1888, Briefe 969–1231a
985. An Josef Viktor Widmann in Bern
Nizza, Pension de Genève, den 4. Febr. 1888.
Hochgeehrter Herr Doctor,
die Besprechung meiner Litteratur durch Herrn Spitteler hat mir großes Vergnügen gemacht. Was für ein feiner Kopf! Und wie gern man sich von ihm tadeln läßt! Er beschränkt sich aus guten Gründen fast ganz auf das Formale: er läßt die eigentliche Geschichte hinter dem Gedachten, die Leidenschaft, die Katastrophe, die Bewegung gegen ein Ziel, gegen ein Verhängniß hin einfach bei Seite: — das kann ich nicht genug loben, darin ist wirkliche delicatezza. Es fehlt nicht an Uebereilungen. Er hat ersichtlich die Schriften zum ersten Mal gelesen (und nicht einmal immer gelesen —). Umsomehr bewundere ich die Sicherheit des ästhetischen Taktes, mit der er die Form der verschiedenen Bücher und Epochen von einander abhebt. Ich bin sehr unzufrieden damit, daß „Jenseits“ unberücksichtigt geblieben ist: Damit fehlte ihm eigentlich der Boden unter den Füßen, um über die letzterschienene „Streitschrift!“ (Genealogie der Moral) mitzureden.
Die Schwierigkeit meiner Schriften liegt darin, daß es in ihnen ein Uebergewicht der seltneren und neuen Zustände der Seele über die normalen giebt. Ich lobe das nicht; aber es ist so. Für diese noch ungefaßten und oft kaum faßbaren Zustände suche ich Zeichen; es scheint mir, daß ich darin meine Erfindsamkeit habe. Nichts liegt mir ferner, als der Glaube an einen „allein selig machenden Stil“, an den, wenn ich recht verstehe, Herr Spitteler glaubt? Hat nicht die Absicht einer Schrift nicht immer erst das Gesetz ihres Stils zu schaffen? Ich verlange, daß, wenn diese Absicht sich ändert, man auch unerbittlich das ganze Prozedurensystem des Stils ändert. Dies habe ich zum Beispiel im „Jenseits“ gethan, dessen Stil meinem früheren Stil nicht mehr ähnlich sieht: die Absicht, das Schwergewicht war verlegt. Dies habe ich nochmals in der letzten „Streitschrift“ gethan, wo ein Allegro feroce und die Leidenschaft nue, crue, verte an Stelle der raffinirten Neutralität und zögernden Vorwärtsbewegung vom „Jenseits“ getreten ist. Es ist möglich, daß Herr Nietzsche mehr Artist ist, als Herr Spitteler es uns glauben machen möchte…
Mit meinem verbindlichsten Dank und Gruß
Ihr
Nietzsche.