werth darauf, überall als distinguirter Fremder empfunden zu werden. Was mir auch zum Verwundern gelungen ist. Ich bekomme in meiner Trattoria unzweifelhaft die besten Bissen, die es giebt: man macht mich immer aufmerksam, was gerade besonders gelungen ist. Unter uns, ich habe bis heute nicht gewußt, was mit Appetit essen ist; ebensowenig, was ich nöthig habe, um bei Kräften zu sein. Meine Kritik der Winter in Nizza ist jetzt sehr herbe: unzureichende und gänzlich gerade mir unzuträgliche Diät. Dasselbe, vielleicht verstärkt, gilt, es hilft nichts, lieber Freund! von Ihrem Venedig. Ich esse hier mit der allerheitersten Verfassung an Seele und Eingeweide, gut vier Mal so viel wie in Panada. — Auch sonst ist Nizza die reine Thorheit gewesen. Landschaftlich ist Turin mir in einer Weise mehr sympathisch als dies kalkige baumarme und stupide Stück Riviera, daß ich mich gar nicht genug ärgern kann, so spät davon loszukommen. Ich sage kein Wort von der verächtlichen und feilen Art Mensch daselbst, — die Fremden nicht ausgenommen. Hier kommt Tag für Tag mit gleicher unbändiger Vollkommenheit und Sonnenhelle herauf: der herrliche Baumwuchs in glühendem Gelb, Himmel und der große Fluß zart blau, die Luft von höchster Reinheit — ein Claude Lorrain, wie ich ihn nie geträumt hatte, zu sehn. Früchte, Trauben in braunster Süße — und billiger als in Venedig! In allen Stücken finde ich <es> hier lebenswerth. Der Café in den ersten Cafés, ein kleines Kännchen, von merkwürdiger Güte, sogar erster Güte, wie ich sie noch nicht fand, 20 ct. — und man zahlt in Turin nicht Trinkgelder. Mein Zimmer, erste Lage im Centrum, Sonne von früh bis Nachmittag, Blick auf den palazzo Carignano, die piazza Carlo Alberto und darüber weg auf die grünen Berge — monatlich 25 frs. mit Bedienung, auch Stiefelputzen. In der Trattoria zahle ich für jede Mahlzeit 1 fr. 15 und lege, was entschieden als Ausnahme empfunden wird, noch 10 ct. bei. Dafür habe ich ganz große Portion minestra sei es trocken, sei es in Bouillon: allergrößte Auswahl und Abwechslung, und die italienischen Mehlfabrikate alle von erster Güte (— ich lerne hier erst die großen Unterschiede) Dann ein ausgezeichnetes Stück zartes Fleisch, vor Allem Kalbsbraten, den ich nirgends so gegessen habe, mit einem Gemüse dazu, Spinat usw. Drei Brödchen, hier sehr schmackhaft, für den Liebhaber die grissini, die ganz dünnen Brodröhrchen, die Turinischer Geschmack sind. — Ein Ofen ist bestellt, aus Dresden: wissen Sie, Carbon-Natron-Heizung — ohne Rauch, folglich ohne Schornstein. Insgleichen lasse ich aus Nizza meine Bücher kommen. Es ist übrigens wundervoll mild, auch die Nächte. Mein Frostgefühl, von dem ich schrieb, hat nur interne Gründe. Es war übrigens sofort wieder in Ordnung. —
Mit Ihrem Brief haben Sie mir eine große Freude gemacht. Im Grunde habe ich’s nicht annähernd von irgend Jemand erlebt, zu hören, wie stark meine Gedanken wirken. Die Neuheit, der Muth der Neuerung ist wirklich ersten Rangs: — was die Folgen betrifft, so sehe ich jetzt mitunter meine Hand mit einigem Mißtrauen an, weil es mir scheint, daß ich das Schicksal der Menschheit „in der Hand“ habe. — Sind Sie zufrieden, daß ich den Schluß mit der Dionysos-Moral gemacht habe? Es fiel mir ein, daß diesen Reihe Begriffe um keinen Preis in diesem Vademecum meiner Philosophie fehlen dürfe. Mit den paar Sätzen über die Griechen darf ich Alles herausfordern, was über sie gesagt ist. — Zum Schluß jene Hammer-Rede aus dem Zarathustra — vielleicht, nach diesem Buche, hörbar… Ich selbst höre sie nicht ohne einen eiskalten Schauder durch den ganzen Leib.
Das Wetter ist so herrlich, daß es gar kein Kunststück ist, etwas gut zu machen. An meinem Geburtstag habe ich wieder Etwas angefangen, das zu gerathen scheint und bereits bedeutend avancirt ist. Es heißt Ecce homo. Oder Wie man wird, was man ist. Es handelt, mit einer großen Verwegenheit, von mir und meinen Schriften: ich habe nicht nur damit mich vorstellen wollen vor dem ganz unheimlich solitären Akt der Umwerthung, — ich möchte gern einmal eine Probe machen, was ich bei den deutschen Begriffen von Preßfreiheit eigentlich risquiren kann. Mein Argwohn ist, daß man das erste Buch der Umwerthung auf der Stelle confiscirt, — legal mit allerbestem Recht. Mit diesem „Ecce homo“ möchte ich die Frage zu einem derartigen Ernste, auch Neugierde steigern, daß die landläufigen und im Grunde vernünftigen Begriffe über das Erlaubte hier einmal einen Ausnahmefall zuließen. Übrigens rede ich von mir selber mit aller möglichen psychologischen „Schläue“ und Heiterkeit, — ich möchte durchaus nicht als Prophet, Unthier und Moral-Scheusal vor die Menschen hintreten. Auch in diesem Sinne könnte dies Buch gut thun: es verhütet vielleicht, daß ich mit meinem Gegensatz verwechselt werde. —
Auf Ihre Kunstwart-Humanität bin ich sehr neugierig. Wissen Sie eigentlich, daß ich Herrn Avenarius im Sommer einen extrem groben Brief geschrieben habe, wegen der Art, mit der sein Blatt Heinrich Heine fallen ließ? — Grobe Briefe — bei mir das Zeichen von Heiterkeit…
Es grüßt Sie auf das Herzlichste, mit lauter unaussprechbaren Neben-, Hinter- und Vorder-Wünschen (— „Eins ist nothwendiger, als das Andre“: also sprach Zarathustra)
N.
1138. An Malwida von Meysenbug in Rom
<Turin,> 5. n. 88.
Warten Sie nur ein wenig, verehrteste Freundin! Ich liefere Ihnen noch den Beweis, daß „Nietzsche est toujours haïssable“. Ohne allen Zweifel, ich habe Ihnen Unrecht gethan: aber da ich diesen Herbst an einem Überfluß von Rechtschaffenheit leide, so ist es mir eine wahre Wohlthat, Unrecht zu thun…
Der „Immoralist“.
1139. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
Turin, den 6. November 1888
Geehrter Herr Verleger,
wundern Sie sich jetzt über Nichts mehr bei mir! Zum Beispiel, daß wir, sobald die Götzen-Dämmerung in jedem Sinne erledigt ist, sofort einen neuen Druck beginnen müssen. Ich habe mich vollkommen davon überzeugt, noch eine Schrift nöthig zu haben, eine im höchsten Grade vorbereitende Schrift, um nach Jahresfrist ungefähr mit dem ersten Buche der Umwerthung hervortreten zu können. Es muß eine wirkliche Spannung geschaffen sein — im andern Falle geht es wie beim Zarathustra. Nun war ich die letzten Wochen auf das Allerglücklichste inspirirt, Dank einem unvergleichlichen Wohlbefinden, das einzig in meinem Leben dasteht, Dank insgleichen einem wunderbaren Herbst und dem delikatesten Entgegenkommen, das ich in Turin gefunden habe. So habe ich eine extrem schwere Aufgabe — nämlich mich selber, meine Bücher, meine Ansichten, bruchstücksweise, so weit es dazu erfordert war, mein Leben zu erzählen — zwischen dem 15. Okt. und 4. November gelöst. Ich glaube, das wird gehört werden, vielleicht zu sehr… Und dann wäre Alles in Ordnung. —
Nun die Frage der Herstellung. Meine Absicht ist, diesem Werke bereits die Form und Ausstattung zu geben, die jenes Hauptwerk haben soll, zu dem es in jedem Sinne eine lange Vorrede darstellt. Hören Sie nun, werthester Herr Verleger, was ich in Vorschlag bringe.
Das gleiche Format, wie das der letzten Schriften. Die Spatien zwischen den Zeilen exakt wie in dem Vorwort vom „Fall Wagner“ und der „Götzen-Dämmerung“. Die Zahl der Zeilen 29. Keine Linie um den Text; dagegen die Zeile breiter. Das Papier nicht anders als das der letzten zwei Schriften. — Würde es Ihnen gefällig sein, mir einen Probedruck einer derartigen Seite einmal zuzusenden, damit ich sie mit Augen sehe? Nehmen Sie irgend ein Manuscript-Stück der Götzen-Dämmerung, das eine ganze Seite füllt, dazu! — Die neue Schrift heißt:
Ecce homo
Wie man wird, was man ist.
Mit freundlichstem Gruß
Ihr Nietzsche
1140. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)
<Turin, 7. November 1888>
Geehrter Herr Verleger,
eben habe ich einen Brief an Sie abgeschickt, da kommt einer aus Basel an mich an, von Herrn Carl Spitteler, der sehr erbaut und dankbar für den „Fall Wagner“ ist. Er hat eine Arbeit darüber im „Bund“ drucken lassen oder läßt sie eben drucken. Dabei schreibt er, Dr. V. Widmann, Redakteur des Bund, sei betrübt, daß ich ihm die Schrift nicht gesandt habe. Thun wir also ein Übriges, es gefällt mir sehr, wenn man gerade in der Schweiz mich nicht in Stich läßt. Auch bin ich das Gegentheil einer nachträgerischen Natur. Bitte, ein Exemplar an die Redaktion des Bund!
Ihr Nietzsche
Die Nouvelle Revue bringt einen Artikel, meldet man mir aus Paris.
1141. An Carl Spitteler in Basel
<Turin, um den 10. November 1888>
Werther und lieber Herr,
sehr erbaut, in diesem „Falle“ Ihr Ja auf meiner Seite zu haben, da es dies Mal ein paar Gründe zuviel für mich giebt, die Stimmen nicht zu zählen, sondern zu wägen.. Eben kündigt man mir auch von Paris aus eine bevorstehende Besprechung der Schrift an: in der Nouvelle Revue. Da habe ich aufrichtig etwas Angst… Das Ja aus der Nachbarschaft von Madame Adam compromittirt. —
Daß ich die Schrift nicht an Herrn Dr. Widmann gesandt habe, hatte seinen Grund in der Befürchtung, dieselbe möchte ihn in seinen Sympathien für J. Brahms verletzen. Da ich aber Ihren Worten entnehmen zu können glaube, er habe sie erwartet, so mache ich mir ein Vergnügen daraus, sie unverzüglich in seine Hände zu liefern.
Was der „Kunstwart“ darüber bringen wird, macht mich neugierig. — Nicht wahr, Sie erweisen mir den Dienst und senden sowohl „Basler Nachrichten“ als „Bund“ nach der gelobten Stadt Turin!
Ihr
aufrichtig ergebener
Nietzsche
1142. An Heinrich Köselitz in Berlin
Torino, via Carlo Alberto 6III.<13. November 1888.>
Lieber Freund,
Ihr letzter Brief gab mir, unter Anderem, einen Seufzer über meine Dummheit ein; ich hätte, mit nur einiger Feinheit, wissen müssen, daß, um Ihres Besuchs in Turin nicht verlustig zu gehn, das Wort „Turin“ ein Paar Briefe lang verboten war. Sie unterschätzen, was mir, unter allen übrigen „Glücksgütern“, hier abgeht — und nicht — nur hier, sondern überall, — und nicht nur seit gestern, sondern seit mehr als einem Jahre: il mio maestro Pietro Gasti. Als Sie neulich eine gewisse Linie Noten mit Aurora-mäßigen Rosenfingern in einen Brief hineinschrieben, war ich ganz einfach neidisch — ich werde mich hüten, zu sagen, auf wen oder was…
Der Herbst ist zu Ende, — er hat in einer für Turiner selbst überraschenden Gleichmäßigkeit von Anfang Oktober bis weit in den November hinein seine goldene Schönheit Tag für Tag da capo gespielt. Jetzt ist es ein wenig düster, die Luft nicht zu kalt; seltsam, wie gut der Farbenton den alten palazzi steht. Für mein Befinden wage ich zu behaupten, daß es so beinahe wohlthätiger als die bewußte Reihe von „schönen Tagen“ ist, mit denen sogar ein Goethe schlecht fertig zu werden wußte. — Nun, keine Lästerung! denn ich bin gut mit ihnen fertig geworden, — zu gut selbst… Mein „Ecce homo. Wie man wird, was man ist“ sprang innerhalb des 15. Oktobers, meines allergnädigsten Geburtstags und -Herrn, und dem 4. November mit einer antiken Selbstherrlichkeit und guten Laune hervor, daß es mir zu wohlgerathen scheint, um einen Spaaß dazu machen zu dürfen. Die letzten Partien sind übrigens bereits in einer Tonweise gesetzt, die den Meistersingern abhanden gekommen sein muß, „die Weise des Weltregierenden“… Das Schlußcapitel hat die unerquickliche Überschrift: Warum ich ein Schicksal bin. Daß dies nämlich der Fall ist, wird so stark bewiesen, daß man am Schluß vor mir als „Larve“ und „fühlende Brust“ sitzen bleibt…
Besagtes Manuscript hat bereits den Krebsgang nach der Druckerei angetreten. Für die Ausstattung habe ich dies Mal dasselbe „beliebt“, wie für die „Umwerthung“: zu der es eine feuerspeiende Vorrede ist. —
Herr Carl Spitteler hat sein Entzücken über den „Fall“ im Bund ausgesprudelt: er hat erstaunlich zutreffende Worte, — er gratulirte mir auch brieflich dazu, daß ich bis an’s Ende gegangen sei: er scheint die Gesammt-Bezeichnung unsrer modernen Musik als décadence-Musik für eine kulturhistorische Feststellung ersten Rangs zu halten. Übrigens hatte er sich zuerst an den „Kunstwart“ gewendet. — Von Paris aus wird mir ein Aufsatz in der revue nouvelle in Aussicht gestellt. Auch eine St. Petersburger Beziehung hat sich daraufhin angeknüpft: Fürstin Anna Dmitrievna Ténicheff. — Dr. Brandes schreibt, daß der größte schwedische Schriftsteller, „ein wahres Genie“, August Strindberg, ganz für mich eingenommen ist. Dieser Tage trifft die Adresse der charmanten Wittwe Bizet’s bei mir ein, der eine Freude mit der Zusendung meiner Schrift zu machen ich sehr ersucht werde. —
Unsre wunderbaren Weiblein von der Turiner Aristokratie haben für Januar einen concorso di bellezza ausgedacht: sie sind ganz übermüthig geworden, als die Bilder der erstgekrönten Schönheiten in Spaa hier anlangten. Ich sah, im Frühling schon, einen derartigen concours in Porträts, bei der letzten Ausstellung: worin sie sich offenbar aller Welt überlegen fühlen, das ist der Busento, der mit vollkommner Naivetät dem Maler anvertraut wird. Unsre neue Mitbürgerin, die schöne Laetitia Bonaparte, jüngst mit dem Duca d’Aosta vermählt und hier residirend, wird jedenfalls bei der Partie sein.
Es grüßt Sie mit der Bitte, die ersten Worte meines Briefs tragisch zu nehmen, Ihr Freund
Nietzsche.
1143. An Franz Overbeck in Basel
Torino, via Carlo Alberto 6, III am 13. Nov. 1888.
Lieber Freund,
der Ausnahmefall des 16. November mag es entschuldigen, wenn ich meinem letzten Briefe heute schon einen Brief nachschicke. Vielleicht seid Ihr schon im Winter: wir sind es beinahe, — die nächsten Berge haben schon eine leichte Perrücke. Hoffentlich wird der Winter entsprechend wie der Herbst gewesen ist: wenigstens hier war er ein wahres Wunder von Schönheit und Lichtfülle, — ein Claude Lorrain in Permanenz. Ich habe über den ganzen Begriff „schönes Wetter“ umgelernt und denke mit Erbarmen an meine stupide Anhänglichkeit an Nizza. — Meine Bücher, die ich dort gelassen habe, sind bereits unterwegs nach Turin. Bei diesem Anlaß erfuhr ich, daß in der pension de Genève meine lustige Tischnachbarin von Ehedem, Frau von Brandeis, eingetroffen ist. — Auch der Carbon-Natron-Ofen ist unterwegs, zu sehr honnetten Preisen, wie ich es dem Dresdener Nieske zu Ehren sagen muß. Ein paar süperbe englische Winter-Handschuhe habe ich mir heute gekauft. — Beim besten Willen, alter Freund Overbeck, gelingt es mir nicht, Dir etwas Schlimmes von mir zu erzählen. Es geht fort und fort in einem tempo fortissimo der Arbeit und der guten Laune. Auch behandelt man mich hier comme il faut, als irgend etwas extrem Distinguirtes, es giebt eine Art, mir die Thüre aufzumachen, die ich noch nirgends wo erlebt habe. Zugegeben, daß ich nur sehr gute Orte besuche, auch mich eines klassischen Schneiders erfreue. — Wir hatten dieser Tage den düstern Pomp eines großen Begräbnisses, an dem ganz Italien betheiligt war: der Conte Robilant, der verehrteste Typus des Piemonteser Adels, übrigens leiblicher Sohn des König Carlo Alberto, wie man hier weiß. An ihm hat Italien einen Premier verloren, der nicht zu ersetzen ist. — Etwas Heiteres dicht nebenbei: Die Schönheiten der Turiner Aristokratie sind ganz übermüthig geworden, als die Bilder der erstgekrönten Schönheiten in Spaa hier anlangten. Sie haben sofort für den Januar auch einen concorso di bellezza in’s Auge gefaßt — ich glaube, sie haben alles Recht dazu! Ich sah, bei der Frühlings-Ausstellung, bereits einen solchen concours in Portraits vor mir. Auch unsre neue Turinerin, die princesse Laetitia Buonaparte, neuvermählt mit dem duc d’Aosta wird mit Vergnügen bei der Partie sein. — Ich habe inzwischen für meinen „Fall Wagner“ wahre Huldigungsschreiben bekommen. Man nennt die Schrift nicht nur ein psychologisches Meisterstück ersten Ranges, auf einem Gebiete, wo Niemand überhaupt bisher Augen gehabt hat — in der Psychologie der Musiker; man nennt die Aufklärung über den décadence-Charakter unserer Musik überhaupt ein culturhistorisches Ereigniß, Etwas, das Niemand außer mir gekonnt hätte: die Worte über Brahms seien das Äußerste von psycholog. Sagacität. — Hr. Spitteler hat in der Donnerstag-Nummer des „Bund“ sein Entzücken ausgedrückt, Herr Köselitz im „Kunstwart“; aus Paris meldet man mir einen Artikel in der Nouvelle Revue als bevorstehend. — Auch sonst gute Nachrichten. Der größte schwedische Schriftsteller, „ein wahres Genie“, wie Dr. Brandes schreibt, August Strindberg, hat sich inzwischen ganz für mich erklärt; auch die Petersburger Gesellschaft sucht Beziehungen zu mir herzustellen, sehr erschwert durch das Verbot meiner Schriften (Fürst Urussow, Fürstin Anna Dimitrievna Ténicheff) Endlich die charmante Wittwe Bizet’s!…
Der Druck der „Götzen-Dämmerung. Oder: wie man mit dem Hammer philosophirt“ ist beendet; das Manuscript des „Ecce homo. Wie man wird, was man ist“ ist bereits in der Druckerei. — Letzteres, von absoluter Wichtigkeit, giebt einiges Psychologische und selbst Biographische über mich und meine Litteratur: man wird mich mit Einem Male zu sehn bekommen. Der Ton der Schrift heiter und verhängnißvoll, wie Alles, was ich schreibe. — Ende nächsten Jahres erscheint dann das erste Buch der Umwerthung. Es liegt fertig da. —
Mit dem allerherzlichsten Glückwunsch für Dein Wohl an Leib und Seele Dein
Nietzsche
1144. An Meta von Salis auf Marschlins
Turin, den 14. Nov. 88
Verehrtes Fräulein,
da ich fortdauernd an einem kleinen Überfluß von guter Laune und andern Glücksgütern leide, so dürfen Sie mir einen völlig sinnlosen Brief wohl nachsehen. Bis jetzt ist Alles besser als gut gegangen; ich habe meine Last gewälzt, wie als ob ich von Natur ein „unsterblicher“ Lastträger wäre. Nicht nur, daß das erste Buch der Umwerthung schon am 30. September zu Ende kam, inzwischen hat sich ein sehr unglaubliches Stück Litteratur, das den Titel führt „Ecce homo. Wie man wird, was man ist“ — auch schon wieder mit Flügeln begabt und flattert, wenn mich nicht Alles täuscht, in der Richtung von Leipzig… Dieser homo bin ich nämlich selbst, eingerechnet das ecce; der Versuch, über mich ein wenig Licht und Schrecken zu verbreiten, scheint mir fast zu gut gelungen. Das letzte Capitel hat zum Beispiel die unerquickliche Überschrift: warum ich ein Schicksal bin. Daß dies nämlich der Fall ist, wird dermaßen stark bewiesen, daß man, am Schluß, bloß noch als „Larve“, bloß noch als „fühlende Brust“ vor mir sitzen bleibt. — Daß es einiger Aufklärung über mich bedarf, bewies mir jüngst noch der Fall Malvida. Ich sandte ihr, mit einer kleinen Bosheit im Hintergrunde, vier Exemplare des „Falls Wagner“, mit dem Ersuchen, für eine gute französische Übersetzung einige Schritte zu thun. „Kriegserklärung“ an mich: Malvida gebraucht diesen Ausdruck. —
Ich habe, unter uns, mich noch einmal mehr davon überzeugt, daß der berühmte „Idealismus“ in diesem Falle im Grunde eine extreme Form der Unbescheidenheit ist, — „unschuldig“, wie es sich von selbst versteht. Man hat sie immer mitreden lassen und, wie mir scheint, hat ihr Niemand gesagt, daß sie mit jedem Satze nicht nur irrt, sondern lügt… Das machen ja die „schönen Seelen“ so, die die Realität nicht sehen dürfen. Verwöhnt, durch ihr ganzes Leben hindurch, sitzt sie zuletzt, wie eine kleine komische Pythia, auf ihrem Sopha und sagt „Sie irren sich über Wagner! Das weiß ich besser! Genau dasselbe, wie Michel Angelo“ — Ich schrieb ihr darauf, daß Zarathustra die Guten und Gerechten abschaffen wolle, weil sie immer lügen. Darauf antwortete sie, sie stimme mir darin völlig bei, denn es gäbe so wenig Wirklich-Gute…
Und das hat mich zeitweilig vor Wagnern vertheidigt! — Turin ist kein Ort, den man verläßt. Ich habe Nizza ad acta gelegt, insgleichen den romantisme eines korsischen Winters (— es lohnt sich zuletzt nicht mehr, die Herrn Banditen sind wirklich abgeschafft, sogar die Könige, die Bellacoscia) — Der Herbst war hier ein Claude Lorrain in Permanenz, — ich fragte mich oft, ob so Etwas auf Erden möglich sei. Seltsam! gegen die Sommer-Misère da oben gab es also wirklich eine Ausgleichung. Da haben wir’s: der alte Gott lebt noch…
— Auch ist man hier sehr delikat gegen mich, meine Lage hat sich gegen die des Frühlings in einem unausrechenbaren Grade verbessert. — Von meiner Gesundheit wage ich gar nicht mehr zu reden: das ist ein überwundener Standpunkt. — Die noch im Engadin fertig gewordene Schrift, die radikalste vielleicht, die es giebt, führt jetzt den Titel:
Götzen-Dämmerung
Oder:
wie man mit dem Hammer philosophirt.
Der Druck ist beendet. — Erwäge ich, was ich Alles zwischen dem 3 Sept. und 4 November verbrochen habe, so fürchte ich, daß allernächst die Erde zittert. Dies Mal in Turin; vor zwei Jahren, als ich in Nizza war, wie billig, in Nizza. In der That meldete der letzte Observatoriumsbericht von gestern bereits eine leichte Oscillation…
Wir hatten den düsteren Pomp eines großen Begräbnisses. Einer der verehrenswürdigsten Piemontesen, der Conte di Robilant, wurde zu Grabe getragen; ganz Italien war in Trauer. Es hat einen Premier verloren, den man mit Ungeduld erwartete — und den Niemand ersetzt.
Mit ausgezeichneter Ergebenheit
Ihr
Nietzsche.
Herr Spitteler hat im „Bund“ einen Schrei des Entzückens über den „Fall“ ausgestoßen. —
1145. An Elisabeth Förster (Entwurf)
<Turin, Mitte November 1888>
Meine Schwester!
Ich habe Deinen Brief empfangen und nachdem ich ihn mehrere Male gelesen habe, sehe ich mich in die ernste Nothwendigkeit versetzt, von Dir Abschied zu nehmen. Jetzt, wo sich mein Schicksal entschieden hat, empfinde ich jedes Deiner Worte an mich mit verzehnfachter Schärfe: Du hast nicht den entferntesten Begriff davon, nächstverwandt mit dem Menschen und Schicksal zu sein, in dem sich die Frage von Jahrtausenden entschieden hat, — ich habe, ganz wörtlich geredet, die Zukunft der Mh. in der Hand. Ich kenne die menschliche Natur und bin unsäglich fern davon, in irgend einem einzelnen Falle zu verurtheilen, was das Verhängniß der Menschheit überhaupt ist; mehr noch: ich verstehe, wie gerade Du, aus vollkommner Unmöglichkeit, die Dinge zu sehn, in denen ich lebe, fast in den Gegensatz von mir hast flüchten müssen. Was mich dabei beruhigt, ist, zu denken, daß Du es auf Deine Weise gut gemacht hast, daß Du Jemanden hast, den Du liebst und der Dich liebt, daß von Dir eine bedeutende Aufgabe zu erfüllen bleibt, der Dein Vermögen sowohl wie Deine Kraft geweiht ist, — endlich, was ich nicht verschweigen will, daß eben diesen Aufgabe Dich etwas fern weg von mir geführt hat, so daß die nächsten chocs dessen, was sich jetzt vielleicht mit mir begiebt, Dich nicht erreichen. — Das Letzte wünsche ich um Deinetwillen: ich bitte vor Allem inständig darum, Dich von keiner freundlichen und in diesem Falle gerade gefährlichen Neugierde verführen zu lassen, die Schriften, die jetzt von mir herauskommen, zu lesen. Dergleichen könnte Dich über alle Maßen verwunden — und mich, in dieser Vorstellung, noch dazu… In diesem Sinne bedaure ich selbst die Schrift gegen Wagner an Dich abgeschickt zu haben, die, inmitten der ungeheuren Spannung, in der ich lebe, eine wahre Wohlthat für mich war — als ein honnettes Duell eines Psychologen mit einem frommen Verführer, den Niemand leicht als solchen erkennt.
Zu aller Beruhigung will ich von mir selber soviel sagen, daß mein Befinden ausgezeichnet ist, von einer Festigkeit und Geduld, wie ich in meinem ganzen früheren Leben keine Stunde gehabt habe; daß das Schwerste mir leicht wird, daß Alles geräth, was ich unter die Hände nehme. Die Aufgabe, die auf mir liegt, ist trotzdem meine Natur — so daß ich jetzt erst einen Begriff von dem habe, was mein mir vorbestimmtes Glück war. Ich spiele mit der Last, welche jeden Sterblichen zerdrücken würde… Denn das, was ich zu thun habe, ist furchtbar, in jedem Sinne des Wortes: ich fordre nicht Einzelne, ich fordre die Menschheit mit meiner entsetzlichen Anklage als Ganzes heraus; wie auch die Entscheidung fällt, für mich oder gegen mich, in jedem Fall haftet unsäglich viel Verhängniß an meinem Namen… Indem ich Dich von Herzen bitte, in diesem Brief keine Härte, sondern das Gegenstück dazu zu sehn, eine wirkliche Humanität, die sich bemüht, überflüssigem Unheil vorzubeugen, empfehle ich mich auch über die Notwendigkeit hinweg, Deiner Liebe…
Dein Bruder.
1146. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Adresse: Torino (Italia), via Carlo Alberto 6III.<17. November 1888>
Meine alte Mutter,
— dies ist der merkwürdigste Zufall, den es geben kann. Mein Verstand stand einen Augenblick still. Stelle Dir vor, daß ich eben im Begriff bin, Dich um die Abschrift einer Stelle aus den gesammelten Werken Wagners zu bitten: Band 7, in dem ein Brief Wagners an mich steht. Davon wollte ich den letzten Satz haben, den ich einer bestimmten Arbeit wegen nöthig habe. Der Brief enthält diesen Satz: jene dritte Seite, die Dir solches Vergnügen gemacht hat. Vollkommen mährchenhaft! —
Es macht mir große Freude, von der wesentlichen Existenz-Verbesserung meines Onkel Oskar zu hören; noch mehr, daß es mir erlaubt ist, ihm ein wenn auch bescheidenes Zeichen meiner Anhänglichkeit zu geben. Ich bitte ihn sehr darum, sich den Frak „anzuhängen“, — ich habe nie daran gedacht, daß ihm noch eine so würdige Zukunft beschieden sein würde. —
(Daß ich meine Kleider verkaufe wie ein alter Jude, darfst Du mir nicht zumuthen, meine gute Mutter. —)
Zu meinem Bedauern fehlt das Couvert des curiosen Briefs: ich habe nicht die entfernteste Ahnung, woher er kommt. Hättest Du den Poststempel mir lieber mitgetheilt, statt der Wanderung von Ort zu Ort, so wäre ich schon auf der Spur. Es muß ein genauer Bekannter sein, darauf weist der Scherz in der Adresse „Röcken bei Lützen“ hin. Kommt er nicht aus Wien? —
Der Ofen ist also, wie ich Deinem Briefe entnehme, von Herrn Kürbitz bezahlt? Es war alles zusammen 68 Mark. Schreibe mir doch im nächsten Brief ausdrücklich, daß die Sache abgemacht ist. Die Sendung an mich konnte erst nach Zahlung abgehn. — Bis jetzt sind die zwei großen Säcke Heizmaterial angekommen, nebst 4 Kästchen Anzünder. An der Kälte habe ich noch mäßig gelitten, ein paar regnerische Tage abgerechnet: da ist man immer empfindlicher. Jetzt ist es wieder schön mild, sogar die Nacht. Das Kälteste war ein einziger Oktobertag, wo wir zwar nicht den Gefrierpunkt, aber beinahe erreichten. Gleich darauf wieder wonnevolle Herbsttage. — Deine Muß-Geschichte im großen Stile hat mir Vergnügen gemacht, ich stimme Dir bei, daß es etwas Gutes ist, — es hält den Kopf und vielleicht auch den Leib frei. Wir sind immer noch im Überfluß der schönsten Trauben: das Pfund allererste Qualität 24 Pfennige nach Eurem Geld. Die Ernährung ist über alle Maßen gut und zuträglich. Man lebt nicht umsonst im Lande der allerberühmtesten Viehzucht und zwar in dessen königl. Residenz. Die Zartheit des Kalbfleisches ist einfach für mich etwas Neues, insgleichen das von mir hochgeschätzte delikate Lammfleisch. Und welche Zubereitung! welche solide, saubere, sogar raffinirte Küche! Ich habe bis jetzt nicht gewußt, was guter Appetit ist: aufrichtig, ich esse 4 mal so viel wie in Nizza, zahle weniger und habe noch nie eine Magenbeschwerde gehabt. Zugegeben, daß man mich, hierin und in andern Dingen, auszeichnet; ich bekomme entschieden die besten Bissen. Aber das ist überall der Fall, wo ich hier verkehre: man nimmt mich für etwas sehr Distinguirtes, Du würdest Dich selber erstaunen, wie stolz und voll Haltung Dein altes Geschöpf hier einherwandelt. Gegen Nizza hat sich Alles gerade umgedreht. — Ein leichter Paletot, mit blauer Seide gefüttert, genügt einstweilen über meinem Gesellschafts-Anzug vollkommen. Der dicke, immer noch ganz ordentliche Überzieher von Hillebrand kommt erst diesen Winter zu Ehren. Zwei Paar Schuhe mit Schnüren. Ungeheure englische Winter-Handschuh. Eine goldne Brille (nicht unterwegs). Jetzt kannst Du Dir das alte Geschöpf vorstellen.
In Liebe
F.
Suche die Stelle und schreibe, von welchem Tag der Brief ist (— er erschien in der Norddeutschen Zeitung)
— Ich vergaß die Chamäleons unter meinem Prunke: sie sind hier ganz fremd, — um so besser!
1147. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig
Turin, den 18. November 1888
Werther Herr Verleger,
Sie haben die Auszeichnung, die Werke des ersten Menschen aller Jahrtausende in Verlag zu haben. Daß Sie einer alten Gans wie Pohl erlauben können, über mich zu reden, gehört zu den Dingen, die nur in Deutschland möglich sind. Glauben Sie nicht, daß ich dergleichen lese: man schreibt mir eben wörtlich aus Leipzig „die Einbildung Pohls, mit seinem beschränkten Artikel Etwas gegen Ihr Weltgericht gethan zu haben ist urkomisch.“ — Ich bekomme von allen Seiten wahre Huldigungs-Schreiben, wie über ein Meisterstück psychologischer Sagacität, das nicht seines Gleichen hat, wie eine wahre Erlösung von einem gefährlichen Mißverständniß… Fragen Sie doch Herrn von Bülow, was er darüber denkt. — Und der Verleger des „Zarathustra“ nimmt gegen mich Partei? —
In aufrichtiger Verachtung
Nietzsche.
1148. An Heinrich Köselitz in Berlin
Turin, den 18. Nov. 1888
Lieber Freund,
Ihr Brief hat Folgen — ich fühle Etwas wie einen Blitz… Sofort lief ein kleines Handschreiben an Fritzsch ab, mit der Unterschrift „in aufrichtiger Verachtung Nietzsche“. Zwei Tage später will ich ihm schreiben: Verhandeln wir mit einander, Herr Fritzsch! Unter diesen Umständen ist es nicht möglich, meine Werke in Ihren Händen zu lassen. Wieviel wollen Sie für Alles zusammen?“ — Wenn es so weit kommt, daß ich alle meine Litteratur in die Hände bekomme, Alles „Naumanniana“, so wäre das jetzt ein Meisterstreich, — zwei Jahre darauf würde Herr F<ritzsch> sich sehr besinnen… Mille grazie! Vielleicht waren Sie damit sogar der Urheber meiner fortuna. — Ich rechne, daß er 3000 Thaler haben will; er hat an Schmeitzner, wenn mich nicht Alles täuscht, 2000 gezahlt. — Erwägen Sie, daß ich damit der Eigenthümer des Zarathustra werde. Schon „Ecce homo“ wird die Augen aufmachen. — Ich falle vor Vergnügen fast vom Stuhle. —
Aber das war nur die Nebensache. Eine ganz andre Frage bewegt mich tief — die Operetten-Frage, die Ihr Brief berührt. Wir haben uns nicht wiedergesehn, seit ich über diesen Frage aufgeklärt bin — oh so aufgeklärt! So lange Sie mit dem Begriff „Operette“ irgend eine Condescendenz, irgend einen Vulgarismus des Geschmacks mitverstehen, sind Sie — verzeihen Sie den starken Ausdruck! — nur ein Deutscher… Fragen Sie doch, wie Monsieur Audran die Operette definirt: „das Paradis aller delikaten und raffinirten Dinge“, die sublimen Süßigkeiten eingerechnet. Ich hörte neulich „Mascotte“ — drei Stunden und nicht ein Takt Wienerei (= Schweinerei) Lesen Sie irgend ein Feuilleton über eine neue Pariser opérette: sie sind jetzt in Frankreich darin wahre Genies von geistreicher Ausgelassenheit, von boshafter Güte, von Archaismen, Exotismen, von ganz naiven Sachen. Man verlangt 10 Stücke ersten Ranges, damit eine Operette, unter einem enormen Druck der Concurrenz, obenauf bleibt. Es giebt bereits eine wahre Wissenschaft von finesses des Geschmacks und des Effekts. Ich beschwöre Sie, Wien ist ein Schweinestall… Wenn ich Ihnen Eine veritable Pariser Soubrette, welche crée —, in einer einzigen Rolle zeigen könnte, z. B. Mad. Judic oder die Milly Meyer, so würden Ihnen die Schuppen von den Augen, ich wollte sagen von der Operette fallen. Die Operette hat keine Schuppen: die Schuppen sind bloß deutsch…
— Und hier kommt eine Art Recept. Für unsre Leiber und Seelen, lieber Freund, ist eine kleine Vergiftung mit Parisin einfach eine „Erlösung“ — wir werden wir, wir hören auf, horndeutsch zu sein… Vergeben Sie mir, aber deutsch schreiben kann ich erst von dem Augenblick an, wo ich mir Pariser als Leser denken konnte. Der „Fall Wagner“ ist Operetten-Musik…
Dieser Tage machte ich die gleiche Reflexion bei einem wahrhaft genialen Werk eines Schweden, des mir von Dr. Brandes als Hauptverehrer vorgestellten Herrn August Strindberg. Es ist die französische Cultur auf einem unvergleichlich stärkeren und gesünderen fond: der Effekt ist bezaubernd: „Les mariés“ heißt es, Paris 1885. — Sehr curios, wir stimmen über das „Weib“ absolut überein, — es war bereits Dr. Brandes aufgefallen. —
Moral: nicht Italien, alter Freund! Hier, wo ich die erste Operetten-Gesellschaft Italiens habe, sage <ich> mir bei jeder Bewegung der hübschen, oft allzuhübschen Weiberchen, daß sie eine leibhafte Carikatur aus jeder Operette machen. Sie haben ja keinen esprit in den Beinchen, — geschweige im Köpfchen… Offenbach ist in Italien ebenso dunkel (will sagen hundsgemein) als in Leipzig. —
Sehen Sie, wie weise ich jetzt werde! Wie ich selbst die Werthe meines Freundes Köselitz umwerthe! — Warum nicht Bruxelles?… Am besten freilich Paris selbst. Die Luft thut’s. — Das wußte Wagner: sich in Scene setzen hat er nur in Paris gelernt.
Ich bitte, auch diesen Brief tragisch zu nehmen. Mit aufrichtiger Achtung Ihr
N.
1149. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
Turin, den 19. Nov. 1888
Geehrter Herr Verleger,
Ihnen zu Dank für Ihren Brief verpflichtet, beeile ich mich, meine Entschließungen mitzutheilen.
Die Probe-Seite gefällt mir nicht. Ich finde die Seite der zwei letzten Schriften, mit dem Strich, nicht nur bei weitem eleganter, sondern auch leichter lesbar. Der Satz wird durch die breiteren Spatien für das Auge schwer überschaubar: und darin vor Allem liegt eine Gefahr für das Verstandenwerden. Bleiben wir also bei der Seite der Götzen-Dämmerung, bleiben wir auch beim Strich. —
Ein zweiter Punkt, über den <ich> zu Ihnen reden will, wie ich vor mir rede, ist die Frage der Ausstattung resp. Papier. In der Voraussicht einer vielleicht sogar excessiven Berühmtheit meines Namens für eine nicht allzulange Zeit bin ich mir selber einige Respekts-Rücksichten schuldig, bei denen materielle Erwägungen nicht in Betracht kommen dürfen. Mein Wille ist also, daß wir dasselbe Papier auch für „Ecce homo“ festhalten — daß wir aber, so wohl für Götzen-Dämmerung als für die neue Schrift die gleichen Preise festhalten wie für den „Fall Wagner“. —
Später — wer weiß? werden wir einmal auch Geld verdienen: ich wage nicht anzudeuten, in welchem Maaße die Umwerthung gelesen werden wird. Einstweilen liegt Alles daran, daß man sich ein Jahr zum Mindesten überall mit mir beschäftigt.
Die neue Schrift enthält über jede meiner früheren Schriften ein eigenes Capitel, das den Titel der einzelnen Schrift zur Überschrift hat. Damit erledigt sich, wie ich glaube, Ihr Vorschlag: dem auch das widerspricht, daß es keine mittheilenswerthen Recensionen giebt. Es ist Alles jammervolles Zeug, ohne Ausnahme. —
Herrn Dr. Fuchs bitte ich „Jenseits“ und „Genealogie der Moral“ zu senden, mitsammt die Adresse des Herrn Köselitz. — Was man über den „Fall Wagner“ schreibt, will ich nicht sehn. —
Wenn Sie im Stande sind, den Druck sofort und mit Eifer beginnen zu lassen, so werde ich Grund haben, Ihnen dankbar zu sein
Ihr ergebenster
Prof. Dr. Nietzsche
Torino, via Carlo Alberto 6, III
Von der Götzen-Dämmerung bitte ich mir die ersten 4 Exemplare aus. Gesetzt, daß Sie noch sich Zeit nehmen bis zur Buchbinder-Arbeit, so könnten Sie nur die Aushängebogen des Buchs schicken. —
Herr Spitteler ist mit Feuer für mich im „Bund“ eingetreten. — Die Paar Worte, die er bei dieser Gelegenheit über mich überhaupt sagt, sind bei weitem das Beste, was bisher öffentlich gesagt worden ist.
1150. An Carl Spitteler in Basel (Postkarte)
Turin, den 19. Nov. <1888>
Werthester Herr,
Ihre Worte über Nietzsche en bloc sind das Achtbarste, was ich bis jetzt gelesen habe. — Daß ich meine „Bekehrung“ an Carmen anknüpfe, ist natürlich — Sie werden keinen Augenblick daran zweifeln — eine Bosheit mehr von mir. Ich kenne den Neid, die Wuthausbrüche Wagners gegen den Erfolg von Carmen — den größten, anbei gesagt, den die Geschichte der Oper hat. —
Mit aufrichtiger Neigung
Nietzsche
1151. An Georg Brandes in Kopenhagen
Torino, via Carlo Alberto 6, III den 20. Nov. 1888.
Verehrter Herr,
Vergebung, daß ich auf der Stelle antworte. Es giebt jetzt in meinem Leben curiosa von Sinn im Zufall, die nicht ihres Gleichen haben. Vorgestern erst; jetzt wieder. — Ach, wenn Sie wüßten, was ich eben geschrieben hatte, als Ihr Brief mir seinen Besuch machte…
Ich habe jetzt mit einem Cynismus, der welthistorisch werden wird, mich selbst erzählt: das Buch heißt „Ecce homo“ und ist ein Attentat ohne die geringste Rücksicht auf den Gekreuzigten: es endet in Donnern und Wetterschlägen gegen Alles, was christlich oder christlich-infekt ist, bei denen Einem Sehn und Hören vergeht. Ich bin zuletzt der erste Psychologe des Christenthums und kann, als alter Artillerist, der ich bin, schweres Geschütz vorfahren, von dem kein Gegner des Christenthums auch nur die Existenz vermuthet hat. — Das Ganze ist das Vorspiel der Umwerthung aller Werthe, das Werk, das fertig vor mir liegt: ich schwöre Ihnen zu, daß wir in zwei Jahren die ganze Erde in Convulsionen haben werden. Ich bin ein Verhängniß. —
— Errathen Sie, wer in „Ecce homo“ am schlimmsten wegkommt? Als die zweideutigste Art Mensch, als die im Verhältniß zum Christenthum fluchwürdigste Rasse der Geschichte? Die Herrn Deutschen! — Ich habe ihnen furchtbare Dinge gesagt… Die Deutschen haben es zum Beispiel auf dem Gewissen, die letzte große Zeit der Geschichte, die Renaissance, um ihren Sinn gebracht zu haben — in einem Augenblick, wo die christlichen Werthe, die décadence-Werthe, unterlagen, wo sie in den Instinkten der höchsten Geistlichkeit selbst überwunden durch die Gegeninstinkte waren, die Lebens-Instinkte!… Die Kirche angreifen — das hieß ja das Christenthum wiederherstellen. — Cesare Borgia als Papst — das wäre der Sinn der Renaissance, ihr eigentliches Symbol…
— Auch dürfen Sie darüber nicht böse sein, daß Sie selber an einer entscheidenden Stelle des Buchs auftreten — ich schrieb sie eben — in diesem Zusammenhange, daß ich das Verhalten meiner deutschen Freunde gegen mich stigmatisire, das absolute In-Stichgelassen-sein mit Ehre wie mit Philosophie. — Sie kommen, eingehüllt in eine artige Wolke von Glorie, auf einmal zum Vorschein…
Ihren Worten über Dostoiewsky glaube ich unbedingt; ich schätze ihn andererseits als das werthvollste psychologische Material, das ich kenne, — ich bin ihm auf eine merkwürdige Weise, dankbar, wie sehr er auch immer meinen untersten Instinkten zuwidergeht. Ungefähr mein Verhältniß zu Pascal, den ich beinahe liebe, weil er mich unendlich belehrt hat: der einzige logische Christ…
— Vorgestern las ich, entzückt und wie bei mir zu Hause, les mariés von Herrn August Strindberg. Meine aufrichtige Bewunderung, der nichts Eintrag thut, als das Gefühl, mich dabei ein wenig mitzubewundern… Turin bleibt meine Residenz —
Ihr Nietzsche, jetzt Unthier…
Wohin darf ich Ihnen die „Götzen-Dämmerung Oder:
wie man mit dem Hammer philosophirt“ senden? Im Fall, daß Sie noch 14 Tage in Kopenhagen sind, ist keine Antwort nöthig. —
1152. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig (Postkarte)
<Turin, 20. November 1888>
Verhandeln Sie mit mir, Herr Fritzsch! Unter diesen Umständen ist es mir nicht erlaubt, meine Schriften in Ihren Händen zu lassen. Wieviel verlangen Sie für alles zusammen? (Den Hymnus ausgenommen, der Ihr Eigenthum bleiben soll). Sie haben mir nie einen Begriff davon gegeben, was und wieviel sich davon verkauft. Ich will durchaus nicht, daß Sie durch mich Einbusse haben. Zuletzt nehme ich Ihnen auch den Hymnus ab.
1153. An E. Kürbitz in Naumburg
Turin d. 22 Nov 88
Geehrtester Herr,
verlangen Sie, bitte, unverzüglich die 68 Mark von der Firma Nieske wieder zurück, in Anbetracht der Warnung seitens der preuß<ischen> Regierung vor diesem Ofen.
Ihr ergebenster
Prof. Dr. Nietzsche
1154. An Ad. Fleischmann in München
Torino, via Carlo Alberto 6, III 24 Nov. 1888
Sehr geehrter Herr Doktor,
zum Glück hat Ihr Brief mich doch noch in meiner Turiner Verborgenheit zu entdecken gewußt, — die Antwort darauf will ich heute noch auf die Post geben. Diese Schrift verdient im höchsten Grade die Aufmerksamkeit aller feineren und raffinirten Geister; ich bekomme überall her, aus St. Petersburg und Paris, wahre Huldigungs-Schreiben wie über einen Exceß psychologischer Sagacität in einem extrem undurchsichtigen Falle. Zuletzt giebt es Niemanden, der Wagner so sehr aus der Nähe kennt, wie ich — die Zeit in Tribschen war in meinem Leben eine merkwürdig eingreifende, wir waren fast alle Wochen beisammen. — Frau Wagner wird am besten wissen, wie ich das Verborgenste von dieser versteckten Natur errathen habe, aber sie hat hundert Gründe, den mythischen Wagner aufrecht zu halten…
Das Wesentlichste der Schrift ist zuletzt nicht die Psychologie Wagners, sondern die Feststellung des décadence-Charakters unsrer Musik überhaupt: dies ist eine entscheidende Einsicht, wie sie nur Jemand finden konnte, der in seinen tiefsten Instinkten Musiker ist und der sich auch von dem Klügsten der Klugen nichts vormachen läßt.
Meine Adresse ist für den ganzen Winter die gleiche.
Hochachtungsvoll
Dr. Nietzsche
1154a. An August Strindberg in Holte
<Turin, 24. November 1888>
Sollte man das nicht übersetzen? Es ist Dynamit.
Der Antichrist.
1155. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig
Turin, am 25. November 1888.
Herrn E. W. Fritzsch
ich bekenne, daß ich in so kurzer Zeit das Geld nicht zu schaffen weiß, so daß Sie zunächst an Nichts gebunden sind. Sie werden mir erlauben, daß ich die Unterhandlungen in einem späteren Termin wieder aufnehme.
Ergebenst
Dr. Nietzsche
1156. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
Turin, den 25. Nov. 1888
Geehrter Herr Verleger,
die „Götzen-Dämmerung“ gefällt mir sehr, ich fühle mich noch einmal in dem bestärkt, was ich zuletzt schrieb, daß wir die gleiche Ausstattung für das „Ecce homo“ festhalten. — Zwei sehr dumme Fehler, die, wie ich fürchte, auf meine Verantwortung resp. schlechte Augen zurückgehn p. 137 Z. 7 Agleoph statt Aglaop p. 52 Z. 5 Symptomologie statt Symptomatologie. —
Die Worte, mit denen die Schrift in dem Buchhändler-Börsenblatt anzuzeigen wäre, habe ich Herrn Köselitz überlassen, der Ihnen darüber Mittheilung machen wird. Es schadet Nichts, wenn dieselben etwas stark sind; es ist bei dieser Schrift nicht erlaubt, Recensions-Exemplare an Zeitungen zu senden.
Einige sehr klug gewählte Inserate müssen dies Mal versucht werden. — Ein sehr urteilsfähiger älterer Herr, Mitarbeiter der Hauptrevuen („Gegenwart“ „deutsche Revue“, „unsere Zeit“, auch „Bl<ätter> für litter. Unterhaltung“) Dr. Fleischmann, Justizamtmann früher, hat auf die artigste Weise mir von München aus seine Bereitheit erklärt, über den „Fall Wagner“ des Längeren zu berichten (— man hat ihn in München allgemein drum gebeten) Der Dichter Martin Greif in München hat mir zum Dank seine Werke überschickt. —
Was die Freiexemplare der Götz<en>-D<ämmerung> betrifft, so will ich 3 (von den 4 übersandten) auf mich nehmen: Ihnen bleibe dann die Versendung an folgende Adressen anheimgestellt:
Nach Basel, Schweiz:
-
Herrn Oberbibliothekar Dr. Sieber
-
Dem Vorstande der Basler Lesegesellschaft zu geehrten Händen.
-
der Redaktion der „Basler Nachrichten“
-
Herrn Karl Spitteler Gartenstraße 74
-
Herrn Professor Dr. Overbeck
Nach Berlin:
-
Herrn Prof. Dr. Deussen Berlin W. Kurfürstendamm 142
-
Herrn Heinrich Köselitz
Nach Dresden:
- Herrn Ferdinand Avenarius Stephanienstr. 1.
Nach Danzig:
- Herrn Dr. Carl Fuchs
Nach St. Petersburg:
- Monsieur le Prince Urussow Sergiewskaia 79.
Wenn es Ihnen möglich wäre, mir für den „Fall Wagner“ baldigst mein conto einzuhändigen, so würde ich Ihnen verpflichtet sein.
Herr E. W. Fritzsch hat eine haarsträubende Taktlosigkeit gegen mich verübt und einer alten Gans erlaubt, mich in der armselig persönlichsten Weise in seinem eignen Blatt zu verhöhnen. Darauf habe ich Fritzsch angefragt, wieviel er für meine ganze Litteratur haben wolle, — es sei mir nicht erlaubt, dieselbe in solchen Händen zu lassen. Die Antwort liegt bei. Aufrichtig, ich verstehe sie nicht. Es scheint mir, er will 10 000 Thaler haben
Hochachtungsvoll Ihr
Prof. Dr. Nietzsche
Sobald „Ecce homo“ gewirkt hat — es wird ein Erstaunen ohne Gleichen hervorrufen — thue ich die bereits erwogenen Schritte, um Übersetzungen der „Umwerthung“ in 7 Hauptsprachen durch lauter ausgezeichnete Schriftsteller Europas vorzubereiten. Das Werk soll zugleich in allen Sprachen erscheinen. —
NB. Ich sehe einer schwedischen Übersetzung der „Götzen-Dämmerung“ entgegen
Aufrichtig, ich möchte meine Schr<ifte>n weg von Fritzsch. In zwei Jahren ha<be>n sie einen vertausendfachten Werth. An meinem „Zarathustra“ allein kann man Millionär werden: es ist das entscheidendste Werk, das es giebt.
1157. An Heinrich Köselitz in Berlin
Torino, via Carlo Alberto 6, III Montag <25. November 1888>
Lieber Freund,
vielleicht, daß auch bei Ihnen schon die Götzen-Dämmerung eingetroffen ist? Bei mir langten gestern die ersten Exemplare an. Zwei dumme Fehler: „Symptomologie“ statt „Symptomatologie“ und „Agleophamus“ statt „Aglaophamus“: dergleichen macht einen Philologen wüthend. — Ich habe als Preis für dies Buch 1 1/2 Mark festgesetzt: Sie verstehen? — Dieselbe Ausstattung, derselbe Preis auch „Ecce homo“, das jetzt in Arbeit kommt. — Erlösen Sie mich von einer Schwierigkeit und geben Sie Naumann Etwas über die Götzen-Dämmerung für das Buchhändler-Börsenblatt. Sie dürfen die Ausdrücke so stark als möglich nehmen. — Fritzsch will circa 10 000 Thaler von mir. — Die Frage der „Preßfreiheit“ ist, wie ich jetzt mit aller Schärfe empfinde, eine bei meinem „Ecce homo“ gar nicht aufzuwerfende Frage. Ich habe mich dergestalt jenseits gestellt, nicht über das, was heute gilt und obenauf ist, sondern über die Menschheit, daß die Anwendung eines codex eine Komödie sein würde. Übrigens ist das Buch reich an Scherzen und Bosheiten, weil ich mit aller Gewalt mich als Gegentypus zu der Art Mensch, die bisher verehrt worden ist, präsentire: — das Buch ist so „unheilig“ wie möglich…
Ich bekenne, daß mir die Götzen-Dämmerung als vollkommen erscheint; es ist nicht möglich, entscheidendere Dinge deutlicher und delikater zu sagen… Man kann 10 Tage nicht nützlicher verwenden, denn mehr Zeit hat mich das Buch nicht gekostet. —
Jakob Burckhardt hat von mir das erste Exemplar bekommen.
Wir haben nach wie vor ein bezauberndes Frühjahr-Wetter; ich sitze eben mit aller Heiterkeit und leicht bekleidet, vor offnem Fenster.
Eine letzte Erwägung. Sehen Sie, lieber Freund, „Kreise stören“ — das ist wirklich in meiner jetzigen Existenz unmöglich. Es hat etwas auf sich mit dem „Kreise“… Aber etwas Anderes: ich bin mitunter vollkommen außer mir, kein aufrichtiges und unbedingtes Wort zu irgend Jemand sagen zu können — ich habe gar Niemanden dazu außer Herrn Peter Gast… Auch finden Sie in meiner im Grunde heiteren und boshaften „Aktualität“ vielleicht mehr Inspiration zur „Operette“ als sonstwo: ich mache so viele dumme Possen mit mir selber und habe solche Privat-Hanswurst-Einfälle, daß ich mitunter eine halbe Stunde auf offner Straße grinse, ich weiß kein andres Wort.… Neulich fiel mir ein, Malvida an einer entscheidenden Stelle von „Ecce homo“ als Kundry vorzuführen, welche lacht… Ich habe 4 Tage lang die Möglichkeit verloren, einen gesetzten Ernst in mein Gesicht zu bringen —
Ich denke, mit einem solchen Zustand ist man reif zum „Welt-Erlöser“?…
Kommen Sie…
Ihr Freund N.
— Die Art Öfen, die ich mir für schweres Geld aus Deutschland bestellt habe (68 Mark) sind jetzt hochobrigkeitlich verboten, als lebensgefährlich. — Ein artiger Ofen mit Gas-Heizung tritt an seine Stelle. Preis 65 frs. — man steckt das Streichholz hinein, da gehts los; hat man genug Wärme im Zimmer, löscht man es —
Eben ist eine Wagnerisirende Oper, Nerone, furchtbar hier durchgefallen. Der Hauptsänger hat die Flucht ergriffen.
Das Neueste ist der Beschluß Turins, ein Opernhaus allerersten Ranges zu baun. —
1158. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
Turin, den 26. Nov. 88
Geehrtester Herr Verleger,
ich schreibe Ihnen noch einmal; die Frage, um die es sich handelt, ist ersten Ranges. Alles erwogen, ist die unqualificirbare Handlung des E. W. Fritzsch ein Glücksfall, der nicht hoch genug zu schätzen ist. Ohne diesen Handlung, welche nicht nur eine Taktlosigkeit, sondern eine Ehren-Verletzung ist (— er hat mir die armseligsten persönlichen Motive für meine Schrift gegen Wagner untergeschoben, mir dem Unpersönlichsten Menschen, den es vielleicht gegeben hat) würde ich kein Mittel haben, meine Schriften aus seinen Händen zu ziehn. Jetzt aber kann ich es nicht nur, ich muß es: in einem Augenblick, wo mein Leben in einer ungeheuren Entscheidung ist und eine Verantwortlichkeit auf mir liegt, für die es keinen Ausdruck giebt, vertrage ich es nicht, daß man Gemeinheiten an mir begeht. Der Verleger des „Zarathustra“! des ersten Buches aller Jahrtausende! in dem das Schicksal der Menschheit einbegriffen ist! das in wenig Jahren in Millionen von Exemplaren sich verbreiten wird!… Sobald „Ecce homo“ heraus ist, bin ich der erste Mensch, der jetzt lebt.
Verhandeln Sie, geeintester Herr Verleger, doch einmal persönlich mit E. W. Fritzsch, sagen Sie ihm, mein Entschluß sei unwiderruflich, er habe mich in meiner Ehre beleidigt. Ich möchte, daß Sie meine ganze Litteratur zusammen haben, — ich möchte andrerseits, daß jetzt, wo Alles sich bei mir entscheidet, auch wir unter uns über ein normaleres Verhältniß zwischen Autor und Verleger nachdächten. Ich werde niemals Honorare wollen, das gehört zu meinen Principien; aber ich möchte, daß Sie vollen Antheil an dem Erfolg, an dem Sieg meiner Litteratur hätten. — Die „Umwerthung aller Werthe“ wird ein Ereigniß ohne Gleichen, <nic>ht etwa ein litterarisches, sondern ein alles Bestehende Erschütternde<s>. Es ist möglich, daß es die Zeitrechnung verändert. —
Die in den Händen von Fr<itzsch> befindliche Litteratur müßte so schnell wie möglich in Ihre Hände übergehn, bevor F<ritzsch> einen Begriff davon bekommt, was er an ihr hat. Schon die Götzen-Dämmerung ist darin gefährlich. Ich weiß im Augenblick nicht, wie ich die von ihm verlangte Summe beschaffe, — vielleicht gelingt es Ihnen, dieselbe etwas zu verringern.
Ihr ergebenster
Dr. Nietzsche
Anbei ein Nachtrag zum E. h., — es wird noch mehr kommen
Dies Papier, worauf ich schreibe, gefällt mir am besten.
1159. An Paul Deussen in Berlin
Torino, via Carlo Alberto 6,III am 26. Nov. 88
Lieber Freund,
ich habe nöthig, in einer Sache allerersten Rangs mit Dir zu reden. Mein Leben kommt jetzt auf seine Höhe: noch ein paar Jahre, und die Erde zittert von einem ungeheuren Blitzschlage. — Ich schwöre Dir zu, daß ich die Kraft habe, die Zeitrechnung zu verändern. — Es giebt Nichts, das heute steht, was nicht umfällt, ich bin mehr Dynamit als Mensch. — Meine Umwerthung aller Werthe, mit dem Haupttitel „der Antichrist“ ist fertig. In den nächsten zwei Jahren habe ich die Schritte zu thun, um das Werk in 7 Sprachen übersetzen zu lassen; die erste Auflage in jeder Sprache c. eine Million Exemplare. — Bis dahin erscheint noch von mir:
-
Götzen-Dämmerung. Oder: wie man mit dem Hammer philosophirt. Das Werk ist fertig, ich habe gestern den Auftrag gegeben, daß Dir eins der ersten Exemplare zugeht. Lies es, ich bitte Dich, mit dem tiefsten Ernste, wie sehr es auch immer im Verhältniß zu dem, was kommt, ein heiteres Buch ist.
-
Ecce homo. Wie man wird, was man ist. Dies Buch handelt nur von mir, — ich trete zuletzt darin mit einer welthistorischen Mission auf. Es ist bereits im Druck. — Darin wird zum ersten Mal Licht über meinen Zarathustra gemacht, das erste Buch aller Jahrtausende, die Bibel der Zukunft, der höchste Ausbruch des menschlichen Genius, in dem das Schicksal der Menschheit einbegriffen ist. — Und hier kommt mein Anliegen, dessenthalben ich schreibe.
Ich will meinen Zarathustra zurück aus den Händen von E. W. Fritzsch, ich will meine ganze Litteratur selbst in den Händen haben, als deren Alleinbesitzer. Sie ist nicht nur ein ungeheures Vermögen, denn mein Zarathustra wird wie die Bibel gelesen werden, — sie ist einfach in den Händen von E. W. Fritzsch nicht mehr möglich. Dieser unsinnige Mensch hat mich eben jetzt in meiner Ehre beleidigt: ich kann gar nicht anders, ich muß ihm die Bücher wegnehmen. Auch habe ich schon mit ihm verhandelt: er will für meine ganze Litteratur c. 10,000 Thaler. Zum Glück hat er nicht den geringsten Begriff davon, was er besitzt. — In summa: ich brauche 10,000 Thaler. Denke nach, alter Freund! Ich will nichts geschenkt, es handelt sich um ein Anleihen zu jeden Zinsen, die gewünscht werden. Ich habe übrigens keinen Pfennig Schulden, besitze einige Tausende noch zum Verbrauchen und bin durch meine Basler Pension außer Sorge. (— Die „Götzen-Dämmerung und der „Ecce homo“ werden mit einem gewissen Gelde gedruckt, das irgend ein Wunder mir seiner Zeit aus Berlin zukommen ließ.) Nur müßte das Geld mir bald zu Gebote stehn, bevor nämlich F<ritzsch> eine Witterung bekommt, was er hat. Dann würde ich Alles beieinander in den Händen des vertrauenswürdigen Naumann in Leipzig haben.
Dein Freund Nietzsche
(— mit bestem Gruß an die „tapfere Kameradin“ —)
Karte aus Madrid erhalten. — Meine Gesundheit ist jetzt wundervoll, ich bin dem Stärksten gewachsen, — Du würdest Deinen Ohren nicht trauen, wenn Du hörtest, daß die 3 genannten Ungeheuer von Büchern zwischen dem 24 August und 4 Nov. entstanden sind!
1160. An August Strindberg in Holte
Torino, Via Carlo Alberto, 6, III den 27. November 1888.
Hochgeehrter Herr,
ich denke, unsre Sendungen haben sich gekreuzt? — Ich las zwei Mal mit tiefer Bewegung Ihre Tragödie; es hat mich über alle Maaßen überrascht, ein Werk kennen zu lernen, in dem mein eigner Begriff von der Liebe — in ihren Mitteln der Krieg, in ihrem Grunde der Todhaß der Geschlechter — auf eine grandiose Weise zum Ausdruck gebracht ist.
— Aber dies Werk ist ja prädestinirt, jetzt in Paris im théâtre libre des Ms. Antoine aufgeführt zu werden! Fordern Sie das einfach von Zola! Im Augenblick legt er großen Werth darauf, daß man sich seiner erinnert. —
— Ich bedaure im Grunde die Vorrede, obwohl ich sie nicht missen möchte: sie enthält lauter unbezahlbare Naivetäten. Daß Z<ola> nicht „für die Abstraktion“ ist, erinnert mich an einen deutschen Übersetzer eines Romans von Dostoiewsky, der auch nicht „für die Abstraktion“ war: er hatte „des raccourcis d’analyse“ einfach weggelassen, — sie „genirten“ ihn… Und daß Z<ola> Typen nicht von „êtres de raison“ auseinander zu halten weiß! daß er den état civil complet für die Tragödie verlangt! Aber fast geschüttelt vor Lachen habe ich mich, als er zuletzt gar eine Rassen-Frage daraus macht! So lange es überhaupt Geschmack in Frankreich gab, hat man immer aus Rassen-Instinkt gerade das abgelehnt, was Zola will: gerade la race latine protestirt gegen Zola. Zuletzt ist er ein moderner Italiäner, — er huldigt dem verismo…
In aufrichtiger Hochschätzung
Ihr
Nietzsche.
1161. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)
<Turin, 27. November 1888>
Geehrtester Herr Verleger, ich werde Sie bitten müssen, den zweiten Theil des Ms. mir noch einmal zurückzuschicken, da ich Einiges noch hineinlegen will. Es könnte sonst Confusion geben. Also die ganze zweite Hälfte des Ms. von dem Abschnitt an, der als Überschrift hat: Also sprach Zarathustra. Ich nehme an, daß dies im Druck keinen Augenblick Verzögerung macht, da ich das Ms. unmittelbar zurückschicke, und zunächst noch eine Menge Ms. in Arbeit ist — Zur Beschaffung des Geldes für F<ritzsch> habe ich gestern noch einen Schritt gethan: ich gebe Ihnen Auskunft, wenn er Erfolg hat.
Ergebenst Dr. Nietzsche
1162. An Unbekannt (Entwurf)
Torino, via Carlo Alberto 6 III den 27. Nov. 1888
Hochge<e>h<rter> <Herr>
ich komme aus hundert Abgründen, in die noch kein Blick sich gewagt, ich kenne Höhen, wohin kein Vogel sich verflog, ich habe am Eis gelebt, — ich bin verbrannt worden von hundert Schneen: es scheint mir, daß warm und kalt in meinem Munde andere Begriffe sind
1. Ruhm und Ewigkeit.
2. Letzter Wille.
3. Zwischen Raubvögeln
4. Das Feuerzeichen
5. Die Sonne sinkt.
6. Von der Armut des Reichsten.
1163. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)
<Turin,> 29. Nov. 88
Lieber Freund,
sehr gute Nachrichten aus Berlin. Die Aufführung des „provençalischen Quartetts“ (mir gewidmet) durch Joachim selbst wahrscheinlich geworden. In Anbetracht, daß J<oachim> bloß klassische Musik in seinen Quartetten aufführt, eine Auszeichnung ersten Ranges. Auch de Ahna ist entzückt. — Der Rival K<öselitz>’s in puncto puncti ist ein junger Graf Schlieben — leider ein ganz hoffnungsloser Rival…
Eine andere Neuigkeit. Das schwedische Genie Strindberg hält mich für den größten Psychologen des — Ewig-Weiblichen. Er hat mir seine Tragödie „Père“ (mit begeisterter Vorrede Zola’s) geschickt, die in der That meine Definition der Liebe (— sie steht z. b. im Fall Wagner) auf eine grandiose Art zum Ausdruck bringt. Ich bemühe mich eben darum, das Werk im théatre libre in Paris aufführen zu lassen.
N.
1164. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig
Torino, via Carlo Alberto 6, III 30. Nov. 1888
Geehrter Herr,
Alles wohl erwogen, kann ich auf diesen Preis nicht eingehn. Ich habe inzwischen den Versuch gemacht, Herrn C. G. Naumann für den Ankauf des Verlags zu interessiren. Aber er will jetzt nichts davon wissen, da er zu sehr in andre Unternehmungen engagirt ist. An sich wäre es mir angenehm, wenn meine gesammte Litteratur in Einer Hand wäre: es versteht sich von selbst, daß ich darauf hin zu einem Opfer bereit wäre (— meine Bücher sind für mich selber ein curios kostspieliger Luxus bis jetzt gewesen —): nur kann ich unmöglich so viel bewilligen, als Sie verlangen. —
Ergebenst Dr. Nietzsche
1165. An Paul Deussen in Berlin (Telegramm)
<Turin, 30. November 1888>
deussen kurfuerstendamm 142 berlin
mark nicht thaler brief abwarten = nietzsche
1166. An Paul Deussen in Berlin (Postkarte)
Torino, via Carlo Alberto 6, III <30. November 1888>
Lieber Freund,
schnell ein Paar Worte zur Erleichterung. Es wird möglich sein, meine Schriften zu einem viel niedrigren Preis zu erwerben: ich bin jetzt schon bei 11,000 Mark. Vielleicht handle ich noch mehr herunter. Erwarte also erst von mir definitive Nachricht.
Dein Nietzsche
1167. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)
<Turin,> 1. Dezember, bezauberndes Frühlingswetter <1888>
Geehrter Herr,
soeben kam das Ms. in meine Hände; da aber demselben die zugehörigen Nachträge nicht beiliegen, so wäre meine Arbeit daran jetzt umsonst, es würde eine große Confusion abgeben. Unter diesen Umständen bitte ich mir das ganze Ms. noch einmal zurück, von Anfang an, selbst wenn schon Etwas gedruckt sein sollte; ebenfalls alles später Geschickte. Ich will Ihnen ein M. liefern so gut wie das letzte, auf die Gefahr hin, daß ich noch eine Woche den Abschreiber mache. Zeit zu verlieren ist ja nicht dabei; aber ein Monat früher oder später ist einerlei. — An Fritzsch habe ich geschrieben, in Ihrem Sinne; sehr dankbar für diesen gewiß nützlichen Wink!
Ergebenst N.
1168. An Heinrich Köselitz in Berlin
<Turin> 2. Dez. 88.
Sonntag Nachmittag, nach 4 Uhr, unbändig schöner Herbsttag. Eben zurückgekommen von einem großen Concert, das im Grunde der stärkste Concert-Eindruck meines Lebens ist — mein Gesicht machte fortwährende Grimassen, um über sein extremes Vergnügen hinwegzukommen, eingerechnet, für 10 Minuten, die Grimasse der Thränen. Ach, daß Sie nicht dabei waren! Im Grunde war’s die Lektion von der Operette auf die Musik übertragen. Unsre 90 ersten Musiker der Stadt; ein ausgezeichneter Dirigent; das größte Theater von hier mit herrlicher Akustik; 2500 Zuhörer, Alles, ohne Ausnahme, was hier in Musik mitlebt und mitredet. Pubblico sceltissimo, aufrichtig: ich hatte nirgendswo noch das Gefühl, daß dermaaßen nuances verstanden wurden. Es waren lauter extrem raffinirte Sachen, und ich suche vergebens nach einem intelligenteren Enthusiasmus. Nicht Eine Zuthat an einen Durchschnitts-Geschmack. — Anfang Egmont-Ouvertüre — sehen Sie, dabei dachte ich nur an Herrn Peter Gast… Darauf Schubert’s Ungarischer Marsch (aus dem Moment musical), prachtvoll von Liszt auseinandergelegt und instrumentirt. Ungeheurer Erfolg, da capo. — Darauf Etwas für das ganze Streichorchester allein: nach dem 4ten Takte war ich in Thränen. Eine vollkommen himmlische und tiefe Inspiration, von wem? von einem Musiker, der 1870 in Turin starb, Rossaro — ich schwöre Ihnen zu, Musik allerersten Ranges, von einer Güte der Form und des Herzens, die meinen ganzen Begriff vom Italiäner verändert. Kein sentimentaler Augenblick — ich weiß nicht mehr, was „große“ Namen sind… Vielleicht bleibt das Beste unbekannt. — Folgte: Sakuntala-Ouvertüre, achtmaliger Beifallssturm. Alle Teufel, dieser Goldmark! Das hatte ich ihm nicht zugetraut. Diese Ouvertüre ist hundert Mal besser gebaut als irgend etwas von Wagner und psychologisch so verfänglich, so raffinirt, daß ich wieder die Luft von Paris zu athmen begann. Curios: es fehlt die musikalische „Gemeinheit“ so sehr, daß mir die Tannhäuser-Ouvertüre wie eine Zote vorkam. Instrumental durchdacht und ausgerechnet, lauter Filigran. — Jetzt wieder Etwas für Streichorchester allein „cyprisches Lied“ von Vilbac, wieder das Äußerste von delicatesse der Erfindung und der Klangwirkung, wieder ungeheurer Erfolg und da capo, obschon ein langer Satz. — Endlich: Patrie! Ouvertüre von Bizet. Was wir gebildet sind! Er war 35 Jahre, als er dies Werk, ein langes sehr dramatisches Werk, schrieb, Sie sollten hören, wie der kleine Mann heroisch wird…
Ecco! Kann man sich besser ernähren lassen? Und ich habe 1 fr. Eintritt gezahlt…
Heute Abend Francesca da Rimini im Carignano: ich legte dem letzten Brief einen Bericht darüber bei. Der Componist Cagnoni wird zugegen sein. —
Es scheint mir nachgerade, daß Turin auch im Musik-Urtheil, wie sonst, die solideste Stadt ist, die ich kenne.
Ihr Freund N.
Druckbogen werden jetzt wohl noch ausbleiben: ich habe gestern das ganze Manuscript noch einmal zurückverlangt. — Fritzsch will 10 000 Mark, nicht Thaler. — Die Auflagen sind sehr complet.
1169. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Telegramm).
<Turin, 6. Dezember 1888>
C. G. Naumann Leipzig
Ms. zurück. Alles umgearbeitet
1170. An Georg Brandes in Kopenhagen (Entwurf)
<Turin, Anfang Dezember 1888>
Werther Freund, ich halte für nöthig, Ihnen ein paar Dinge aller ersten Rangs mitzutheilen: geben Sie Ihr Ehrenwort drauf, daß die Geschichte unter uns bleibt. Wir sind eingetreten in die große Politik, sogar in die allergrößte… Ich bereite ein Ereigniß vor, welches höchst wahrscheinlich die Geschichte in zwei Hälften spaltet, bis zu dem Punkte, daß wir eine neue Zeitrechnung haben werden: von 1888 als Jahr Eins an. Alles, was heute oben auf ist, Triple-Allianz, sociale Frage geht vollständig über in eine Individuen-Gegensatz-Bildung: wir werden Kriege haben, wie es keine giebt, aber nicht zwischen Nationen, nicht zwischen Ständen: Alles ist auseinander gesprengt, — ich bin das furchtbarste Dynamit, das es giebt. — Ich will in 3 Monaten Aufträge zur Herstellung einer Manuscript-Ausgabe geben von |„Der Antichrist. Umwerthung aller Werthe“|, sie bleibt vollkommen geheim: sie dient mir als Agitations-Ausgabe. Ich habe Übersetzungen in alle europäischen Hauptsprachen nöthig: wenn das Werk erst heraus soll, so rechne ich eine Million Exemplare in jeder Sprache als erste Auflage. Ich habe an Sie für die dänische, an Herrn Strindberg für die schwedische Ausgabe gedacht. — Da es sich um einen Vernichtungsschlag gegen das Christenthum handelt, so liegt auf der Hand, daß die einzige internationale Macht, die ein Instinkt-Interesse an der Vernichtung des Christenthums hat, die Juden sind — hier giebt es eine Instinkt-Feindschaft, nicht etwas „Eingebildetes“ wie bei irgend welchen „Freigeistern“ oder Socialisten — ich mache mir den Teufel was aus Freigeistern. Folglich müssen wir aller entscheidenden Potenzen dieser Rasse in Europa und Amerika sicher sein — zu alledem hat eine solche Bewegung das Großcapital nöthig. Hier ist der einzige natürlich vorbereitete Boden für den größten Entscheidungs-Krieg der Geschichte: das Übrige von Anhängerschaft kann erst nach dem Schlage in Betracht gezogen werden. Diese neue Macht, die sich hier bilden wird, dürfte im Handumdrehn die erste Weltmacht sein: zugegeben daß zunächst die herrschenden Stände die Partei des Christenthums ergreifen, so ist die Axt ihnen insofern an die Wurzel <gelegt>, als gerade alle starken und lebendigen Individuen aus ihnen unbedingt ausscheiden werden. Daß alle geistig ungesunden Rassen im Christenthum den Glauben der Herrschenden bei dieser Gelegenheit empfinden, folglich für die Lüge Partei nehmen werden, das zu errathen braucht man nicht Psycholog zu sein. Das Resultat ist, daß hier das Dynamit alle Heeresorganisation alle Verfassung sprengt: daß die Gegnerschaft nicht Anderes constituirt und auf Krieg ungeübt dasteht. Alles in Allem, werden wir die Offiziere in ihren Instinkten für uns haben: daß es im aller höchsten Grad unehrenhaft, feige, unreinlich ist, Christ zu sein, dies Urtheil trägt man unfehlbar aus meinem „Antichrist“ mit sich fort. — (Zunächst erscheint das „Ecce homo“ von dem ich sprach, worin das letzte Capitel einen Vorgeschmack giebt, was bevorsteht, und wo ich selbst als Mensch des Verhängnisses auftrete…) Was den deutschen Kaiser betrifft, so kenne ich die Art, solche braunen Idioten zu behandeln: das giebt einem wohlgerathenen Offizier das Maß ab. Friedrich der Große war besser, der wäre sofort in seinem Elemente. — Mein Buch ist wie ein Vulkan, man hat keinen Begriff aus der bisherigen Litteratur, was da gesagt wird, und wie die tiefsten Geheimnisse der menschlichen Natur plötzlich mit entsetzlicher Klarheit herausspringen. Es giebt eine Art darin, das Todesurtheil zu sprechen, die vollkommen übermenschlich ist. Und dabei weht eine grandiose Ruhe und Höhe über das Ganze — es ist wirklich ein Weltgericht, obwohl Nichts zu klein und versteckt ist, was hier nicht gesehen und ans Licht gezogen werde. Wenn Sie endlich das Gesetz gegen das Christenthum unterzeichnet, der „Antichrist“ lesen, das den Schluß macht, wer weiß, so schlottern vielleicht selbst Ihnen, fürchte ich, die Gebeine…
Das Gesetz gegen das Christenthum hat als Überschrift: Todkrieg dem Laster: das Laster ist das Christenthum
Der erste Satz: Lasterhaft ist jede Art Widernatur; die lasterhafteste Art Mensch ist der Priester: der lehrt die Widernatur. Gegen den P<riester> hat man nicht Gründe, man hat das Zuchthaus nöthig.
Der vierte (Satz) Die Predigt der Keuschheit ist eine öffentliche Aufreizung zur Widernatur. Jede Verachtung des geschlechtlichen Lebens, jede Verunreinigung desselben durch den Begriff „unrein“ ist die eigentliche Sünde gegen den heiligen Geist des Lebens.
Der 6. Satz heißt Man soll die heilige Geschichte nennen mit dem Namen den sie verdient, als verfluchte Geschichte; man soll die Worte „Gott“ „Heiland“ „Erlöser“ „Heiliger“ zu Schimpfworten, zu Verbrecher-Abzeichen benutzen.
Umwerthung aller Werthe? Da wird erst — — —
Siegen wir, so haben wir die Erdregierung in den Händen — den Weltfrieden eingerechnet… Wir haben die absurden Grenzen der Rasse Nation und Stände überwunden: es giebt nur noch Rangordnung zwischen Mensch und Mensch und zwar eine ungeheure lange Leiter von Rangordnung.
Da haben Sie das erste welthistorische Papier: Große Politik par excellence.
NB. Suchen Sie mir einen Meister als ersten Übersetzer — ich kann nur Meister der Sprache brauchen.
1171. An Kaiser Wilhelm II (Entwurf)
<Turin, Anfang Dezember 1888>
Ich erweise hiermit dem Kaiser der Deutschen die höchste Ehre, die ihm widerfahren kann, eine Ehre, die um so viel mehr wiegt, als ich dazu meinen tiefen Widerwillen gegen Alles, was deutsch ist, zu überwinden habe: ich lege ihm das erste Exemplar eines Werks in die Hand, mit dem sich die Nähe von etwas Ungeheurem ankündigt — von einer Crisis, wie es keine a<uf> Erden gab, von der tiefsten Gewissens-Collision innerhalb der Menschheit, von einer Entscheidung heraufbeschworen gegen Alles, was bisher geglaubt, gefordert, geheiligt worden war. — Und mit Alledem ist Nichts in mir von einem Fanatiker: wer mich kennt, hält mich für einen schlichten, höchstens ein wenig boshaften Gelehrten, der mit Jedermann heiter zu sein weiß. Diese Schrift giebt wie ich hoffe ein ganz anderes Bild als von einem „Propheten“: und trotzdem oder vielmehr nicht trotzdem — denn alle Propheten waren bisher Lügner — redet aus mir die Wahrheit. — Aber meine Wahrheit ist furchtbar: denn man hieß bisher die Lüge Wahrheit… Umwerthung aller Werthe: das ist meine Formel für einen Akt höchster Selbstbesinnung der Menschheit, — mein Loos will es, daß ich tiefer, muthiger, rechtschaffener in die Fragen aller Zeiten hinunter<zu>blicken wußte als je ein Mensch bisher. Ich fordere nicht das, was jetzt lebt heraus, ich fordere mehrere Jahrtausende gegen mich heraus: ich widerspreche und bin trotzdem der Gegensatz eines neinsagenden Geistes… Es giebt neue Hoffnungen, es giebt Ziele, Aufgaben von einer Größe für die der Begriff bis jetzt fehlte: ich bin ein froher Botschafter par excellence, wie sehr ich auch immer der Mensch des Verhängnisses sein muß… Denn wenn dieser Vulkan in Thätigkeit tritt, so haben wir Convulsionen auf Erden wie es noch keine gab: der Begriff Politik ist gänzlich in einen Geisterkrieg aufgegangen, alle Macht-Geb<ilde> sind in die Luft gesprengt, — es wird Kriege geben, wie es noch nie Kriege gab. —
1172. An Kaiser Wilhelm II (Entwurf)
<Turin, Anfang Dezember 1888>
Ich erweise hiermit dem Kaiser der Deutschen die höchste Ehre, die ihm widerfahren kann, — ich überreiche ihm das erste Exemplar des Werks, in dem das Schicksal der Mh. sich entscheidet. Ein Augenblick tiefster Selbstbesinnung hebt hiermit an, — die Folgen werden ungeheuer, sie werden selbst furchtbar sein: und ein Weg im Gleichgewicht aller ist zunächst widerlegt. Zum Glück auch eine grosse Entscheidung, ein neuer M<en>s<ch>, ein Wissen um das Ziel…
Friedrich Nietzsche
1173. An Otto von Bismarck (Entwurf)
<Turin, Anfang Dezember 1888>
Seiner Durchlaucht dem Fürsten Bismarck.
Ich erweise dem ersten Staatsmann unsrer Zeit die Ehre, ihm durch Überreichung des ersten Exemplars von „Ecce homo“ meine Feindschaft anzukündigen. Ich lege ein zweites Exemplar bei: dasselbe in die Hände des jungen deutschen Kaisers zu legen, wäre die einzige Bitte, die ich jemals an den Fürsten Bismarck zu stellen gesonnen bin. —
Der Antichrist
Friedrich Nietzsche.
Fromentin
Turin, via Carlo Alberto 6, III
Zuletzt, um nichts halb zu thun, muß es mir nachgesehen werden, wenn ich noch zwei Exemplare meines letzterschienenen Werks beilege: in dem selben sind die wissenschaftlichen Voraussetzungen meiner Denkweise mit aller nur wünschbaren Deutlichkeit ausgesprochen.
1174. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
<Turin, 6. Dezember 1888>
Herrn C. G. Naumann. Hiermit kommt das Ms. zurück; es ist jetzt Alles in vollkommner Ordnung; auch wird Nichts mehr meinerseits geändert. Ich verhandle eben wegen einer französischen und englischen Übersetzung, die zu gle<iche>r Zeit erscheinen müßte. Zu diesem Zwecke würden wir von jedem fertigen Bogen Exemplare zu versenden haben. Über die Zahl der Exemplare überhaupt kann ich heute noch nichts bestimmen. Vielleicht machen wir zwei Auflagen; eine kleine (c. 1000) auf dem guten Papier und eine weit größere mit andrem Papier. —
— Ich bekomme eben ein wahres Huldigungs-Schreiben von einer der ersten Frauen der St. Petersburger Gesellschaft: ich möchte gern, zum Dank dafür, ein Exemplar der Götzen-Dämmerung, möglichst bald in ihren Händen wissen. Adresse: Madame la Princesse Anna Dmitriewna Ténicheff
Quai Anglais 20 St. Petersbourg.
<D>ruckgang wie gewöhnlich. Herr Köselitz ist noch in Berlin (— habe ich unter den Freiexemplaren eins auch für Dr. Carl Fuchs in Danzig bestimmt? —)
Was haben Sie über die buchhändlerische Versendung der G. D. beschlossen? Noch warten? —
1175. An Emily Fynn in Genf
Torino, Via Carlo Alberto. 6. XII. 1888.
Verehrteste Frau,
wo werden Sie mich suchen? Gewiß nicht so nah, in meiner Residenz Turin, die ich ein für alle Mal, auch für die Winter, gewählt habe. Ich kann nicht ausdrücken, wie sehr mir hier Alles wohl thut — ich habe keinen Ort gesehen, der meinen innersten Instinkten so entgegen käme. Großstadt, und dabei still, vornehm, mit einem ausgezeichneten Schlag von Menschen in jeder Classe der Gesellschaft. Wir haben den düsteren Pomp eines großen Begräbnißes gehabt: es galt einem der verehrtesten Piemontesen, dem Conte di Robilant. Und wenn mir Turin gefällt, ich weiß nicht wie es zugeht; man behandelt mich hier mit einer ausgesuchten Délicatesse.
Unter diesen Umständen hat sich mein Befinden geradezu wunderbar verbessert; ich gehe hier mit einem heiteren Stolze durch das Leben, daß Sie weder die Höhle, noch den Höhlenbär erkennen würden —
Ich freue mich unter andern Glücksgütern auch eines klassischen Schneiders. Ach wenn man mich nur nicht „verdirbt“! Was für Briefe kommen jetzt aus aller Welt zu mir! Vorgestern ein Brief aus St. Petersburg, von einer charmanten und sehr gescheuten Russin. Mad. la princesse Anna Dmitriewna Tenischeff. Man sagt mir, daß die Feinschmecker der russischen Gesellschaft meine Bücher mögen, zum Beispiel Fürst Urussow. Leider sind einige verboten…
Heute kam ein Brief von einem Schweden A. Strindberg, einem wirklichen Genie, dessen Tragödie „Père“, selbst die Nerven Zola’s erschüttert haben soll. Der schwört ganz einfach auf mich und endet alle Briefe an alle Welt: „Lisez Nietzsche! c’est mon Carthago est delenda!“
Ich denke, Sie haben dasselbe sublime Wetter, das wir seit September hier haben? Es scheint mir, daß ich in einem unendliehen Claude Lorr<a>in von Farben lebe. Auch habe ich in meinem ganzen Leben zusammengenommen nicht so viel geschaffen als hier in den letzten 20 Tagen — wer weiß! lauter Dinge ersten Ranges… Und ohne einen Schatten von Ermüdung, vielmehr bei vollkommener Heiterkeit und guter Küche.
Auch sind wir hier musikalisch sehr raffinirt. Im letzten Concert lauter feine Sachen, zum Beispiel: Patrie! von Bizet, dann Sakuntala, Ouvertüre von Goldmark. „Cyprisches Lied“ für Orchester von R. de Vilbac und etwas vom Allerschönsten und Rührendsten, das ich überhaupt gehört, so daß ich zehn Minuten ohne jeden Erfolg gegen die Thränen kämpfte — von wem? von einem Turiner Musiker, der 1872 starb. Rossaro…
Sollten die allerbesten Dinge unbekannt bleiben? die allerbesten Menschen eingerechnet! Gehört es zum Wesen des Vollkommenen nicht „berühmt“ zu werden? — Ruhm — ich fürchte man muß ein wenig canaille sein, um berühmt zu werden.
Sie würden mich, verehrteste Frau sehr verbinden, wenn Sie mir die genaue Adresse von Miß Helen Zimmern geben wollten.
Mich Ihnen Allen auf das Herzlichste empfehlend und Ihrer ausgezeichneten Freundin, der ich meine besten Wünsche zu Füßen lege, einen Winter wünschend wie wir ihn haben.
In freundschaftlicher Verehrung
Nietzsche, Unthier…
1176. An August Strindberg in Holte
Torino, via Carlo Alberto 6, III. den 8. Dezember 1888.
Sehr lieber und werther Herr,
ist ein Brief von mir verloren gegangen? Ich habe sofort nach der zweiten Lektüre Ihnen geschrieben, tief ergriffen von diesem Meisterstück harter Psychologie; ich habe insgleichen Ihnen die Überzeugung ausgedrückt, daß Ihr Werk prädestinirt ist, jetzt in Paris aufgeführt zu werden, im théatre libre des Ms. Antoine, — Sie sollten das von Zola einfach fordern! —
— Der hereditäre Verbrecher decadent, selbst Idiot — kein Zweifel! Aber die Geschichte der Verbrecher-Familien, für die der Engländer Galton („the hereditary genius“) das größte Material gesammelt hat, führt immer auf einen zu starken Menschen für ein gewisses sociales niveau zurück. Der letzte große Pariser Criminalfall Prado gab den klassischen Typus: Prado war seinen Richtern, seinen Advokaten selbst durch Selbstbeherrschung, esprit und Übermuth überlegen; trotzdem hatte ihn der Druck der Anklage physiologisch schon so heruntergebracht, daß einige Zeugen ihn erst nach alten Porträts wiedererkannten. —
Jetzt aber fünf Worte unter uns, sehr unter uns! Als gestern mich Ihr Brief erreichte — der erste Brief in meinem Leben, der mich erreicht hat — war ich gerade mit der letzten Manuscript-Revision von „Ecce homo“ fertig geworden. Da es in meinem Leben keinen Zufall mehr giebt, so sind Sie folglich auch kein Zufall. Warum schreiben Sie Briefe, die in einem solchen Augenblick eintreffen!… Ecce homo soll in der That deutsch, französisch und englisch zugleich erscheinen. Ich habe gestern das Manuscript noch an meinen Drucker geschickt; sobald ein Bogen fertig wird, muß er in die Hände der Herrn Übersetzer. Wer sind diesen Übersetzer? Aufrichtig, ich wußte nicht, daß Sie selber für das ausgezeichnete Französisch Ihres Père verantwortlich sind; ich glaubte an eine meisterhafte Übersetzung. Für den Fall, daß Sie selbst die französische Übersetzung in die Hand nehmen wollten, wüßte ich mich nicht glücklich genug zu schätzen über dies Wunder eines sinnreichen Zufalls. Denn, unter uns, meinen „Ecce homo“ zu übersetzen, bedarf es eines Dichters ersten Rangs; es ist im Ausdruck, im raffinement des Gefühls, tausend Meilen jenseits aller bloßen „Übersetzer“. Zuletzt ist es kein dickes Buch; ich nehme an, es wird in der franz. Ausgabe (vielleicht bei Lemerre, dem Verleger Paul Bourgets? —) gerade einen solchen Band für 3 frs. 50 machen. Da es vollkommen unerhörte Dinge sagt und mitunter, in aller Unschuld, die Sprache eines Weltregierenden redet, so übertreffen wir durch Zahl der Auflagen selbst Nana… Andrerseits ist es antideutsch bis zur Vernichtung; die Partei der französischen Cultur wird durch die ganze Geschichte hindurch festgehalten (— ich behandele die deutschen Philosophen allesammt als „unbewußte“ Falschmünzer, ich nenne den jungen Kaiser einen scharlachnen Mukker…) Auch ist das Buch nicht langweilig, — ich habe es mitunter selbst im Stil „Prado“ geschrieben.. Um mich gegen deutsche Brutalitäten („Confiscation“ —) sicher zu stellen, werde ich die ersten Exemplare, vor der Publikation, dem Fürsten Bismarck und dem jungen Kaiser mit einer brieflichen Kriegserklärung übersenden: darauf dürfen Militärs nicht mit Polizei-Maßregeln antworten. — Ich bin ein Psychologe…
Erwägen Sie, verehrter Herr! Es ist eine Sache allerersten Ranges. Denn ich bin stark genug dazu, die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke zu zerbrechen. —
Bliebe die Frage der englischen Übersetzung. Wüßten Sie einen Vorschlag dafür? — Ein antideutsches Buch in England…
Sehr ergeben
Ihr
Nietzsche.
1177. An Meta von Salis auf Marschlins (Entwurf)
<Turin, um den 8. Dezember 1888>
Verehrtes Fräulein
ich sende Ihnen hiermit etwas Stupendes, aus dem Sie ungefähr errathen werden, daß der alte Gott abgeschafft ist, und daß ich selber alsbald die Welt regieren werde.
Es sind 2 Exemplare; Sie dürfen Eines von diesen an Malvida schicken, doch ohne die geringste Spur davon, daß ich im Hintergrund der Sendung stehe — Sie dürfen insgleichen, Falls Sie ihr ein Paar Worte dazu schreiben wollen, mich darin „den ersten Menschen aller Jahrtausende“ nennen. Erstens ist es wahr, zweitens macht es einen wundervollen Contrast-Effekt, da Malvida in ihrem letzten Brief an mich schrieb, „sie lächle über mich“…
1177a. An Malwida von Meysenbug in Paris (Entwürfe)
<Turin, um den 8. Dezember 1888>
Es ist ja aus jedem Wort meiner Schr<ift> über Wagner Etwas zu lernen: und Sie haben das Recht, als eine Wagner- [— — —], dagegen zu reden. Ich ziehe einen solchen Brief bei weitem Ihrer Güte vor. Es ist meiner unwürdig, einen zweideutigen Verkehr noch länger aufrecht zu erhalten — ich habe meine Geduld auch ganz geboten: Jemand der an mich und zugleich an Wagner festhalten will, darf billigerweise von mir abgelehnt werden. Sie haben sich ja bisher nur für décadents interessiert. Sie gehören dazu: — erlauben Sie mir, Ihnen uninteressant zu sein…
Sie gehören zu den [—] Begegnungen meines Lebens, Sie haben Alles übertroffen, was ich Schlechtes von W<agner> erlebt habe. Und doch habe ich mit Niemandem länger Geduld gehabt! Sich an dem ersten M<enschen> aller Jahrtausende vergreifen, in dessen entscheidendem Augenblick — und ich habe Ihnen gesagt, daß es dieser Augenblick sei.
1178. An Anna Dmitriewna Tenischeff in Petersburg (Entwurf)
<Turin, um den 8. Dezember 1888>
Verehrte Frau,
In diesem Augenblick, wo eine ungeheure Aufgabe mich gleichsam heraustreibt aus menschl<icher> Beziehung und meine Einsamkeit mit jeder Stimme an mich tritt, ist ein so bedeutendes Wort aus weiter Ferne eine große Linderung ich danke Ihnen auf das Dankbarste dafür. Als Antwort habe ich mir da erlaubt, eine kleine, aber über die Maaßen substanzreiche Schrift den Weg nach St. Petersburg machen zu lassen: sie heißt Götzend<ämmerung> oder wie man <mit> dem Hammer philosophirt. Hoffentlich erlebt sie kein Unglück — an der Grenze…
1179. An Hippolyte Taine in Paris (Entwurf)
<Turin, 8. Dezember 1888>
Verehrter Herr
das Buch, das in Ihre Hände zu legen ich mir den Muth nehme, ist vielleicht das radikalste Buch, das bisher geschrieben wurde — und in Hinsicht auf das, was es vorbereitet, beinahe ein Stück Schicksal. Es wäre mir von unschätzbarem Werthe, wenn dasselbe französisch gelesen werden könnte: ich habe meine Leser jetzt in aller Welt, nebenbei auch in Rußland, ich bin unglücklich, deutsch zu schreiben, obgleich <ich> es vielleicht besser schreibe, als je es ein Deutscher schrieb. Zuletzt werden die Franzosen aus dem Buche die tiefe Sympathie heraushören, die sie verdienen: ich habe in allen meinen Instinkten Deutschland den Krieg erklärt (— p. 58 ein eigner Abschnitt „Was den Deutschen abgeht“)…
Ein Wink darüber, an wen ich vielleicht Exemplare zu senden hätte?… Eine vollkommene und sogar meisterhafte Kenntniß des Deutschen ist freilich die Voraussetzung, um das Buch zu übersetzen.
Mit dem Ausdruck meiner alten Verehrung
Menthon lac d’Annecy Haute Savoie
1180. An Helen Zimmern in Florenz (Entwurf)
<Turin, um den 8. Dezember 1888>
Verehrtes Fr<äulein>
eine Sache aller ersten Rangs! ich denke, ich habe nicht nöthig, Sie erst um jede Diskretion zu bitten. Mein Leben kommt jetzt zu einem lang vorbereiteten ungeheuren Eklat: das, was ich in den nächsten zwei Jahren thue, ist der Art, unsere ganze bestehende Ordnung, „Reich“ „Triple allianz“ und wie all diesen Herrlichkeiten heißen über den Haufen zu werfen. Es handelt sich um ein Attentat auf das Christenthum, das vollkommen wie Dynamit auf Alles wirkt, das im Geringsten mit ihm verwachsen ist. Wir werden die Zeitrechnung verändern, ich schwöre es Ihnen zu. Es hat nie ein M<ensch> mehr Recht zur Vernichtung gehabt als ich!
Es sind zwei Schläge, aber mit Zwischenraum von 2 Jahren, der erste heißt Ecce homo und soll sobald als möglich erscheinen. Deutsch, englisch französisch. Der zweite heißt der Antichrist. Umwerthung aller Werthe. Beide sind vollkommen druckfertig: ich gebe soeben das Ms von Ecce homo in die Druckerei. — Für die französische Übersetzung des Ecce homo werde ich einen Schweden, ein wahres Genie haben: ich lege seinen Brief bei, aus dem Sie zum Mindesten entnehmen werden, was er von mir denkt. Für die englische Übersetzung — was denken Sie, verehrtes Fräulein? Sind Sie bei Kräften und gutem Muth, um so etwas auf sich nehmen zu können? Es ist kein dickes Buch, eine Sache von c<irca> 10 Bogen kleiner Seiten. Aber es muß eine ausgezeichnete sorgfältige und delikate Arbeit sein: denn in sprachlichen Dingen giebt es gar (kein) größeres Meisterstück als dieses Ecce homo. — Ein Attentat auf <das> Chr<istenthum> wird in England ein ungeheures Aufsehen machen: ich habe keine Zahlen im Kopfe für die Ziffer der Auflagen. Dazu kommt, daß es auch ein vollkommen vernichtendes Attentat auf die Deutschen ist — durch die Geschichte hindurch als die eigentlich schädliche, verlogene, unheilvolle Rasse… Ein wie mir scheint für Engländer vielleicht nicht unpopulärer Gesichtspunkt… Ich hebe auf den deutschen Charakter, nicht nur auf den deutschen Geist <hin> hervor, daß kein für Engländer verletzendes Wort darin vorkommt.
Das Buch schlägt das Christenthum todt, und außerdem auch noch Bismarck…
Für den Fall, daß Sie mir Ihre eigene Hilfe nicht versprechen können, werden Sie vielleicht Schritte und Wege wissen, wie mir hier geholfen werden kann.
1181. An Heinrich Köselitz in Berlin
<Turin,> Sonntag, den 9. Dec. 1888 via Carlo Alberto 6III
Lieber Freund,
ich war eben im Begriff, Ihnen zu schreiben, da tritt Ihr Brief festlich zur Thür hinein, leider nicht in Begleitung des „Kunstwart“. Doch wird es sich nur um Stunden handeln. — Ihre herrlichen Neuigkeiten in puncto „Provence“ erquicken mich wie wenige Dinge mich erquicken könnten; denn da es mir gut geht, ist es eigentlich billig, daß es meinen „Nächsten“ noch besser geht. Der Erste Schritt, hier wie überall, ist der schwerste — und über den helfen nur die Weiblein hinweg… Auch ich habe Gutes zu melden. Das „Ecce homo“ ist vorgestern an C. G. N<aumann> abgegangen, nachdem ich es, zur letzten Gewissens-Beruhigung, noch einmal vom ersten bis zum letzten Wort auf die Goldwage gelegt habe. Es geht dermaßen über den Begriff „Litteratur“ hinaus, daß eigentlich selbst in der Natur das Gleichniß fehlt: es sprengt, wörtlich, die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke — höchster Superlativ von Dynamit… Für die französische Übersetzung werde ich wahrscheinlich das schwedische Genie A. Strindberg haben, der alle seine Werke französisch schreibt — und meisterhaft! — Er hat mir vorgestern seinen ersten Brief geschrieben — es war der erste Brief mit einem welthistorischen Accent, der mich erreichte. Er hat den Begriff davon, daß Zarathustra ein non plus ultra ist. Zugleich traf noch ein Brief aus St. Petersburg ein, von einer der allerersten Frauen Rußlands, beinahe eine Liebeserklärung, jedenfalls ein curioses Stück Brief: Madame la Princesse Anna Dmitriewna Ténicheff. Auch der intelligenteste Kopf der Petersburger Gesellschaft, der alte Fürst Urussow soll sich stark für mich interessiren. Georg Brandes hält diesen Winter wieder Vorlesungen in diesen Kreisen und wird ihnen Wunderdinge berichten. Ich sagte wohl, daß Strindberg und Brandes befreundet sind, daß Beide in Kopenhagen leben? — Strindberg hält mich übrigens für den größten Psychologen des Weibes… Ecco, Malvida!!! —
— Gestern habe ich die Götzen-Dämmerung an Ms. Taine geschickt mit einem Brief, worin ich ihn bitte, für eine französische Übersetzung des Werks sich zu interessiren. Auch für die englische Übersetzung habe ich einen Gedanken: Miss Helen Zimmern, die jetzt in Genf, im nächsten Verkehr mit meinen Freundinnen Fynn und Mansouroff lebt. Sie kennt auch Georg Brandes — sie hat Schopenhauern den Engländern entdeckt, warum nicht erst recht dessen Antipoden?…
Mit E. W. Fritzsch bin ich noch nicht weiter; doch hoffe ich, mit einiger Geduld, daß der Preis noch ein Paar Tausend Mark heruntergeht. Wenn ich meine ganze Litteratur für 8000 Mark zurückerwerbe: so habe ich das Geschäft gemacht. — Naumann beräth mich in dieser Sache. Machen Sie doch meinem alten und sehr komischen Freund Professor Paul Deussen möglichst schnell einen Besuch, Berlin W. Kurfürstendamm 142. Sie können ihm einmal gründlich sagen, was ich bin und was ich kann. Er ist mir übrigens sehr zugethan und auf jene Weise, die auf Erden die seltenste ist: er hat mir vorigen Sommer, zum Zweck meiner Druckkosten, 2000 Mark zugestellt (— zu gleichem Zweck, hören Sie! Frl. Meta von Salis 1000 frcs. —) Unter uns, ich beschwöre Sie!
Jetzt eine ernste Sache. Lieber Freund, ich will alle Exemplare des vierten Zarathustra wieder zurückhaben, um dies ineditum gegen alle Zufälle von Leben und Tod sicher zu stellen (— ich las es dieser Tage und bin fast umgekommen vor Bewegung). Wenn ich es nach ein Paar Jahrzehnten welthistorischer Krisen — Kriege! — herausgeben werde, so wird es die rechte Zeit sein. Strengen Sie, bitte, Ihr Gedächtniß an, wer Exemplare hat. Meine Erinnerung giebt: Lanzky, Widemann, Fuchs, Brandes, wahrscheinlich Overbeck. Haben Sie die Adresse von Widemann? — Wie viel Exemplare waren es? wie viel haben wir noch? — Ein paar mögen in Naumburg sein.
Wetter, nach wie vor, unvergleichlich. Drei Kasten Bücher aus Nizza eingetroffen. — Ich blättere seit einigen Tagen in meiner Litteratur, der ich jetzt zum ersten Male mich gewachsen fühle. Verstehen Sie das? Ich habe Alles sehr gut gemacht, aber nie einen Begriff davon gehabt, — im Gegentheil!… Zum Beispiel die diversen Vorreden, das fünfte Buch „gaya scienza“ — Teufel, was steckt da drin! — Über die dritte und vierte Unzeitgemäße werden Sie in Ecce homo eine Entdeckung lesen, daß Ihnen die Haare zu Berge stehn — mir standen sie auch zu Berge. Beide reden nur von mir, anticipando… Weder Wagner, noch Schopenhauer kamen psychologisch drin vor … Ich habe beide Schriften erst seit 14 Tagen verstanden. —
Zeichen und Wunder!
Es grüßt Sie der
Phönix.
— Menschliches, Allzumenschliches hat mir im höchsten Grade imponirt: es hat etwas von der Ruhe eines grand seigneur.
— Wissen Sie bereits, daß ich für meine internationale Bewegung das ganze jüdische Großkapital nöthig habe?…
1182. An Heinrich Köselitz in Berlin (Postkarte)
<Turin, 10. Dezember 1888>
Aber das ist ja herrlich, was Sie geschrieben haben, lieber Freund! Das ist ja der berühmte „Anfang“, von dem man sagt, daß er schwer ist… Es ist nicht nur Alles richtig, es ist auch ausgezeichnet gesagt, — die Erinnerung an Graf Gobineau und überhaupt der Accent auf das Französische ist ein Meistergriff. Der Redakteur hat, für einen Verwandten W<agner>s, seine Sache nicht schlecht gemacht. Wundervoll ist es, daß „mit großen Gedanken spielen“ ihm als Einwand gilt, — „nur als Feuilletonist, aber überaus espritreich“, in Frankreich lachte man sich todt über eine solche Ablehnung. — Ich bitte Miss Helen Zimmern darum, Sie ins Englische zu übersetzen, für irgendeine der großen reviews. Herr Spitteler soll Ihrer in den Basler Nachrichten gedenken, resp. den ganzen Abschnitt abdrucken lassen. Schönsten Dank für Père! — Nietzsche
1183. An Ferdinand Avenarius in Dresden
<Turin, 10. Dezember 1888>
…Ich bin Ihnen aufrichtig dankbar für Ihre Kritik, mehr noch als für die ausgezeichneten Worte des Herrn Gast, — ich las sie mit Entzücken, Sie haben, ohne es zu wissen, mir das Angenehmste gesagt, was mir jetzt gesagt werden konnte. In diesem Jahre, wo eine ungeheure Aufgabe, die Umwertung aller Werte, auf mir liegt und ich, wörtlich gesagt, das Schicksal der Menschen zu tragen habe, gehört es zu meinen Beweisen der Kraft, in dem Grade Hanswurst, Satyr oder, wenn Sie es vorziehen, „Feuilletonist“ zu sein, — sein zu können, wie ich es im „Fall Wagner“ gewesen bin. Daß der tiefste Geist auch der frivolste sein muß, das ist beinahe die Formel für meine Philosophie: es könnte sein, daß ich mich schon über ganz andere „Größen“ auf eine unwahrscheinliche Weise erheitert habe… Zuletzt thut das meiner persönlichsten Pietät gegen Wagner am wenigsten Abbruch; noch im vorigen Monat habe ich jener unvergeßlichen Zeit der Intimität zwischen uns ein Denkmal gesetzt, das dauern wird: in einem Werke, das jetzt im Druck ist und das jeden Zweifel über mich wegnehmen wird. Auch Ihren Zweifel, sehr werter und lieber Herr! Der „jüngere“ Nietzsche ist niemals über den Punkt-Wagner- mit dem „älteren“ Nietzsche in Widerspruch gewesen: es bliebe wohl zu beweisen, daß jenes x von Wesen, dessen Psychologie in der vierten Unzeitgemäßen gegeben wird, wirklich etwas mit dem Gatten von Frau Cosima zu thun hat oder… — Wissen Sie eigentlich, daß Herr Peter Gast der erste Musiker ist, der jetzt lebt, — Einer der Seltenen zu allen Zeiten, die das Vollkommene können? — Die Musiker, unter uns, finden, ich hätte alles bewiesen, nur zu sehr… Man schreibt mir Briefe über Briefe…
1184. An Ferdinand Avenarius in Dresden
<Turin, 10. Dezember 1888>
… Vergeben Sie mir, in aller Heiterkeit, eine Nachschrift: es scheint, es geht beim Fall Wagner nicht ohne Nachschrift ab. — Warum haben Sie eigentlich Ihren Lesern die Hauptsache vorenthalten? Daß meine „Sinnesänderung“, wie Sie es nennen, nicht von gestern ist? Ich führe nunmehr seit 10 Jahren Krieg gegen die Verderbnis von Bayreuth, — Wagner hielt mich seit 1876 für seinen eigentlichen und einzigen Gegner, die Spuren davon sind überreich in seinen späteren Schriften. Der Gegensatz eines décadent und einer aus der Überfülle der Kraft herausschaffenden, das heißt dionysischen Natur, der das Schwerste Spiel ist, ist ja zwischen uns handgreiflich (ein Gegensatz, der vielleicht in fünfzig Stellen meiner Bücher ausgedrückt ist, z. B. in der „fröhl. Wissenschaft“ S. 312 ff). Wir sind verschieden wie arm und reich. Unter Musikern ist ja über die Armut Wagners gar kein Zweifel; vor mir, vor dem auch die Verstocktesten ehrlich werden, sind auch die extremen Parteigänger seiner Sache über diesen Punkt ehrlich geworden. Wagner war mir als Typus unschätzbar; ich habe an unzähligen Stellen den biologischen Gegensatz des verarmten und, folglich, raffinirten und brutalen Kunstinstinkts zum reichen, leichten, im Spiele sich echt bejahenden dargestellt — vergeben Sie mir! sogar mit der von Ihnen gewünschten „ruhig sachlichen Entwickelung der Gründe“. Eine kleine Hand voll Stellen: Menschl. Allzumenschl. (— vor mehr als 10 Jahren geschrieben)
2,62 ff. décadence und Berninismus im Stil W.’s.
2,51 seine nervöse Sinnlichkeit,
2,60 Verwilderung im Rhythmischen,
2,76 Katholizismus des Gefühls, seine „Helden“ physiologisch unmöglich.
Wanderer u. Schatten 95 gegen das espressivo um jeden Preis.
Morgenröte 225 die Kunst W.s, den Laien in der Musik zu täuschen.
Fröhl. Wissenschaft W. Schauspieler durch und durch,
auch als Musiker. 110 Bewunderungswürdig im Raffinement des sinnlichen Schmerzes.
Jenseits von Gut und Böse 221 Wagner zum kranken Paris gehörig, eigentlich ein französischer Spät-Romantiker, wie Delacroix, wie Berlioz, alle mit einem fond von Unheilbarkeit auf dem Grunde und, folglich, Fanatiker des Ausdrucks.
— Warum ich das Alles Ihnen schreibe? Weil man in St. Petersburg und in Paris mich ebenso ernst nimmt und liest, wie nachlässig im „Vaterlande“… Nachlässig — was für ein Euphemismus…
1185. An Ferdinand Avenarius in Dresden (Postkarte)
<Turin, 10. Dezember 1888>
Ein letztes Wort. Sie sind es mir vielleicht schuldig, jedenfalls bitte ich Sie darum, beide Briefe wörtlich im „Kunstwart“ wiederzugeben. Zuletzt wird der Redakteur am besten wissen, welche Auszeichnung damit seinem Blatt zu Theil wird. — Herr Spitteler, unter uns, ist etwas Ausgesuchtes und Liebenswürdiges im Urtheil: ich möchte Ihnen noch einen andren Kritiker der Musik rühmen, Dr. Carl Fuchs in Danzig, Virtuos, auch im Ausdruck: Wagner hielt ihn für den geistreichsten deutschen Musiker, den ich kenne.
Nietzsche.
Ist mein neues Buch „Götzen-Dämmerung“ in Ihren Händen? — Viel für Artisten
1186. An Paul Deussen in Berlin
Torino, via Carlo Alberto 6 III Dienstag <11. Dezember 1888>
Lieber Freund,
ich bin aufrichtig erfreut über Deinen Brief: er entspricht in allen Hauptsachen meiner eignen Auffassung und auch der in diesen Dingen maßgebenderen, der meines mir unschätzbaren Leipziger Verlegers C. G. Naumann. Dieser räth, zu warten: Fritzsch werde klug genug sein, einen sicheren Betrag für eine sehr unsichere und bei philosophischem Verlag zehnfach unsicherere Zukunft in die Hände zu bekommen. Ich betrachte diesen Lage als eine wirkliche Glückslage. Denn meine frühere Litteratur jetzt um wenige Tausend Mark zurück zu bekommen, unmittelbar, bevor deren Werth begriffen wird, wäre ohne diesen Zufall nicht möglich gewesen. Nichts liegt mir ferner als F<ritzsch> „ärgern“ zu wollen. Der Fall ist, daß er beim Erscheinen vom „Fall Wagner“ in seiner eignen von ihm redigirten Zeitung die schnödesten persönlichen Bemerkungen über mich hat drucken lassen: so daß mir von allen Seiten, auch von Naumann, eine wirkliche Entrüstung ausgedrückt wurde. Du mußt empfinden, welcher Jubel darüber bei den Wagnerianern ist, daß mein eigner Verleger mich nicht nur in Stich läßt, sondern verhöhnt. — Lassen wir das Wort „Ehre“ aus dem Spiel: es ist nur nicht mehr anständig, meine Bücher in solchen Händen zu lassen. —
Meine Gesundheit ausgezeichnet und vollkommen unverwüstlich, obwohl ich, der Reihe nach, lauter ungeheure Aufgaben abzumachen hatte. Jedermann ist erstaunt über die Heiterkeit und den Stolz, mit dem ich hier in Turin lebe: ich werde behandelt wie ein Prinz, — ich bin es vielleicht auch. —
Mein Verleger hat den Auftrag, Dir das zuletzt fertig gewordene Werk die „Götzen-Dämmerung“ zu überreichen. Es ist nicht unmöglich, daß eine französische Übersetzung davon erscheint: ich stehe in Verhandlungen. Was jetzt gedruckt wird, heißt Ecce homo. Wie man wird, was man ist. Dies erscheint zugleich englisch, französisch und deutsch. — Die Briefe, die ich in der letzten Zeit bekomme, vor Allem aus der ersten Gesellschaft von St. Petersburg, auch von einem wirklichen Genie von Dichter, der Schwede ist, haben alle etwas von einem welthistorischen Accente, wie als ob das Schicksal der Menschheit in meiner Hand liegt. —
Ich habe meinen ausgezeichneten Freund und maëstro Peter Gast (— sein eigentlicher Name ist Heinrich Köselitz) aufgefordert, Dir seinen Besuch zu machen. Er hat bei weitem den tiefsten Begriff von mir, Du kannst ihn über Alles fragen. Man kommt ihm übrigens in Berlin sehr entgegen: es ist wahrscheinlich, daß Joachim selbst sein „provençalisches Quartett“ (das mir gewidmet ist —) zum ersten Male vorführt. Unter uns, ein reizendes Mädchen aus der reichsten Aristokratie von Berlin (mit großem Grundbesitz in Hinterpommern) ist der Grund seiner Berliner Existenz: er hat einen Grafen Schlieben zum Rivalen, aber die artige Person will lieber sterben als — — Nochmals, dies unter uns. — Er war den Sommer auf ihrem Waldschloß und hat die Concurrenz von lauter Gardelieutnants aus umwohnendem Adel nur zu glücklich ausgehalten. — Eine Geschichte, die in Venedig begann. — Die Herrn Musikanten! — — — — Ich selbst habe dieser Tage beinahe eine Liebeserklärung von der charmantesten und geistvollsten Frau von St. Petersburg bekommen, Madame la Princesse Anna Dmitriewna Ténicheff, einer große<n> Verehrerin meiner Bücher. Georg Brandes geht diesen Winter nach St. Petersburg und hält Vorträge über mich. —
Mich Dir und Deiner lieben Frau
auf das Herzlichste
empfehlend
Dein Nietzsche
Weitere Verhandlungen über Beschaffung von Geld bitte ich dringend zu unterlassen. Wenn die Summe noch in dem von Naumann erwarteten Grade heruntergeht, bin ich selbst der Lage gewachsen.
1187. An Carl Fuchs in Danzig
Torino, via Carlo Alberto 6, III <11. Dezember 1888>
Lieber Freund,
inzwischen steht und geht Alles wunderbar; ich habe nie annähernd eine solche Zeit erlebt, wie von Anfang September bis heute. Die unerhörtesten Aufgaben leicht wie ein Spiel; die Gesundheit, dem Wetter gleich, täglich mit unbändiger Helle und Festigkeit heraufkommend. Ich mag nicht erzählen, was Alles fertig wurde: Alles ist fertig.
Die nächsten Jahre steht die Welt auf dem Kopf: nach dem der alte Gott abgedankt ist, werde ich von nun an die Welt regieren.
Mein Verleger hat, wie ich nicht zweifle, Ihnen sowohl den Fall als, zuallerletzt, die Götzen-Dämmerung übersandt. Hätten Sie nicht eine kleine kriegerische Laune? Es wäre mir äußerst erwünscht, wenn jetzt ein — der — geistvoller Musiker öffentlich Partei für mich als Antiwagner nehme und den Bayreuthern den Handschuh hinwürfe? Eine kleine Broschüre, in der über mich lauter Neues und Entscheidendes gesagt würde, mit einer Nutzanwendung im Einzelfall, Musik, was denken Sie dazu? Nichts Langwieriges, etwas Schlagendes, Schlagfertiges… Der Augenblick ist günstig. Man kann noch Wahrheiten über mich sagen, die zwei Jahre später beinahe niaiseries sein dürften.
— Und was macht Danzig — oder vielmehr Nicht-Danzig?… Erzählen Sie mir wieder von sich selbst, lieber Freund, — ich habe Zeit, ich habe Ohren…
Es grüßt Sie auf das
Herzlichste
das Unthier.
1188. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)
<Turin, 11. Dezember 1888>
Meine alte Mutter, wundere Dich nicht, wenn ich jetzt so wenig schreibe. Ich habe nur zu viel zu schreiben, besonders auch wichtige Briefe. Es geht mir übrigens, nach wie vor, ausgezeichnet, kein schlechter Tag bisher. Das Wetter immer noch herrlich; etwas frisch, aber nicht anders, als ich’s vom Oberengadin her gewöhnt bin. Der Ofen ist noch nicht da; die Sache ist vollkommen aufgeklärt — es sind Fehler bei der Untersuchung des Prof. Koch gemacht worden. Die Öfen haben sich seit 8 Jahren in allen Ländern bewährt, — ich habe ein paar Bogen voll der glänzendsten Zeugnisse von Fürsten, Ministern, Professoren und jeder Art Stand. — Von Nizza sind die 3 Bücherkisten eingetroffen. — Ich bin jetzt in jeder Hinsicht hier gut aufgehoben; große Reinlichkeit; ausgezeichnete Nahrung; mächtiges Bett, worin die Italiäner ihren Luxus haben; auch habe ich noch nie so gut geschlafen.
Dein altes Geschöpf
Torino, via Carlo Alberto 6, III: genaue Adresse! —
1189. An Carl Spitteler in Basel
Torino, via Carlo Alberto 6, III Dienstag <11. Dezember 1888>
Werther Herr,
ich will Ihnen heute einen Vorschlag machen, zu dem nicht Nein zu sagen ich Sie inständig bitte. Mein Kampf gegen Wagner ist auf eine absurde Weise dadurch bisher mißrathen, daß Niemand meine Schriften kennt: so daß die „Sinnes-Änderung“, wie zb. Avenarius sich ausdrückt, als Etwas gilt, was ungefähr gleichzeitig mit dem „Fall Wagner“ ist. Thatsächlich führe ich seit 10 Jahren Krieg — Wagner wußte es selbst am besten —: ich habe keinen allgemeinen Satz, psychologischer oder streng aesthetischer Natur, im „Fall Wagner“ ausgesprochen, den ich nicht schon in meinen Schriften auf das Ernsthafteste vorgetragen habe. Unter diesen Umständen will ich, um diesen Frage auf die Höhe und bis zum Kriege zu bringen, jetzt noch eine Schrift gleicher Ausstattung und gleichen Umfangs wie der „Fall Wagner“ herausgeben, die nur aus 8 größeren sehr ausgewählten Stücken meiner Schriften besteht, unter dem Titel:
Nietzsche contra Wagner.
Aktenstücke
aus Nietzsche’s Werken.
Werther Herr, Sie sollen das herausgeben und eine längere Vorrede, eine wirkliche Kriegserklärung dazu schreiben. Das können Sie, ich weiß das: Sie nehmen das Schicksal der Musik tief genug, um hier der Leidenschaft fähig zu sein.
Die Stellen — ich werde sie selber abschreiben und Ihnen dann zusenden — sind folgende (— ich nehme an, daß Sie meine Schriften besitzen? Andrenfalls ein Wort an mich, damit was fehlt, sofort an Sie abgeht)
1. Zwei Antipoden. (fröhliche Wissenschaft S. 312—16)
2. Eine Kunst ohne Zukunft. (Menschliches, Allzumenschliches Bd. 2, 76—78
3. Barocco. (Menschliches, Allzumenschliches Bd. 2, 62—64
4. Das espressivo um jeden Preis. (Wanderer und sein Schatten S. 93 (also Menschliches, Allzumenschliches II, letzte Hälfte.
5. Wagner Schauspieler, nichts mehr (fröhliche Wissenschaft S. 309—11)
6. Wagner gehört nach Frankreich (Jenseits von Gut und Böse 220—24)
7. Wagner als Apostel der Keuschheit (Genealogie der Moral S. 99—105
8. Nietzsches Bruch mit Wagner (Menschliches, Allzumenschliches Band II Vorwort p. VII—VIII)
In der Vorrede wäre auch die entscheidende Einsicht vom Gesammt-décadence-Charakter der modernen Musik an’s Licht zu stellen: es ist eigentlich das, was die Schrift voraus hat gegen das, was ich früher schon gesagt habe. — Sehen Sie, dies Gesindel fühlt meinen Ingrimm nicht, weil ich „überaus espritreich“ geschrieben habe! Das kann sich Geist nicht mit Leidenschaft verbunden denken… Eine „ruhig-sachliche Entwicklung der Gründe“ verlangt Av<enarius>, wo unsereins vor Leidenschaft zittert…
Ach, das verstehen Sie —
Nietzsche
1190. An Carl Spitteler in Basel (Postkarte)
<Turin, 12. Dezember 1888>
Geehrter Herr,
diese Nacht fiel mir ein Einwand ein, den ich heute am Tage nicht los werde. Hinter einer solchen Veröffentlichung, wie ich sie gestern vorschlug, würde man doch unter allen Umständen mich als Urheber voraussetzen — es stehen zu private Dinge in den Stellen, die abgedruckt werden müßten
Mit der Bitte um Nachsicht Ihr
N.
1191. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
<Turin,> Sonnabend <15. Dezember 1888>
Geehrter Herr Verleger,
hier kommt noch ein schönes Manus<c>ript, etwas Kleines, aber sehr gut Gerathenes, auf das ich stolz bin. Nachdem ich im „Fall Wagner“ eine kleine Posse geschrieben habe, kommt hier der Ernst zu Wort: denn wir — Wagner und ich — haben im Grunde eine Tragödie mit einander erlebt. — Es scheint mir, nachdem durch den „Fall Wagner“ die Frage nach unserm Verhältniß wachgerufen ist, sehr an der Zeit, hier einmal eine außerordentlich merkwürdige Geschichte zu erzählen. — Rechnen Sie nun gefälligst aus, wie viel Seiten es in der gleichen Ausstattung wie „Fall Wagner“ ergeben wird? Zwei bis drei Bogen, vermuthe ich. — Mein Wunsch wäre, daß wir diesen kleine Sache sofort absolviren. Ich gewinne dadurch auch noch Zeit, die Übersetzer-Frage in Bezug auf Ecce homo die bis jetzt wenig Chance hat, neu aufzunehmen. Zum Mindesten möchte ich eine französ. Übersetzung, aber ein Meisterstück von Übersetzung haben. —
Sehr erbaut über die schönen und tiefen Worte des Herrn Köselitz (Peter Gast) im „Kunstwart“. Herr Avenarius hat hinterdrein einige Thorheiten gesagt, aber sich bereits auf das Artigste bei mir entschuldigt — ich habe ihm ein sehr heiteres Briefchen geschrieben. Hat er nicht sein Bedauern darüber ausgedrückt, daß ich dies Mal „überaus espritreich“ geschrieben hätte? — Als ob meine Schriften sonst sich durch Stupidität auszeichneten!
Ergebenst
Ihr
Dr. Nietzsche.
Herr E. W. Fritzsch schweigt. Ich auch. — Ich bitte noch, für mich, um 4 Exemplare Götzen-Dämmerung und 1 Exemplar „Fall Wagner“.
1192. An Heinrich Köselitz in Berlin
Torino, den 16. Dezember 1888
Lieber Freund,
bedeutende Erweiterung des Begriffs „Operette“. Spanische Operette. La gran via, zwei Mal gehört — Hauptzugstück von Madrid. Ist einfach nicht zu importiren: man muß dazu Spitzbube und verfluchter Kerl von Instinkt sein — und dabei feierlich… Ein Terzett von drei feierlichen alten riesengroßen Canaillen ist das Stärkste, was ich gehört und gesehn habe — auch als Musik: genial, gar nicht zu rubriziren… Ich nahm, da ich jetzt sehr gebildet in Rossini bin und bereits 8 Opern kenne, die von mir vorgezogene Cenerentola zum Vergleich — ist tausend Mal zu gutartig gegen diesen Spanier. Wissen Sie die Handlung schon kann nur ein vollendeter Spitzbube ausdenken — lauter Sachen, die wie Taschenspielerei wirken, so blitzartig kommt die canaille zum Vorschein. Vier oder fünf Stücke Musik, die man hören muß; sonst hat der Wiener Walzer in der Form größerer Ensembles das Übergewicht. — Offenbach’s „schöne Helena“ hinterdrein fiel einfach ab. Ich lief fort. — Dauer präcis 1 Stunde.
— Heute Nachmittag werde ich ein Requiem von dem alten Neapolitaner Maestro Jommelli hören (starb ungefähr 1770): Accademia di canto corale. —
Und nun die Hauptsache. Ich habe gestern ein Manuscript an C. G. Naumann geschickt, welches zunächst, also vor Ecce homo, absolvirt werden muß. Ich finde die Übersetzer für „Ecce“ nicht: ich muß einige Monate den Druck noch hinausschieben. Zuletzt eilt es nicht. — Das Neue wird Ihnen Vergnügen machen: — auch kommen Sie vor — und wie! —
Es heißt
Nietzsche contra Wagner.
Aktenstücke
eines Psychologen.
Es ist wesentlich eine Antipoden-Charakteristik, wobei ich eine Reihe Stellen meiner älteren Schriften benutzt und dergestalt zum „Fall Wagner“ das sehr ernste Gegenstück gegeben habe. Das hindert nicht, daß die Deutschen darin mit spanischer Bosheit behandelt werden — die Schrift (drei Bogen etwa) ist extrem antideutsch. Am Schluß erscheint Etwas, wovon selbst Freund Köselitz keine Ahnung hat: ein Lied (oder wie Sie’s nennen wollen… ) Zarathustra’s, mit dem Titel Von der Armut des Reichsten — wissen Sie, eine kleine siebente Seligkeit und noch ein Achtel dazu… Musik…
— Ich sehe jetzt mitunter nicht ein, wozu ich die tragische Katastrophe meines Lebens, die mit „Ecce“ beginnt, zu sehr beschleunigen sollte. Dies Neue wird vielleicht, auf Grund der Neugierde, welche der „Fall Wagner“ hervorgerufen hat, stark gelesen werden — und da ich jetzt keinen Satz mehr schreibe, worin ich nicht ganz zum Vorschein käme, so ist zuletzt schon diesen Psychologen-Antithese der Weg, um mich zu verstehn — Ia gran via…
Avenarius, dem ich mit einem boshaften Briefchen auf die Finger gefühlt habe, hat auf das Allerartigste und Herzlichste sich entschuldigt — ich glaube, diese Geschichte habe ich sehr gut gemacht. (Verlangen Sie noch einige Exemplare von Avenarius!)
— Sehen Sie, lieber Freund! Piemonteser Küche! Ah, meine trattoria! Ich habe keinen Begriff gehabt, was in der Kunst der Zubereitung die Italiäner überlegen sind! — und der Qualität! Nicht umsonst mitten innerhalb der allerberühmtesten Viehzucht! — Und, nach wie vor, obwohl ich essey wie ein Prinz, auch viel, zahle ich für jede Mahlzeit (10 ct. Trinkgeld mit) 1 fr. 25. — Für Wohnung, sehr gute Bedienung eingerechnet, erste Lage der Stadt, Sonnenzimmer comme il faut, 25 frs den Monat.
Abends sitze ich in einem prachtvollen hohen Raum: ein kleines sehr anständiges Concert (Clavier 4 Saiteninstr<umente> 2 Bläser) kommt gerade so gedämpft, als es wünschenswerth, zu mir — es sind 3 Säle nebeneinander. Man bringt mir meine Zeitung Journal des débats, — ich esse eine Portion ausgezeichnetes Eis: kostet, mit Trinkgeld (worauf ich halte, weil es hier nicht Sitte ist) 40 ct. — In der galeria Subalpina (in die ich hinabsehe, wenn ich aus meinem Zimmer heraustrete), dem schönsten elegantesten Raum dieser Art, den ich kenne, spielt man jetzt Abend für Abend den barbiere di Seviglia, und zwar vortrefflich: man zahlt, was man verzehrt, mit einem etwas erhöhten Preise. — Und wie gut sieht die Stadt aus, wenn es trübe ist! Neulich sagte ich mir: einen Ort zu haben, wo man nicht heraus will, nicht einmal in die Landschaft, wo man sich freut, in den Straßen zu gehn! — früher hätte ich’s für unmöglich gehalten. —
In Freundschaft
Ihr N.
Etwas Letztes, nicht Letztes: Alle, die jetzt mit mir zu thun haben, bis zur Hökerin herab, die mir herrliche Trauben aussucht, sind lauter vollkommen gerathene Menschen, sehr artig, heiter, ein wenig fett, — selbst die Kellner.
— Eben starb der Prinz von Carignano: wir werden ein großes Begräbniß haben. —
Eben trifft ein herrlicher Brief Taine’s ein! —
1193. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
<Turin, verm. 17. Dezember 1888>
Wir wollen 2 Bogen von Ecce homo drucken und einige Abzüge auf gutem Papier davon machen, damit ich meinen französischen und englischen Übersetzern resp. Verlegern einen deutlichen Begriff davon geben kann, welcher Art das Werk ist. Diese Abzüge bitte ich mir hierher aus. — Inzwischen ist auf eine ganz unschätzbar<e> Weise eine Beziehung zwischen mir und dem bei weitem einflußreichsten Mann in Frankreich hergestellt worden, einflußreich für Litteratur Buchhandel und litterarisches rénomée, mit dem Chef-Redakteur des Journal des Débats und der Revue des deux Mondes, der zugleich auch für politische Fragen eine der festesten und geschütztesten Positionen Frankreichs hat. Der erste Philosoph Frankreichs, Ms Taine, ein großer Bewunderer meiner Schriften, räth mir unbedingt an, meine Sache in die Hände seines Freundes zu legen, an dem ich einen der allerintelligentesten Leser haben würde (— er ist aufs Tiefste unterrichtet über alles Deutsche, auch selbst im Sprachlichen Meister) Dies heißt in Frankreich seinen Prozeß gewonnen haben. —
Für England habe ich eine ausgezeichnete Schriftstellerin im Auge, die schon das Verdienst hat, Schopenhauer in England eingeführt zu haben, Miss Helen Zimmern, in Florenz lebend, Mitarbeiterin der Times und aller großen Reviews, — in Deutschland geboren, so daß sie vollkommen auch im Sprachlichen competent ist.
Wenn die zwei Bogen erledigt sind, gehn wir an Nietzsche contra Wagner. Einige Wochen werden dann hingehn, ehe alle die Präliminarien mit Übersetzern und Verlegern in Paris und London erledigt sind. —
N.
— Damit der Titel sich so eng wie möglich an den „Fall Wagner“ anschließt, wollen wir schreiben
Nietzsche contra Wagner
Ein Psychologen-Problem
1194. An Franz Overbeck in Basel
Torino, via Carlo Alberto 6. III <um den 17. Dezember 1888>
Lieber Freund,
ich zählte eben meine Gelder, — ich habe gerade noch 100 frs., so daß ich ohne Schwierigkeit Deiner Sendung gegen Ende des Monats entgegensehe. Ich bin stolz darauf, mich nicht verrechnet zu haben. Denn…
Der Herbst und der Anfang Winter sind mir immerfort sehr wohlthätig gewesen: so daß meine Arbeit und eine sehr tapfere Laune keinen Augenblick nachgelassen haben. Meine jetzige Erholung ist spanische Operette, aus Madrid: das geht über Alles hinaus, lauter feierliche canailles, Spitzbuben durch und durch, aber mit grandezza — —
Überallher gute Nachrichten. Ich lege einen kleinen Brief aus Paris bei, von M. Taine; mit der Bitte, mir ihn umgehend zurückzusenden. Die Beziehung zum Redakteur des Journal des Débats, die er mir vorschlägt, macht mir großes Vergnügen; ich lese seit Jahren keine andre Zeitung mehr. — In Paris hat mein „Fall Wagner“ Aufsehn gemacht; man sagt mir, ich müsse ein geborner Pariser sein: — noch nie habe ein Ausländer so französisch gedacht wie ich im „Fall“. — Von Petersburg bekomme ich wahre Huldigungs-Schreiben, eingerechnet Liebeserklärungen. Georg Brandes hält diesen Winter wieder dort Vorträge. Ich habe jetzt Leser — und, zum Glück, lauter ausgesuchte Intelligenzen, die mir Ehre machen — überall, vor allem in Wien, St. Petersburg, Paris, Stockholm, New York. Meine nächsten Werke werden sogleich mehrsprachig erscheinen. — Das schwedische Genie Strindberg (seine Tragödie der Vater ist soeben in der Reklamschen Bibliothek erschienen: lies es doch!) endet alle Briefe an alle Welt: „Carthago est delenda. Lisez Nietzsche!“
Was macht die Gesundheit?
Dein alter Freund N.
1195. An Hippolythe Taine in Paris (Entwurf)
<Turin, um den 17. Dezember 1888>
Ms Taine 23 rue Cassette
Verehrter Herr,
Sie haben mich auf eine unbeschreibliche Weise geehrt und — beschämt; ich habe es Ihnen nie vergessen, was Ihre große Güte mir nach Zusendung von „Jenseits von Gut und Böse“ gesagt hat. Es war im Grunde die erste Stimme, die ich hörte. Denn meine Einsamkeit war immer vollkommen. Nicht daß ich dies beklagte. Ich glaube, es ist die Grundbedingung dafür, jenen äußersten Grad von Selbstbesinnung zu erreichen, der das Wesen meiner Philosophie ausmacht. Auch spricht meine gute Laune dafür, daß es das Rechte war: ich habe nie an „Vereinsamung“ gelitten. —
Zugleich mit Ihrem unschätzbaren Billet traf das erste tiefe und muthige Wort über mich aus Deutschland ein; da Sie darin genannt werden, nehme ich mir die Freiheit, es Ihnen vorzulegen.
Friedrich Nietzsche.
1196. An Jean Bourdeau in Paris (Entwurf)
<Turin, etwa 17. Dezember 1888>
Verehrter Herr
Ein unschätzbares Billet von Ms. Taine, das ich beilege, giebt mir den Muth, Ihren Rath in einer mir sehr ernsten Sache auszubitten. Ich wünsche, in Frankreich gelesen zu werden; mehr noch, ich habe es nöthig. So wie ich bin, der unabhängigste und, vielleicht der stärkste Geist, der heute lebt, verurtheilt zu einer großen Aufgabe, kann ich mich unmöglich durch die absurden Grenzen, welche eine fluchwürdige und von den Lügenhaften vertretene, dynastische Interessen-Politik zwischen die Völker gezogen hat, abhalten lassen nach den Wenigen zu suchen, die überhaupt für mich Ohren haben. Und ich bekenne es gern: ich suche sie vor Allem in Frankreich. Es ist mir nichts fremd, was sich in der geistigen Welt Frankreichs begiebt: man sagt mir, ich schreibe im Grunde französisch, obschon ich vielleicht mit der deutschen Sprache besonders in meinem Zarathustra, etwas in Deutschland selbst Unerreichtes erreicht habe. Ich wage zu sagen, daß meine Vorfahren, vierte Generation, polnische Edelleute waren; daß meine Urgroßmutter und Großmutter väterlicher Seits in die Goethische Zeit Weimars gehören: Gründe genug, um in einem kaum denkbaren Grade heute der einsamste Deutsche zu sein. Es hat mich nie ein Wort erreicht — und, aufrichtig, ich habe nie desh<alb> geklagt… Jetzt habe ich Leser überall, in Wien, in St. Petersburg, in Stockholm, in Kopenhagen — lauter ausgesuchte Intelligenzen, die mir Ehre machen — sie fehlen mir in Deutschland… Daß selbst in D<eutschland> ein Gefühl dafür ist, wie wenig ich dahin gehöre, dafür ist ein sehr ernster Aufsatz Zeugniß, im Kunstwart erschienen, den beizulegen ich mir erlaube. Der Verfasser ist ein Musiker ersten Ranges, der Einzige, wenn ich ein Urtheil über diesen Dinge habe — folglich unbekannt… — Zum Glück habe ich, mit 24 Jahren als Universitätsprofessor nach Basel berufen, es nicht nöthig gehabt, fortwährend Krieg zu führen und mich in bloßen Streitereien zu verschwenden. In Basel fand ich den verehrungswürdigen Jakob Burckhardt, der mir von Anfang an tief geneigt war, — ich hatte in Richard Wagner und Frau, die damals in Tribschen bei Luzern lebten, eine Intimität, wie ich sie mir werthvoller nicht denken konnte. Im Grunde bin ich vielleicht ein alter Musikant. — Später hat mich Krankheit aus diesen letzten Beziehungen herausgelöst und mich in einen Zustand tiefster Selbstbesinnung gebracht, wie er vielleicht kaum je erreicht worden ist. Und da in meiner Natur selbst nichts Krankhaftes und Willkürliches ist, so habe ich diesen Einsamkeit kaum als Druck, sondern als eine unschätzbare Auszeichnung gleichsam als Reinlichkeit empfunden. Auch hat sich noch Niemand bei mir über düstere Miene beklagt, ich selbst nicht einmal: ich habe vielleicht schlimmere und fragwürdigere Welten des Gedankens kennen gelernt als irgend Jemand, aber nur weil es in meiner Natur liegt, das Abenteuer zu lieben. Ich rechne die Heiterkeit zu den Beweisen meiner Philosophie… Vielleicht beweise ich diesen Satz durch die zwei Bücher, die ich Ihnen hiermit vorlege
Erwägen Sie, verehrter Herr, ob die Götzen-Dämmerung, ein sehr radikal gedachtes und in der Form gewagtes Buch, nicht übersetzt werden sollte. Ich bekenne ein Vergnügen ersten Rangs, mich selbst wie einen Band Pauls Bourget (— das ist ein tiefer und gleichwohl nicht pessimistischer Geist —)
— es würde am schnellsten und gründlichsten in meine Gedanken einführen; ich glaube kaum, daß es möglich ist, mehr Substanz auf kleinerem Raum zu geben. — Von der Schrift über Wagner sagt man mir, sie sei so französisch gedacht, daß man sie nicht ins Deutsche übersetzen könnte. — Die Werke, die eine Entscheidung heraufführen, an der das brutale Rechen-Exempel der jetzigen Politik sich vielleicht als Rechenfehler erweisen könnte, sind vollkommen druckfertig: Jetzt wird erscheinen Ecce homo. Oder: wie man wird was man ist. Später Umwerthung aller Werthe. Aber auch diesen Werke müßten erst ins Französische und Englische übersetzt werden, da ich mein Schicksal <zu>letzt von keiner kaiserlichen Polizeimaßregel abhängig machen will… Dieser junge Kaiser hat nie von den Dingen gehört, wo für Unser einen das Hören erst anfängt: Otitis, beinahe schon Meta-Otitis…
Ich habe die Ehre zu sein ein alter Leser des J<ournal> d<es> D<ebats>: die vollkommene Stumpfheit der jetzigen Deutschen für jede Art höheren Sinns kommt in ihrem Verhalten gegen mich seit 16 Jahren, wohlverstanden! zu einem geradezu erschreckenden Ausdruck. Ich fürchte, es giebt gar keine entscheidenderen, tieferen und, wenn man Ohren hat, aufregenderen Bücher als der
Marteau des Idoles
wäre: eine wirkliche Krisis kommt in ihm zum Ausdruck, aber kein D<eutscher> hat einen Begriff davon — auch bin ich das Gegentheil eines Fanatikers und Apostels und vertrage keine Weisheit außer mit sehr viel Bosheit und guter Laune gewürzt. Meine Bücher sind nicht einmal langweilig — und trotzdem hat noch kein Deutscher einen Begriff davon.. Meine Besorgniß ist, daß im Augenblick, wo man moralisch vor einer meiner Schriften steht, man sie verdirbt: deshalb ist es an der höchsten Zeit, daß ich noch einmal als Franzose zur Welt komme — denn die Aufgabe, um derentwillen ich lebe, ist — — —
— Ich nehme mir die Freiheit, Ihnen jene Bücher vorzulegen: gesetzt, daß diesen französisch erscheinen, so bin ich vorgestellt, eingeführt in Frankreich, — der Rest folgt daraus. (— Der Rest heißt hier das tiefste Buch, das die Menschheit hat, mein Zarathustra. Aber mit dem kann man nicht anfangen.)
Jenseits von Gut und Böse: auch bei d<iesem> Werk hat mir seiner Zeit Ms. Taine eine außerordentliche Theilnahme bezeugt.
Die Götzen-Dämmerung oder wie man mit dem Hammer philosophirt, man könnte den Titel vereinfachen:
Marteau des Idoles
Ich weiß nur dies: in dem Augenblick, wo man mor<a>l<is>ch vor einem meiner Bücher steht, wird man sie verderben. Nun stehe ich gerade vor dem entscheidenden Schritt meines Lebens: die Werke, die im Grunde keine Bücher sind, <sondern> eine Art Schicksal darstellen werden, sind druckfertig, — es steht in meiner Hand, wie viele Monate oder Jahre sie noch zu warten haben. Es ist deshalb für mich eine Frage ersten Rangs, nicht auf den Zufall, auf die Brutalität eines Polizei-Verbots mit meiner Aufgabe angewiesen zu sein, — es ist die höchste Zeit, mich auch außerhalb D<eutsch land>s — — —
1197. An Helen Zimmern in Florenz
Turin, via Carlo Alberto 6 III <um den 17. Dezember 1888>
Verehrtes Fräulein
Sie würden mir einen großen Dienst erweisen, wenn Sie beifolgenden Aufsatz des Herrn Peter Gast unter dem Titel „Nietzsche contra Wagner“ für eine der großen Review’s übersetzen wollten. Ich habe jetzt absolut nöthig, in England bekannt zu werden, denn meine nächsten Schriften — sie sind vollkommen druckfertig — sollen zugleich englisch, französisch und deutsch erscheinen. Die Hornvieh-Rasse der Deutschen — Verzeihung für das starke Wort! — ist mir vollkommen fremd; man wird sich gegen mich mit Confiscationen und andren Polizei-Maßregeln wehren. Also habe ich für meine Aufgabe, die zu den allergrößten gehört, welche ein Mensch auf sich nehmen kann — ich will das Christenthum vernichten — Amerika, England und Frankreich nöthig — Preßfreiheit in jedem Sinn…
Ich erinnere mich, in einer Nummer des Journal des Débats gelesen zu haben, daß eine englische Zeitschrift (Century Review oder ähnlich —) den Kampf gegen Wagner sehr energisch eröffnet hat. Wenn Sie Lust haben, so sende ich Ihnen meine Schrift. Sie ist über alle Maaßen boshaft und könnte eher schon von einem Pariser geschrieben sein.
Jetzt eben erscheint von mir etwas extrem Radikales Götzen-Dämmerung. Oder: wie man mit dem Hammer philosophirt.* Ich sende es Ihnen zu — unter Umständen führen Sie dies Stück in England ein. Es ist antideutsch und antichristlich par excellence — sollte es damit nicht stark auf Engländer wirken? Meine Argumente sind ganz andrer Art, als je angewendet worden sind, — ich bin gar kein Mensch, ich bin Dynamit.
Hoffentlich trifft mein Brief Sie in muthiger und kriegsgewohnter Verfassung? —
Sehr ergeben
Nietzsche
— Herr Peter Gast ist einer unserer ersten Musiker oder, wenn Sie mir glauben wollen, bei weitem der Erste — er kann das, was zu allen Zeiten die Seltensten können, das Vollkommne. Es ehrt mich, einen solchen „Jünger“ zu haben.
N.
— Ms. Taine hat mir über die Götzen-Dämmerung einen unschätzbaren Brief geschrieben, voller Bewunderung über „toutes mes audaces et finesses“. Ich bin eben in Unterhandlung, auf M. Taines Rath, mit dem ausgezeichneten Chef-Redakteur des Journal des Débats und der Revue des deux Mondes Ms. Bourdeau, den er mir als einen der intelligentesten und einflußreichsten Franzosen empfohlen hat: derselbe soll die Schritte zur Übersetzung des Werks vorbereiten.
1198. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)
<Turin, 18. Dezember 1888>
Alles wohl erwogen, scheint es mir für den angedeuteten Zweck nützlich<er>, statt des zweiten Bogens das Titelblatt, das Vorwort und das Inhaltsverzeichniß zu drucken. Das zusammen giebt dann eine deutliche Vorstellung. Eine ungefähre Berechnung der Bogenzahl wäre ebenfalls nöthig. —
— Ein Exemplar der Götzen-Dämmerung wollen wir noch übers Meer schicken: eingeschrieben
Herrn Dr. Bernhard Förster
Neu-Germanien
bei Asuncion
Amérique de Sud
Paraguay
Sollte der 2te Bogen schon ganz oder halb gedruckt sein, so nehmen wir ihn mit dazu.
1199. An August Strindberg in Holte
Torino, Via Carlo Alberto 6 III <18. Dezember 1888>
Werther und sehr lieber Herr,
inzwischen hat man mir aus Deutschland „den Vater“ geschickt, zum Beweis dafür, daß ich gleichfalls meine Freunde für den Vater des Vaters interessire. — Das Théatre libre des Ms. Antoine ist ja dazu gemacht, um zu riskiren. Ihr Werk ist vollkommen unschuldig gegen das, was man schon in den letzten Monaten darauf riskirt hat. Es kam dahin, daß A<lbert> Wolf, im Leitartikel des Figaro, öffentlich, im Namen Frankreichs, erröthete. — Aber M. Antoine ist ein eminenter Schauspieler, der sofort die Rolle des capitains („Rittmeisters“) sich aneignen wird. Ich rathe nicht mehr, Zola hineinzumischen, sondern Exemplar und Brief direkt an Ms. Antoine, directeur du theatre libre, zu senden. Man spielt gerne Ausländer —
Draußen bewegt sich, mit düsterem Pomp, ein großes Leichenbegängniß: il principe di Carignano, Vetter des Königs, Admiral der Flotte. Ganz Italien in Turin. —
Ach, wie Sie mich über Ihre Schweden unterrichtet haben! Und neidisch gemacht haben! Sie unterschätzen Ihr Glück: „o fortunatos nimium, sua si bona norint“ — nämlich, daß Sie kein Deutscher sind… Es giebt gar keine andere Cultur, als die französische, es ist kein Einwand, sondern die Vernunft selber, daß man in die einzige Schule geht — sie ist nothwendig die rechte.. Wollen Sie den Beweis dafür? — Aber Sie sind der Beweis! —
Ich sende, mit allerverbindlichstem Danke, die Hefte wieder zurück, in der Annahme, daß Sie dieselben nicht in mehreren Exemplaren besitzen. —
Gleichzeitig mit Ihrem Brief kam ein Brief aus Paris an, von Ms. Taine, voll der höchsten Auszeichnungen für die Götzen-Dämmerung in Hinsicht auf audaces et finesses, und mit einer sehr ernsten Aufforderung, die ganze Frage meines Bekanntwerdens in Frankreich, eingerechnet die Mittel dazu, in die Hände seines Freundes, des Chef-Redakteurs des Journal des Débats und der Revue des deux mondes zu legen, dessen tiefe und freie Intelligenz, auch was Form, was Kenntniß des Deutschen und der deutschen Cultur betrifft, er mir nicht genug zu rühmen weiß. Zuletzt lese ich seit Jahren nur noch das Journal des débats. — Auf diesen Eröffnung meines Panama-Canals nach Frankreich hin habe ich die weitere Publikation von neuen Schriften (drei sind vollkommen druckfertig —) aufs Unbestimmte hinausgeschoben. Zunächst sollen die beiden capitalen Bücher Jenseits von Gut und Böse und die Götzen-Dämmerung übersetzt werden: damit bin ich in Frankreich vorgestellt. —
Ihnen zugethan und voll guter Wünsche
Nietzsche.
1200. An E. Kürbitz in Naumburg
Torino, via Carlo Alberto 6, III den 19. Dez. 1888
Geehrtester Herr,
hiermit ersuche ich Sie, meiner Mutter, Frau Pastor Nietzsche, wieder 30 Mark (dreißig Mark) aushändigen zu lassen. Die Angelegenheit Nieske, Dresden hat sich in willkommner Weise erledigt.
Hochachtungsvoll
Dr. Nietzsche
1201. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Telegramm)
<Turin, 20. Dezember 1888>
C. G. Naumann Leipzig
Ecce vorwärts
Nietzsche
1202. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)
<Turin, 20. Dezember 1888>
Eine neue Erwägung überzeugt mich, daß wir durchaus Ecce homo erst fertig drucken müssen und daß nachher erst N.c.W. an die Reihe kommt. Alle Verhandlungen mit Verlegern, Schriftstellern und meinen eignen Anhängern kann ich nur mit den fertigen Exemplaren machen: ein Andres ist die Zeit der Veröffentlichung. Für Frankreich will ich zunächst eine Übersetzung von der Götzen-Dämmerung verabreden: sie ist kurz und im höchsten Grade vorbereitend. —
Die Zahl der Exemplare — können Sie mir einmal einen ungefähren Kostenüberschlag für 1000 gute Exemplare und 4000 auf geringerem Papier machen?
Hochachtungsvoll N.
Das Exemplar des Bogens 1 ist an mich nicht angekommen; bitte mir mit Bogen 2 eins mitzusenden.
1203. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)
<Turin, 20. Dezember 1888>
Ich habe ein einzelnes Blatt, mit der Überschrift Intermezzo, an Sie abgesandt, mit der Bitte, es in N. contra W. einzulegen. Jetzt wollen wir es lieber, wie es ursprünglich bestimmt war, in Ecce einlegen: und zwar in das zweite Hauptcapitel (Warum ich so klug bin) als Abschnitt 5. Demnach sind die folgenden Ziffern zu ändern. Der Titel „Intermezzo“ natürlich weg.
N.
1204. an Franziska Nietzsche in Naumburg
Torino, via Carlo Alberto 6 III den 21. Dezember 1888
Meine alte Mutter,
es giebt, wenn mich nicht Alles täuscht, in den nächsten Tagen Weihnachten: vielleicht kommt mein Brief noch zur rechten Zeit, vielleicht auch hat Herr Kürbitz einen Wink verstanden, den ich ihm vor einigen Tagen gegeben habe. Mit der Bitte, Dir Etwas auszudenken, was Dir Vergnügen macht und wobei Du gerne an Dein altes Geschöpf denkst und, im Übrigen, um Nachsicht bittend, daß es nicht mehr ist. — Wir haben auch hier ein wenig Winter, doch nicht so, daß ich hätte heizen müssen. Die Sonne und der helle Himmel werden nach ein paar Tagen Nebel immer wieder Herr. Es gab ein großes Leichenbegängniß, einer unsrer Prinzen, der Vetter des Königs; sehr verdient um Italien, auch um die Marine, denn er war der Admiral der Flotte.
Ich bin in jedem Sinne froh, mit Nizza fertig zu sein, — man hat mir indessen 3 Bücherkisten hierher gesandt. Auch die einzige wohlthätige und liebenswürdige Gesellschaft, die ich dort hatte, die ausgezeichneten Köchlins, ebenso reiche als feine und an die besten Kreise gewöhnte Leute, fehlen zum ersten Male diesen Winter in Nizza. Es geht schlecht mit dem alten Köchlin, Madame Cécile hat mir ausführlich geschrieben: beständiges Fieber. Sie sind bei Genua, in Nervi. — Dagegen habe ich aus Genf gute und heitere Nachrichten von Madame Fynn und ihrer russischen Freundin.
Das Allerbeste aber bekomme ich von meinem Freunde Köselitz zu hören, dessen ganze Existenz sich erstaunlich verändert hat. Nicht nur daß die ersten Künstler Berlins, Joachim, de Ahna sich auf das Tiefste für seine Werke interessiren, diesen anspruchsvollste und verwöhnteste Art Künstler, die Deutschland hat: Du würdest vor Allem verwundert sein, daß er in den reichsten und vornehmsten Cirkeln Berlins nur verkehrt und sich mit allzuviel Erfolg um ein schönes und erschrecklich reiches Mädchen bewirbt, obwohl er einen jungen Grafen Schlichen zum Rivalen hat. Ja die Herrn Musiker! Er hat schon den ganzen Sommer auf dem Schloß seiner Prinzessin, in Hinterpommern, ungeheure Wälder, zwischen lauter Junkern und Gardeoffizieren gelebt; aber sie will nichts als Musik von Köselitzen geigen und singen. — Vielleicht erlebt seine Oper ihre erste Aufführung in Berlin; Graf Hochberg steht den Kreisen nahe, die er frequentirt. —
Im Grunde ist Dein altes Geschöpf jetzt ein ungeheuer berühmtes Thier: nicht gerade in Deutschland, denn die Deutschen sind zu dumm und zu gemein für die Höhe meines Geistes und haben sich immer an mir blamirt, aber sonst überall. Ich habe lauter ausgesuchte Naturen zu meinen Verehrern; lauter hochgestellte und einflußreiche Menschen, in St. Petersburg, in Paris, in Stockholm, in Wien, in New-York. Ach wenn Du wüßtest, mit welchen Worten mir die ersten Personnagen ihre Ergebenheit ausdrücken, die charmantesten Frauen, eine Madame la princesse Ténicheff, durchaus nicht ausgeschlossen. Ich habe wirkliche Genies unter meinen Verehrern, — es giebt heute keinen Namen, der mit so viel Auszeichnung und Ehrfurcht behandelt wird, als der meine. — Siehst Du, das ist das Kunststück: ohne Name, ohne Rang, ohne Reichthum werde ich hier wie ein kleiner Prinz behandelt, von Jedermann bis zu meiner Hökerin herab, die nicht eher Ruhe hat als bis sie das Süßeste aus allen ihren Trauben zusammengesucht hat (das Pfund jetzt 28 Pf.)
Zum Glück bin ich jetzt Allem gewachsen, was meine Aufgabe von mir verlangt. Meine Gesundheit ist wirklich ausgezeichnet; die schwersten Aufgaben, zu denen noch nie ein Mensch stark genug war, fallen mir leicht. Turin ist wirklich meine Residenz; ah mit welcher Distinktion man mich hier behandelt! —
Meine alte Mutter, empfange, zum Schluß des Jahres, meine herzlichsten Wünsche und wünsche mir selber ein Jahr, das den großen Dingen, die in ihm geschehn müssen, in jeder Hinsicht entspricht.
Dein altes Geschöpf.
1206. An Ferdinand Avenarius in Dresden (Fragment)
<Turin, kurz vor dem 22. Dezember 1888>
— — — Ihr Blatt hat bei weitem das Tiefste und Schönste über mich gesagt, was bisher gesagt worden ist. — — —
1206. An Ferdinand Avenarius in Dresden
Turin, 22. Dezember 1888
Sehr geehrter Herr,
soeben fiel mir ein, daß es in Ihrem und vielleicht auch in meinem Interesse wäre, wenn Sie den Aufsatz des Herrn Heinrich Köselitz separatim, als Broschüre von wenig Blättern herausgeben wollten. Es ist aller Anschein dafür da, daß er ungeheuer gelesen und gehört würde. Sie können nicht glauben, welche Zeichen von Huldigungen mir von überall jetzt zukommen: ein paar Monate später, mit dem Erscheinen von Ecce homo, von dem 2 Bogen gedruckt sind, rechne ich meine Anhänger nach Millionen. Ihr „Kunstwart“ wird sich dabei nicht schlecht befinden, wenn er das erste Wort dieser Art gesagt hat.
Der Antichrist.
1207. An Heinrich Köselitz in Annaberg
Turin, den 22. Dezember 1888.
Lieber Freund,
dies Papier habe ich entdeckt, das Erste, auf dem ich schreiben kann. Insgleichen Feder, diesen aber aus Deutschland: Sönnekken’s Rundschrift-Feder. Insgleichen Tinte, diesen aber aus New-York, theuer, ausgezeichnet. — Ihre Nachrichten sind ausgezeichnet; der Fall Joachim ist ersten Ranges. Ohne Juden giebt es keine Unsterblichkeit, — sie sind nicht umsonst „ewig“. — Auch Dr. Fuchs macht seine Sache vortrefflich; ich bekenne, daß, so lange es eine chance Hochberg giebt — es kann ja jeden Augenblick ein toller Wagnerianer an seine Stelle treten — ist die Chance im Auge zu behalten. — Von Herrn Wiedemann erbitten Sie sich, so rücksichtsvoll wie möglich, das Exemplar wieder aus: ich muß das Werk gegen alle Zufälle von Leben und Tod sicher stellen. —
Sehr curios! Ich verstehe seit 4 Wochen meine eignen Schriften, — mehr noch, ich schätze sie. Allen Ernstes, ich habe nie gewußt, was sie bedeuten; ich würde lügen, wenn ich sagen wollte, den Zarathustra ausgenommen, daß sie mir imponirt hätten. Es ist die Mutter mit ihrem Kinde: sie liebt es vielleicht, aber in vollkommner Stupidität darüber, was das Kind ist. — Jetzt habe ich die absolute Überzeugung, daß Alles wohlgerathen ist, von Anfang an, — Alles Eins ist und Eins will. Ich las vorgestern die „Geburt“: etwas Unbeschreibliches, tief, zart, glücklich…
Gehn Sie nicht zu Prof. Deussen: er ist zu stupid für uns, — zu gewöhnlich. — Herr Spitteler ist, seit Ihrem „Kunstwart“, zur Salzsäule erstarrt: er blickt auf seine Dummheit vom letzten Januar zurück…
Die Schrift N<ietzsche> contra W<agner> wollen wir nicht drucken. Das „Ecce“ enthält alles Entscheidende auch über diesen Beziehung. Die Partie, welche, unter Anderm, auch den maestro „Pietro Gasti“ bedenkt, ist bereits in „Ecce“ eingetragen. Vielleicht nehme ich auch das Lied Zarathustras — es heißt: „von der Armut des Reichsten“ — noch hinein. Als Zwischenspiel zwischen 2 Hauptabschnitten.
Unbeschreiblich delikater Brief von Ms. Taine aus Paris (— er bekommt auch Peter Gast zu lesen!); er beklagt, für toutes mes audaces und finesses nicht genug deutsch zu verstehn — das heißt nicht gleich beim ersten Blick sie zu verstehn — und empfiehlt mir, als einen competenten Leser, der aufs Tiefste auch Deutschland und deutsche Litteratur studirt habe, Niemand Geringeres als den Chef-Redakteur des Journal des Débats und der Revue des deux Mondes, Ms. Bourdeau, eine der ersten und einflußreichsten Personnagen Frankreichs. Der soll mein Bekanntwerden in Frankreich in die Hand nehmen, die Frage der Übersetzung: dazu empfiehlt ihn Ms. Taine. — Damit ist der große Panama-Canal nach Frankreich hin eröffnet.
Meine herzlichsten Grüße an Ihre verehrten Angehörigen!
Erster Schnee, hübsch!!!
Ihr Freund Nietzsche.
1208. An Andreas Heusler in Basel (Visitenkarte)
Torino, via Carlo Alberto 6, III <22. Dezember 1888>
Es giebt jetzt keinen Zufall mehr in meinem Leben. Diese Nacht gedachte ich eines von mir besonders verehrten Baslers — ich hüte mich zu sagen wen: und eben kommt ein Brief von Overbeck..
1209. An Franz Overbeck in Basel
Turin, den 22. Dezember 1888
Lieber Freund,
ich danke Dir herzlich für Deine Worte, obgleich Du, gemäß dem tiefen Vertrauen, das wir zu einander haben, vollkommen das Recht hättest, jahrelang zu schweigen. Auch habe ich eben einen Gruß an Andreas Heusler abgeschickt: ein sehr angenehmer Zufall wollte, daß er mir diesen Nacht einfiel und mit besonders guten Empfindungen. Vergebung! aber fast jeder Brief, den ich jetzt schreibe, beginnt mit dem Satz, daß es keinen Zufall mehr in meinem Leben giebt. — C. G. Naumann hat mir noch nicht mitgetheilt, ob und wann die Versendung der Götzen-Dämmerung beginnen soll. Ich glaube, er hat jetzt sehr viel mit mir zu thun; vom Ecce homo sind 2 Druckbogen angelangt. — Dies Mal habe ich Basel so bedacht, daß man schon den Versuch machen muß, mich kennen zu lernen. Und man kommt jetzt wenigstens darüber überein, daß ich nicht stupid bin. Abgesehn von Deinem Exemplar, sind Exemplare für die Bibliothek, für die Lesegesellschaft, für die Basler Nachrichten, für Hr. Spitteler bestimmt. Jakob Burckhardt, der zweimal mit außerordentlichen Ehren vorkommt, hat das allererste Exemplar bekommen, das Naumann für mich schickte. — Was ich wünschte, ist, daß ein capitaler Aufsatz über mich von Köselitz, ein Meisterstück von Präcision und Tiefe, im Kunstwart erschienen, dessen Redakteur mich auch als „Hochzuverehrender!“ anredet, etwa in den Basler Nachrichten abgedruckt würde. Es ist durchaus nichts Provocirendes darin; „daß das Verhalten der Deutschen gegen Nietzsche ein neues Blatt zur Geschichte ihrer zunehmenden geistigen Inferiorität liefert“, wird hoffentlich die Basler nicht beleidigen. —
Und nun der „Fall Fritzsch!“ — Dessentwegen muß ich Dir schreiben. Mein Verleger! Der Verleger des Zarathustra! — Ich habe auf der Stelle an ihn geschrieben: „Wie viel verlangen Sie für meine gesammte Litteratur? In aufrichtiger Verachtung Nietzsche“. Antwort: c. 11 000 Mark. —
Es ist eine Anstandssache für mich, ich werde mich hüten, das Wort „Ehre“ solchem Gesindel gegenüber zu mißbrauchen. — C. G. Naumann, in dieser Sache mir zurathend, empfiehlt noch zu warten und eine Reduktion des Preises zu erzielen. Freilich dürfte die Art, wie jetzt von mir gesprochen wird, ihn stutzig machen, so daß ich nicht an Reduktion glaube. Im Grunde ist die Sache ein Glücksfall ersten Rangs: ich bekomme den Alleinbesitz meiner Litteratur in die Hand im Augenblick, wo sie verkäuflich wird. Denn auch die Werke bei C. G. Naumann gehören allein mir.
Problem: wie schaffe ich jetzt 11 000 Mark? Wie viel würden meine Basler Ersparnisse zusammen ausmachen? (— ich bekenne, sie waren nicht dafür, sondern für die großen Druckkosten der nächsten Jahre bestimmt. Zuletzt könnte ich zum ersten Male in meinem Leben Geld dafür borgen, da die „Zahlungsfähigkeit“ bei mir in den nächsten Jahren gar nicht unbeträchtlich werden dürfte. Mit einem guten Pariser Verleger, Lemerre zB., will ich für Ecce homo, mit Vermittlung dieses allereinflußreichsten Chefredakteurs der beiden dominirenden Blätter Frankreichs, Bedingungen ausmachen, wie die ersten Pariser Romanciers sie haben — und ich werde an Zahl der Auflagen selbst Zola’s Nana überwinden… Was räthst Du? — Dir und Deiner lieben Frau ein fröhliches Weihnachten wünschend
Dein Freund N.
Bemerke, ich hatte Taine ganz direkt um die Mittel ersucht, in Frankreich gelesen zu werden, übersetzt zu werden: zu diesem Zweck nennt er mir Ms. B<ourdeau>, aber so delikat, daß es anders klingt.
1209a. An Giosué Carducci in Italien (Entwurf)
<Turin, 25. Dezember 1888>
Verehrter Herr,
Ich weiß nur zu gut, wie gut sie deutsch verstehen: erwägen Sie, ob Sie nicht erst diese Schrift N<ietzsche> c<ontra> W<agner> den Italiänern vorstellen wollen? Man muß in Italien einen Anfang mit mir machen: ich habe die ersten Intelligenzen Europas für mich — Monsieur Taine zum Beispiel — [— — —]
1210. An Franz Overbeck in Basel
<Turin> Weihnachten. <1888>
Lieber Freund
wir müssen die Sache mit Fritzsch schnell machen, denn in zwei Monaten bin ich der erste Name auf der Erde. —
Ich wage noch zu erzählen, daß es in Paraguay so schlimm als möglich steht. Die hinüber gelockten Deutschen sind in Empörung, verlangen ihr Geld zurück — man hat keins. Es sind schon Brutalitäten vorgekommen; ich fürchte das Äußerste. — Dies hindert meine Schwester nicht, mir zum 15. Oktober mit äußerstem Hohne zu schreiben, ich wolle wohl auch anfangen „berühmt“ zu werden. Das sei freilich eine süße Sache! und was für Gesindel ich mir ausgesucht hätte, Juden, die an allen Töpfen geleckt hätten wie Georg Brandes… Dabei nennt sie mich „Herzensfritz“… Dies dauert nun 7 Jahre! — —
Meine Mutter hat keine Ahnung bisher davon — das ist mein Meisterstück. Sie schickte mir zu Weihnachten ein Spiel: Fritz und Lieschen…
Was hier in Turin merkwürdig ist, das ist eine vollkommene Fascination, die ich ausübe, obwohl ich der anspruchsloseste Mensch bin und Nichts verlange. Aber wenn ich in ein großes Geschäft komme, so verändert sich jedes Gesicht; die Frauen auf der Straße blicken mich an, — meine alte Hökerin legt für mich das Süßeste von Trauben zurück und hat den Preis ermäßigt!… Er ist an sich lächerlich… Ich esse in einer der ersten Trattorien, mit 2 ungeheuren Etagen von Sälen und Zimmern. Ich zahle für jede Mahlzeit 1 fr. 25 mit Trinkgeld — und ich bekomme das Ausgesuchteste in der ausgesuchtesten Zubereitung —, ich habe nie einen Begriff davon gehabt, weder was Fleisch, noch was Gemüse, noch was alle diesen eigentlichen ita<lienischen> Speisen sein können… Heute z. B. die delikatesten ossobuchi, Gott weiß, wie man deutsch sagt, das Fleisch an den Knochen, wo das herrliche Mark ist! Dazu broccoli auf eine unglaubliche Weise zubereitet, zuerst die allerzartesten Maccaroni. — Meine Kellner glänzen vor Feinheit und Entgegenkommen: das Beste* ist, ich mache Niemanden dümmer..
Da in meinem Leben noch Alles möglich ist, so notire <ich> mir alle diesen Individuen, die in dieser unentdeckten Zeit mich entdeckt haben. Ich verschwöre es nicht, daß mich bereits mein zukünftiger Koch bedient. —
Noch Niemand hat mich für einen Deutschen gehalten… Ich lese das Journal des Débats, man hat es mir instinktiv beim ersten Betreten des ersten Cafés gebracht. —
Es giebt auch keine Zufälle mehr: wenn ich an Jemand denke, tritt ein Brief von ihm höflich zur Thür herein…
Naumann ist in einem prachtvollen Feuereifer. Ich habe den Argwohn, daß er die Festtage hat drucken lassen. Es sind 5 Bogen in 2 Wochen mir zugeschickt worden. Den Schluß von Ecce homo macht ein Dithyrambus von einer ganz grenzenlosen Erfindung, — ich darf nicht daran denken, ohne zu schluchzen.
Unter uns, ich komme dieses Frühjahr nach Basel, — ich habe es nöthig! Zum Teufel, wenn man nie ein Wort im Vertrauen sagen kann..
Dein Freund N.
Dr. Fuchs führt eben das Duett K<öselitzen>s in einem Danziger Concert auf, er wünscht fürs dortige Theater den Löwen von Venedig! In Anbetracht aber, daß Joachim seine Theilnahme fortsetzt, so ist das Werk sehr wahrscheinlich vom Grafen Hochberg alsbald in Beschlag genommen.. K<öselitz> ist fortgelaufen für die Weihnachtszeit zu seinen Eltern, um sich nicht beschenken zu lassen… Die von Krauses machen in der Weihnachtszeit (wie sonst) einen fürstlichen Aufwand: sie senden z. B. an jede Familie ihrer Dörfer eine Weihnachtskiste. K<öselitz> hat Krause zu seinem Venediger Freunde dem berühmten Passini geführt, um ihm einige Tausende zu verdienen zu geben. — P<assini> lebt jetzt in Berlin.
1211. An Cosima Wagner in Bayreuth (Entwurf)
<Turin, etwa 25. Dezember 1888>
Verehrte Frau,
im Grunde die einzige Frau, die ich verehrt habe… lassen Sie es sich gefallen, das erste Exemplar dieses Ecce homo entgegenzunehmen. Es wird d<a>r<in> im Grunde alle Welt schlecht behandelt, Richard W<agner> ausgenommen — und noch Turin. Auch kommt Malvida als Kundry vor…
Der Antichrist.
1212. An Franz Overbeck in Basel
<Turin, 26. Dezember 1888> Freitag, Morgens.
Lieber Freund,
soeben mußte ich lachen: mir fiel Dein alter Kassierer ein, den ich noch zu beruhigen habe. Es wird ihm wohlthun, zu hören, daß ich seit 1869 nicht mehr heimatberechtigt in Deutschland bin und einen wunderschönen Basler Paß besitze, der mehrere Male von schweizerischen Konsulaten erneuert worden ist. —
— Ich selber arbeite eben an einem Promemoria für die europäischen Höfe zum Zwecke einer antideutschen Liga. Ich will das „Reich“ in ein eisernes Hemd einschnüren und zu einem Verzweiflungs-Krieg provociren. Ich habe nicht eher die Hände frei, bevor ich nicht den jungen Kaiser, sammt Zubehör in den Händen habe.
Unter uns! Sehr unter uns! — Vollkommene Windstille der Seele! Zehn Stunden ununterbrochen geschlafen!
N.
1213. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
<Turin,> den 27. December <1888>
Geehrter Herr,
Sehr verbunden für den Eifer, mit dem der Druck vorwärts geht. Ich habe sowohl die 2 Bogen Ecce als die 2 Bogen N. contra W. druckfertig an Sie zurückgeschickt. —
Soeben meldet mir Dr. Carl Fuchs, daß er eine Schrift gegen Wagner verbrochen habe, die in Danzig durch esprit und Feinheit — er hat sie in der litterarischen Gesellschaft vorgelesen — und auch bei besonderen Fachkennern einen außerordentlichen Erfolg gehabt hat. — Dr. Fuchs ist bei weitem der geistreichste Musiker; das war auch Richard Wagners eigne Meinung. — Ich habe ihm geschrieben, daß ich gerne die Herstellungskosten tragen würde; es ist mir wesentlich, daß ein Musiker mir wieder in dieser Sache Recht giebt. —
Ich nehme an, daß wir die Versendung der Götzen-Dämmerung immer noch hinausschieben? Es hat nicht den geringsten Sinn, jetzt mit Publikationen zu eilen. —
Auch wollen wir so wenig als möglich überflüssige Exemplare verschenken und es im Wesentlichen als ein Buch für die betrachten, die näher schon mit meiner Absicht und Aufgabe vertraut sind. Überflüssig zum Beispiel wäre ein Exemplar nach Paraguay. — Die Verhandlungen zum Zweck einer französischen und englischen Übersetzung der Götzen-Dämmerung sind eingeleitet. —
Alles erwogen, wollen wir im Jahre 1889 die Götzen-Dämmerung und Nietzsche contra Wagner herausgeben: letztere <Schrift> vielleicht zuerst, da mir von allen Seiten geschrieben wird, daß mein „Fall Wagner“ eigentlich erst eine wirklich öffentliche Aufmerksamkeit für mich geschaffen habe.
Ecce homo, das, sobald es fertig ist, in die Hände der Übersetzer überzugehn hat, könnte keinesfalls vor 1890 fertig sein, um in den drei Sprachen zugleich zu erscheinen.
Für die Umwerthung aller Werthe habe ich noch gar keinen Termin. Der Erfolg von Ecce homo muß hier erst vorangegangen sein. — Daß das Werk druckfertig ist, habe ich Ihnen geschrieben.
Als Vorrede zu der Arbeit des Dr. Fuchs würden wir den ausgezeichneten Aufsatz des Hr. Gast nehmen können; ich habe schon mit Avenarius darüber mich verständigt. Titel etwa:
Der Fall Nietzsche.
Randbemerkungen
zweier Musikanten
1214. An Carl Fuchs in Danzig
<Turin,> 27. Dezember 1888.
Alles erwogen, lieber Freund, hat es von jetzt ab keinen Sinn mehr, über mich zu reden und zu schreiben; ich habe die Frage, wer ich bin, mit der Schrift, an der wir drucken Ecce homo für die nächste Ewigkeit ad acta gelegt. Man soll sich fürderhin nie um mich bekümmern, sondern um die Dinge, derentwegen ich da bin. — Auch könnte sich in den nächsten Jahren eine dergestalt ungeheure Umgestaltung meiner äußern Lage ereignen, daß selbst jede Einzelfrage im Schicksal und Lebensaufgabe meiner Freunde davon abhängig würde, — nicht zu reden davon, daß solche ephemere Gebilde wie „das deutsche Reich“ in jeder Rechnung für das, was kommt, wegbleiben müssen. — Zunächst wird Nietzsche contra Wagner herauskommen, wenn Alles geräth, auch noch französisch. Das Problem unsres Antagonism<us> ist hier so tief genommen, daß eigentlich auch die Frage Wagner ad acta gelegt ist. Eine Seite „Musik“ über Musik in der genannten Schrift ist vielleicht das Merkwürdigste, was ich geschrieben habe .. Das, was ich über Bizet sage, dürfen Sie nicht ernst nehmen; so wie ich bin, kommt B<izet> Tausend Mal für mich nicht in Betracht. Aber als ironische Antithese gegen W<agner> wirkt es sehr stark; es wäre ja eine Geschmacklosigkeit ohne Gleichen gewesen, wenn ich etwa von einem Lobe Beethovens hätte ausgehen wollen. Zu alledem war W<agner> rasend neidisch auf Bizet: Carmen ist der größte Opern-Erfolg überhaupt in der Geschichte der Oper und hat bei weitem die Zahl der Aufführungen aller Wagnerischen Opern zusammen in Europa für sich allein überboten. —
Die stupide Taktlosigkeit Fritzschs, mich in seinem eignen Blatte zu verhöhnen, hat den großen Nutzen, daß sie mir einen Anlaß bot, F<ritzsch> zu schreiben: wie viel wollen Sie für meine ganze Litteratur? In aufrichtiger Verachtung Nietzsche. Antwort: 11 000 Mark. — Gesetzt, daß ich auf diesen Weise, im letzten Augenblick Alleinbesitzer meiner Werke werde (— denn auch C. G. Naumann besitzt nichts von mir), so war die Dummheit F<ritzsch>s ein Glücksfall ersten Rangs. — Ich will schon dafür Sorge tragen, daß Sie zur rechten Zeit alle meine Schriften, die Ihnen fehlen, zugeschickt bekommen: warten Sie nur noch ein wenig! — Der Gedanke mit Rostock, gesetzt auch daß es ein Interim-Gedanke von zwei Jahren wäre, scheint mir sehr vorzüglich, namentlich in der Übung und Einübung der eigentlichen Dirigenten-Qualitäten, — auch sonst…
Lieber Freund, ich bitte Sie dringend darum, Ihre Schrift über Wagner an meinen Verleger Herrn C. G. Naumann zu schicken: Sie dürfen sie mir mit einer kleinen Vorrede widmen. Wir müssen die Deutschen durch esprit rasend machen…
Den Tristan umgehn Sie ja nicht: es ist das capitale Werk und von einer Fascination, die nicht nur in der Musik, sondern in allen Künsten ohne Gleichen ist. —
Ich schlage vor, den ausgezeichneten Aufsatz des Herrn Köselitz über mich als Vorrede zu Ihrer Schrift gegen W<agner> voranzudrucken: macht einen prachtvollen Eindruck.
Titel: Der Fall Nietzsche
von Peter Gast und Carl Fuchs
1215. An Heinrich Köselitz in Annaberg
<Turin, 27. Dezember 1888>
Ein Wort nur, lieber Freund! Ich proponire eben Herrn Dr. Fuchs, seine Schrift gegen Wagner im Bunde mit Ihnen herauszugeben, so daß Ihr Aufsatz im Kunstwart die Einleitung macht — oder die Vorrede. Ich habe bereits mich mit Avenarius über eine Separat-Ausgabe derselben verständigt (— wie billig, könnten Sie etwas Weggestrichnes wieder herstellen). Titel, was denken Sie?
Der Fall Nietzsche.
Randbemerkungen
zweier Musikanten.
Auch schadet es Nichts, wenn Sie mich ein wenig als Musiker behandeln — den stupiden Deutschen käme dergleichen nie in den Kopf.
1216. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)
<Turin, 28. Dezember 1888>
Ich habe einen Accent vergessen auf Seite 4 von N.c.W
Géraudel
Auf Seite 6 fünfte Zeile von unten muß es heißen:
aus drei Gründen,
N.
Ein gutes Neujahr — für uns Beide…
1217. An Jean Bourdeau in Paris (Entwurf)
<Turin, kurz vor dem 29. Dezember 1888>
Zuletzt, verehrter Herr, verberge ich mir, als alter Leser des J<ournal> d<es> D<ébats> nicht, wie wenig Sie gerade jetzt für mich Zeit haben werden. Nehmen Sie an, daß ich zufrieden bin, mich Ihnen vorgestellt zu haben, — und daß ich warten kann…
1218. An Julius Kaftan in Berlin (Entwürfe)
<Turin, gegen Ende Dezember 1888>
Werther Herr Professor,
Sie gehören, mit Ihrem Besuch in Sils von vorigem Sommer, zu den haarsträubenden Geschichten meines Lebens. Ich übersende Ihnen ein Buch, das in zehn Tagen Ihres Aufenthalts daselbst entstanden ist, nur um Ihnen einen Begriff davon zu geben, daß der Ort, den der tiefste Geist aller Jahrtausende sich ausgewählt hat, keine Theologen verträgt.
Herrn Professor Kaftan
Werthester Herr Professor, Sie gehören, mit Ihrem Besuch in Sils, zu den haarsträubenden Geschichten meines Lebens. Das hindert mich nicht, Ihnen gewogen zu sein: Zeugniß die Übersendung des beifolgenden Buchs. — In zwei Jahren wird Ihnen jeder Zweifel daran benommen sein, daß ich von nun an die Welt regiere
Friedrich Nietzsche.
1219. An Carl Spitteler in Basel (Entwurf)
<Turin, gegen Ende Dezember 1888>
Werther Herr,
Sie sind, mit Dr. Widmann, ein extremer Fall in meinem Leben. Ich bekenne, daß ich den Fall Spitteler nicht verstehe: ich bin an Ehrfurcht gewohnt, vergeben Sie mir das Wort — nicht von irgend Jemand, sondern von den ersten Geistern, die es heute giebt. Sie sollten einen Begriff davon haben, wie Ms Taine an mich schreibt. — Im Grunde verstehe ich Sie nicht. Ihre Worte über „die Geneal<ogie> der Moral“, die mich im Zustand tiefster Versenkung in meine ungeheure Aufgabe trafen, werden mir unvergeßlich bleiben. Nehmen Sie alle Höhe, alle Geisteskraft alle Schöpfungen der ersten Individuen der M<ensch>h<eit> zusammen — Sie bringen nicht eine Seite dieses Werkes hervor, geschweige denn ihre Form. — Es ist gar nicht nöthig, Viel von mir zu lesen, eine Seite, um eine Distanz aufzurichten, über die Niemand hinwegspringt. Sie haben nicht einmal gemerkt, daß die Schrift über W<agner> von mir handelt.
1220. An Constantin Georg Naumann in Leipzig
<Turin, den 29. Dec. 1888>
Geehrter Herr Verleger,
mich bestens für Ihre so eben erhaltne Mittheilung bedankend, möchte ich Sie bitten, die Fortsetzung der Drucklegung des Ecce anzuordnen, sobald N.c.W. fertig ist. Einstweilen kommt Ecce auch für Übersetzungs-Pläne noch nicht in Betracht. Ein äußerst liebenswürdiger und entgegenkommender Brief des Ms. Bourdeau, Chefredakteur des J. des Débats, der heute eintraf und der mir erzählt, wie lange und wie gut er meine Werke kenne, nimmt zunächst la „Crépuscule des idoles“ in Aussicht. — Über das gleiche Werk verhandle ich hinsichtlich einer englischen und einer italiänischen Übersetzung. Man muß erst eine Brücke geschaffen haben. —
Ein Rest von Ms, lauter extrem wesentliche Sachen, darunter das Gedicht, mit dem Ecce homo schließen soll, ein non plus ultra von Höhe und Erfindung — ist heute eingeschrieben an Sie abgegangen. — Mit bestem Gruß und Neujahrswunsch
ergebenst
Nietzsche
— Ich bin Ihrer Meinung, daß wir auch für Ecce die Zahl von 1000 Exemplar nicht überschreiten wollen: 1000 Exemp<lar>e in Deutschland ist für ein Werk hohen Stils vielleicht schon ein wenig verrückt, — in Frankreich rechne ich, allen Ernsts, auf 80—400 000 Exemplare. —
Eine Besprechung vom „Fall W<agner>“ im J. des Déb. für Januar in Aussicht
1221. An Franz Overbeck in Basel (Entwurf)
<Turin, etwa 29. Dezember 1888>
Lieber Freund, Dein Brief überrascht mich nicht. Ich rechne es Niemandem an, wenn er nicht weiß, wer ich bin; es steht Niemandem frei, das zu wissen. Es stünde schlimm um mich, wenn ich meine paar menschl<ichen> Beziehungen mir mit absurden Ansprüchen verdorben hätte. Ich habe keinen Augenblick in meinem Leben gegen Dich irgend ein Mißtrauen oder auch nur Verstimmung verspürt: Du bist sogar einer der ganz Wenigen, — gegen die ich tief verpflichtet bin. — Daß ich kein Mensch, sondern ein Schicksal bin, das ist kein Gefühl, welches sich mittheilen ließe. Du brauchst es mir auch heute nicht zu glauben: ich selber glaube sehr ungern daran. Es fehlt mir nicht an Bosheit und Übermuth, um gelegentlich mich über mich lustig zu machen.
1222. An Franz Overbeck in Basel
<Turin, 29. Dezember 1888>
Nein, lieber Freund, mein Befinden ist nach wie vor ausgezeichnet; nur habe ich den Brief bei sehr schlechtem Licht geschrieben — ich erkannte nicht mehr, was ich schrieb. Auch darfst Du nicht denken, daß jene „traurigen“ Mittheilungen auch nur im Entferntesten mich berührten; das liegt seit Jahren tausend Meilen unter mir. — Die Sache mit F<ritzsch> laufen zu lassen ist jedenfalls die Vernunft selbst: er hat mir in seinem neuesten Brief noch erklärt, daß er sich an die genannte Ziffer gebunden wisse. — Ich bin heute sehr glücklich über einen überaus liebevollen und delikaten Brief des Ms. Bourdeau, der mir erzählt, wie viel er von mir schon kenne und wie er von seinem Freunde Hillebrand sehr gut über mich seit lange unterrichtet worden sei. Das Journal des Déb<ats> bringe im Monat Januar einen Artikel über den „Fall Wagner“ aus der Feder Monod’s. — Auch Heusler hat mir auf das Herzlichste geschrieben. —
„Crépuscule des idoles“ wird zuerst in Angriff genommen; ich bin für die Übersetzung desselben Werks mit Miß Helen Zimmern in Unterhandlung, die auch schon Schopenhauer den Engländern vorgestellt hat. — (Ich verhandle auch mit Bonghi —) Unterschätze nicht, daß ich den Fall Fritzsch als Glücksfall empfinde…
Mein Brief kommt gerade zur rechten Zeit, um Dir und Deiner lieben Frau herzlich zum neuen Jahr Glück zu wünschen.
Dein Freund N
— Weißt Du, in meiner äußeren Lage verändert sich in den nächsten Jahren gar nichts, vielleicht überhaupt nicht mehr. Ich mag jeden Grad von Ansehn erreichen, ich will weder meine Gewohnheiten, noch mein Zimmer für 25 frs. aufgeben. Man muß sich an diese Sorte Philosoph gewöhnen. —
Es ist wieder recht schlechtes Licht — come in Londra, sagen mir die Turiner seit 6 Tagen. Nebbia!…
Ich bildete mir sogar ein, ich hätte Dir lauter sehr heitre Sachen geschrieben? — Aufrichtig, ich weiß gar nicht mehr, wie das aussieht, was man Ärger nennt…
1223. An Meta von Salis auf Marschlins
Turin, den 29. Dez. 1888.
Verehrtes Fräulein,
es ist vielleicht nicht verboten, Ihnen um die Jahreswende einen Gruß zu senden — Hoffentlich giebt es ein gutes Jahr. Vom alten sage ich gar Nichts mehr — es war zu gut…
Inzwischen fange ich an, auf eine vollkommen unerhörte Weise berühmt zu werden. Ich glaube, daß noch nie ein Sterblicher solche Briefe bekommen hat, wie ich sie bekomme und nur von lauter ausgesuchten Intelligenzen, von Charakteren in hohen Pflichten und Stellungen bewährt. Überall her: nicht am wenigsten aus der ersten St. Petersburger Gesellschaft. Und die Franzosen! Sie sollten den Ton hören, mit dem Ms. Taine an mich schreibt! So eben traf ein bezaubernder, vielleicht auch bezauberter Brief eines der ersten und einflußreichsten Männer Frankreichs ein, der aus dem Bekanntwerden und Übersetzen meiner Schriften sich eine Aufgabe machen will: kein Geringerer als der Chef-Redakteur des Journal des Débats und der Revue des deux Mondes Ms. Bourdeau. Er sagt mir übrigens, daß eine Besprechung meines „Fall Wagner“ im Januar des J. d Déb. erscheinen werde — von wem? Von Monod. — Ich habe ein veritables Genie unter meinen Lesern, den Schweden August Strindberg, der mich als den tiefsten Geist aller Jahrtausende empfindet. Ich sende Ihnen einen Aufsatz im „Kunstwart“, mit der Bitte, ihn mir gelegentlich zurückzugeben, der in der That auf eine vollkommene Weise den „Fall Nietzsche“ präcisirt. — Das Merkwürdigste ist hier in Turin eine vollkommne Fascination, die ich ausübe — in allen Ständen. Ich werde mit jedem Blick wie ein Fürst behandelt, — es giebt eine extreme Distinktion in der Art, wie man mir die Thür aufmacht, eine Speise vorsetzt. Jedes Gesicht verwandelt sich, wenn ich in ein großes Geschäft trete. — Und da ich Nichts beanspruche und mit vollkommner Gelassenheit gegen Jedermann gleich bin, auch das Gegentheil eines düsteren Gesichts habe, so brauche ich weder Namen, noch Rang, noch Geld, um immer noch unbedingt der Erste zu sein. —
Damit es nicht am Contraste fehlt! meine Schwester hat mir zu meinem Geburtstage mit äußerstem Hohne erklärt, ich wolle wohl auch anfangen, „berühmt“ zu werden… Das werde ein schönes Gesindel sein, das an mich glaube… Dies dauert jetzt sieben Jahre… —
Noch ein andrer Fall. Ich halte ernsthaft die Deutschen für eine hundsgemeine Art Mensch und danke dem Himmel, daß ich in allen meinen Instinkten Pole und nichts Andres bin. Mein Verleger, Herr E. W. Fritzsch, hat bei Gelegenheit vom „Fall Wagner“ einen der schnödesten Artikel über mich in dem von ihm selbst redigirten Mus<ikalischen> Wochenblatt abdrucken lassen. Ich habe ihm darauf sofort geschrieben „Wieviel verlangen Sie für meine ganze Litteratur? In aufrichtiger Verachtung Nietzsche.“ — Antwort: 11 000 Mark. — Sehen Sie! Das ist deutsch… der Verleger des Zarathustra!
Georg Brandes geht diesen Winter wieder nach St. Petersburg, um über das Unthier Nietzsche Vorträge zu halten. Er ist wirklich ein ausgezeichnet intelligenter und guter Mensch, ich habe noch nie so delikate Briefe bekommen. — Es wird auf das Eifrigste gedruckt, feuereifrigst… Inzwischen ist Herr Köselitz ein großes Thier geworden: Joachim und de Ahna schwärmen für diesen neuen „Klassiker“, — ich füge hinzu, daß er in einem der glänzendsten Häuser Berlins mit nur allzuglücklichem Erfolg sich um ein merkwürdig schönes und interessantes Mädchen bewirbt, obwohl er einen Grafen Schlieben zum Rivalen hat. Er war schon den ganzen Sommer auf dem Waldschloß seiner Prinzessin in Hinterpommern unter lauter Junkern und Gardelieutnants. Wahrscheinlich wird ihn Graf Hochberg um die erste Aufführung des Löwen von Venedig für Berlin angehen. — Kurz: Umwerthung aller Werthe… Mit den besten Grüßen und Wünschen
Ihr N.
Haben Sie davon gehört, daß Mad. Kowalewski in Stockholm (— sie stammt vom alten Ungarnkönig Matthias Corvin) den allerersten mathematischen Preis von der Pariser Akademie erhalten hat, den sie vergeben kann? Sie gilt heute als das einzige Genie der Mathematik. —
1224. An Meta von Salis in Marschlins (Postkarte)
<Turin, 29. Dezember 1888>
Verehrtes Fräulein,
erweisen Sie mir die Gefälligkeit, den Kunstwart nicht an mich, sondern an Herrn Prof. Dr. Overbeck (Basel, Seevogelstr.) weiter zu senden. Hochachtungsvoll ergeben
N.
1225. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)
Turin, 30. Dezember 1888
Auf Seite 6 unten ist der Text dergestalt zu erweitern:
:ich nehme, aus drei Gründen, Wagner’s Siegfried-Idyll aus; vielleicht auch Liszt, der die vornehmen Orchester-Accente vor allen Musikern voraus hat; zuletzt noch Alles, was jenseits der Alpen gewachsen ist — diesseits… Ich würde Rossini usw. usw.
1226. An Andreas Heusler in Basel
Torino, via Carlo Alberto 6, III den 30. Dezember 1888
Lieber Heusler,
ich gebe Ihnen sofort ein Zeichen meines Vertrauens, wie ich es jetzt nicht an fünf, sechs Andre geben möchte. Alle stupiden Geschichten in meinem Leben kommen aus Deutschland: hören Sie die letzte! — Mein eigner Verleger E. W. Fritzsch in Leipzig, der neun Werke von mir hat (unter Anderem den Zarathustra, das erste Buch aller Bücher, ich bitte um Vergebung für diesen Ausdruck) — besagter F. hat mich bei Gelegenheit des „Fall Wagner“ in der von ihm selbst redigirten musikalischen Wochenschrift auf die schnödeste und persönlichste Weise verhöhnen lassen. Darauf habe ich ihm geschrieben: „wie viel wollen Sie für meine ganze Litteratur? In aufrichtiger Verachtung Nietzsche“ — Antwort: c. 11,000 Mark: das ist der dritte Theil des brutto-Werthes der noch vorhandenen Exemplare (= 33,000 M) Mein eigentlicher Verleger, Herr C. G. Naumann, einer der ehrenwerthesten Geschäftsleute Leipzigs und Besitzer einer großen Druckerei, räth mir unbedingt dazu, die unerhörte Taktlosigkeit des Fritzsch als Glücksfall zu betrachten, da ich dergestalt, unmittelbar vor dem Augenblick, wo ich „weltberühmt“ werde, meine ganze Litteratur in die Hände bekomme. Denn ich bin auch für den Verlag von C. G. Naumann (— 4 Werke bis jetzt) der Alleinbesitzer. Es wird auf meine Kosten gedruckt und betrieben; ich habe noch keinen Centime Honorar empfangen (— ein Kunststück, lieber Heusler! denn ich bin der Gegensatz eines vermöglichen Menschen, zum Glück aber sehr ökonomisch. Ich zahle z. B. hier 25 frs. für mein Zimmer, den Monat, mit Bedienung — ich will’s auch durchaus nicht anders haben)
Moral der Geschichte: ich brauche c. 14000 frs. — In Anbetracht, daß meine nächsten Werke sich nicht nach Tausenden, sondern nach Zehntausenden verkaufen, und zwar zugleich französisch, englisch und deutsch, so darf ich unbedenklich jetzt mir die genannte Summe entleihen. Ich habe in meinem Leben noch keinen centime Schulden gehabt. — Für die französischen Übersetzungen meiner Bücher, sammt den dazu gehörigen Verleger-Arrangements, sorgt einer der einflußreichsten und intelligentesten Männer Frankreichs, der Chef-Redakteur des Journal des Débats und der Revue des deux Mondes, Ms. Bourdeau, der mir gestern noch den allerliebenswürdigsten Brief schrieb — denn ich habe das Glück, daß mich meine Anhänger lieben. Zunächst wird erscheinen: Crépuscule des idoles. — Die Beziehung zwischen uns ist durch Ms. Taine hergestellt, mit einer délicatesse, die ich nicht genug bewundern kann. — Ich gelte, unter uns, in Paris als das geistreichste Thier, das auf Erden dagewesen ist und, vielleicht, noch als etwas mehr..
Lieber Heusler! Der Rest ist Schweigen.. Alles unter uns!
Friedrich Nietzsche
— mi sinceri auguri…
(Anbei folgt ein Wort über mich, absolut gescheut und ohne Hintergedanken: der Verfasser, jetzt bei weitem der erste Musiker, mein maëstro, hat in Basel studirt, als ich dort war — Peter Gast (pseudon. für Heinrich Köselitz)
— ich bitte mir das Blatt zurück, da ich es nicht zwei Mal habe
1227. An Heinrich Köselitz in Berlin (Entwurf)
<Turin,> Sonntag — Sonntag <30 Dzpar excellence (obwohl es trübe ist —)
Alter Freund,
unter meinem Fenster spielt, ganz als ob ich bereits princeps Taurinorum, Caesar Caesarum und dergleichen wäre, in aller Macht das Municipal-Orchester von Turin z. B. eben noch rhapsodie hongroise ich erkenne das grandiose Cleopatra-Werk von Mancinelli. Vorhin gieng ich an der mole Antonelliana vorbei, dem genialsten Bauwerk, das vielleicht gebaut worden, — merkwürdig, es hat noch keinen Namen — aus einem absoluten Höhentrieb heraus, — erinnert an gar nichts außer an meinen Zarathustra. Ich habe es Ecce homo getauft und im Geiste einen ungeheuren freien Raum herum gestellt. — Dann gieng ich nach meinem palazzo, jetzt palazzo Madama — die madama dazu schaffen wir an —: kann vollkommen bleiben wie er ist, bei weitem die malerischeste Art von großgedachtem Schloß — namentlich im Treppenhaus. Dann bekam ich ein Huldigungsschreiben von meinem Dichter Auguste Strindberg, einem veritablen Genie zu Ehren meiner „grandiosissime Génealogie de la Morale“, mit seinem Ausdruck de sa profonde admiration. Dann schrieb ich, in einem heroisch-aristophanischen Übermuth eine Proklamation an die europäischen Höfe zu einer Vernichtung des Hauses Hohenzollern, dieser scharlachnen Idioten und Verbrecher-Rasse seit mehr als 100 Jahren verfügte dabei über den Thron von Frankreich auch über Elsass, indem ich Victor Buonaparte, den Bruder unsrer Laetitia zum Kaiser machte und meinen ausgezeichneten Ms. Bourdeau, Chef-Redakteur des Journal de Débats und der Revue des deux Mondes zum ambassadeur an meinem Hofe ernannte, — aß nachher bei meinem Koch zu Mittag (— er heißt nicht umsonst de la Pace —) und schreibe nunmehr an meinen Freund und allerhöchst vollkommenen maëstro einen Brief, um ihm Theater, Orchester und alle Art camera in Aussicht zu stellen… Auch habe ich bereits, ihm zu Liebe, die schönste Seite über Musik geschrieben die vielleicht geschrieben worden ist — und zuletzt nicht ihm zu Liebe, vielmehr Jemandem — der, die, das — zu Liebe, der — die — das die Seite einmal lesen soll…
Friedrich Nietzsche
N.
Ich war noch beim Begräbniß des uralten Antonelli zugegen, diesen November. — Er lebte genau so lange, bis Ecce homo, das Buch, fertig war. — Das Buch und der Mensch dazu…
Ich habe gestern mein non plus ultra in die Druckerei geschickt, Ruhm und Ewigkeit betitelt, jenseits aller sieben Himmel gedichtet. Es macht den Schluß von Ecce homo. — Man stirbt daran, wenn man’s unvorbereitet liest…
Man wird deutsch an meinem Hofe sprechen: denn die höchsten Werke der M<ensch>h<eit> sind deutsch geschrieben…
Gymnastik und Pastilles Géraudel nehmen…
Damit ich Ihnen meine Hintergedanken nicht vorenthalte, schicke ich Ihnen einen Brief ab, den ich gestern für meinen maestro, Herrn Pietro Gasti schrieb — und der noch ein paar Tage warten darf… Ich vermache Ihnen diesen B<rief> zu jedem beliebigen Gebrauch
Wenn Sie mich bitten, bekommen Sie auch die Proklamation für das J<ournal> des Debats : sie genügt… Triple alliance — aber das ist ja nur eine Höflichkeit für mésalliance …
1228. An Heinrich Köselitz in Annaberg
Turin, den 31. Dezember 1888
— Sie haben tausend Mal Recht! Warnen Sie selbst Fuchs… Sie werden in Ecce homo eine ungeheure Seite über den Tristan finden, überhaupt über mein Verhältniß zu Wagner. W<agner> ist durchaus der erste Name, der in E<cce> h<omo> vorkommt. — Dort, wo ich über Nichts Zweifel lasse, habe ich auch hierüber den Muth zum Äußersten gehabt.
Ah, Freund! welcher Augenblick! — Als Ihre Karte kam, was that ich da… Es war der berühmte Rubicon…
Meine Adresse weiß ich nicht mehr: nehmen wir an, daß sie zunächst der palazzo del Quirinale sein dürfte.
N.
1229. An August Strindberg in Holte
Turin, den 31. Dezember 1888
Lieber Herr,
Sie werden die Antwort auf Ihre Novelle in Kürze zu hören bekommen — sie klingt wie ein Flintenschuß.. Ich habe einen Fürstentag nach Rom zusammenbefohlen, ich will den jungen Kaiser füsillieren lassen.
Auf Wiedersehn! Denn wir werden uns wiedersehn.. Une seule condition: Divorçons…
Nietzsche Caesar
1230. An Ruggero Bonghi in Rom (Entwurf)
<Turin, Ende Dezember 1888>
Ich würde einen außerordentlichen Werth darauf legen, von Ihnen den Italiänern vorgestellt zu werden. Ich habe jetzt meine Leser überall, lauter ausgesuchte Intelligenzen — Msr. Taine gehört zu ihnen, bewährte, in hohen Stellen und Pflichten erprobte Charaktere — in Wien, in St. Petersburg, in Stockholm, in Paris, in New York — ich habe sie nicht in Deutschland: kein Wunders, daß keiner mich auch in Italien hört! — Wie kann ein Volk von ernsthaften Menschen, das erste Volk Europas, sich mit dieser Heerden-Rasse par excellence einlassen?… Triple alliance — aber das ist ja das Wort für mésalliance.
Ich sende Ihnen irgend ein Buch von mir. Jeder braucht der Vorstellung. Ich bin bei weitem der stärkste Geist, der auf Erden sein kann, — es steht mir nicht frei etwas andres zu sein. In zwei Jahren habe ich die höchste Gewalt in Hand, die je ein Mensch gehabt hat — ich will das „Reich“ in einen eisernen Gürtel einschließen…
Für die Übersetzung der Götzen-Dämmerung sind eben die Unterhandlungen für Frankreich (Ms. Bourdeau Chefredakteur führt [—]) und einen englischen Übersetzer eingeleitet, — das Buch genügt, um auch für Italien die absurden Fragen, eingerechnet die päpstliche, ad acta zu legen.
Ich wäre dankbar, wenn Sie meinen Brief Seiner Majestät dem Könige Umberto vorlegten. Es giebt keinen besseren Freund Italiens als mich. Ich denke, ich werde Victor Buonaparte als K>aiser> v<on> F<rankreich> nöthig haben.
1231. An Ruggero Bonghi in Rom (Entwurf)
<Turin, Ende Dezember 1888>
Was geht uns Alle um des Himmels Willen der dynastische Wahnsinn des Hauses Hohenzollern an!… Es ist ja keine nationale Bewegung, nichts als eine dynastische… Fürst Bismarck hat nie ans „Reich“ gedacht, — er ist ja mit allen Instinkten bloß Werkzeug des Hauses Hohenzollern! — und diesen Aufreizung zur Selbstsucht der Völker wird als große Politik, als Pflicht beinahe in Europa empfunden und gelehrt!… Damit muß man ein Ende machen — und ich bin stark genug dazu…
Um einen Begriff von mir zu geben, lege ich ein Buch bei, das noch nicht im Buchhandel ist; insgleichen ein Unheil über mich, das von einem ausgesucht tiefen und ernsten M. herrührt. Es wäre mein aufrichtiger Wunsch, daß das Buch auf italiänisch zu lesen wäre: ich verhandle eben mit dem ausgezeichneten Redakteur des Journal des Débats und der Revue Ms. Bourdeau zum Zweck einer französischen Übersetzung. — Die Werke, die von mir folgen werden — und die alle vollkommen bereit sind — sind keine Bücher mehr, sondern Schicksale. Aber ich habe nothwendig erst die intelligenten Nationen auf meine Seite zu bringen: denn obwohl ich den Deutschen so nahe wie möglich stand — ich war mit 24 Jahren ordentlicher Universitätsprofessor — so habe ich nicht ein Ohr dieser stupiden Rasse zu mir überredet.
1231a. An Ruggero Bonghi in Rom (Entwurf)
<Turin, Ende Dezember 1888>
Ich würde einen ausserordentl. Werth darauf legen, von Ihnen den Italiänern vorgestellt zu werden. Ich habe meine Leser jetzt überall, lauter ausgesuchte M<enschen> in St. Petersburg in Paris in Kopenhagen, Stockholm — ich habe sie nicht in Europas „Flachland" Deutschland
xxx s. Faksimile, Anhang Nr. 84
M. Taine gehört zu ihnen — Sie enthalten auch noch Andr. Um einen Begriff von mir zu geben, lege ich ein Buch bei, das noch nicht im Buchhandel ist; desgleichen ein Urtheil über mich, das von Jemanden herrührt, der sich am tiefsten mit mir beschäftigt hat.