1888, Briefe 969–1231a
976. An Heinrich Köselitz in Venedig
Nizza, den 15. Jan. 1888.
Lieber Freund,
das letzte Wort Ihres Briefes überrascht und betrübt mich über alle Maaßen. Wie geht doch dergleichen zu? Wie unsinnig, wie zufällig erscheint Einem Alles! Mir ist in solchen Fällen immer, als ob ich aufwachte, und als ob ich im Grunde gar nicht lebte, sondern träumte. Ich weiß mich mit keiner Art Realität mehr zu arrangieren. Wenn ich es nicht zu Stande bringe, sie zu vergessen, bringt sie mich um. Ich erschrecke, wenn ich mir denke, wie Sie sich befinden mögen. Unsre Haut, unsre Einsiedlerhaut ist nicht Fell genug für solche Dinge, — um nichts vom Herzen zu sagen.
— Mir fällt der stupide Egoism aufs Gewissen mit dem ich meinen letzten Brief an Sie geschrieben habe, ohne Ihnen etwas Andres zu erzählen als meine incurata und incurabilia. Sonderbar! Nicht in der schlechtesten Zeit meiner Gesundheit ist mir das Leben so sehr als Schwierigkeit erschienen wie jetzt. Es giebt Nächte, wo ich mich auf eine vollkommen demüthigende Weise nicht mehr aushalte. Trotzalledem: es bleibt so Vieles noch zu thun (Alles sogar! —) Folglich wird man’s aushalten. Zu dieser „Weisheit“ bringe ich’s wenigstens den Vormittag.
— Musik giebt mir jetzt Sensationen, wie eigentlich noch niemals. Sie macht mich von mir los, sie ernüchtert mich von mir, wie als ob ich mich ganz von Ferne her überblickte, überfühlte; sie verstärkt mich dabei, und jedes Mal kommt hinter einem Abend Musik (— ich habe 4 Mal Carmen gehört) ein Morgen voll resoluter Einsichten und Einfälle. Das ist sehr wunderlich. Es ist als ob ich in einem natürlicheren Elemente gebadet hätte. Das Leben ohne Musik ist einfach ein Irrthum, eine Strapatze, ein Exil.
— Inzwischen hat sich in mir Ihre Pastorale- Musik mit dem Nachmittagslicht von San Michele in mir verschmolzen: ich möchte Beides um mein Leben gern noch einmal Wiederhören. Nichts Lieberes kann ich mir denken, als daß Sie ein Finale „wälzen“.
— Wälzen Sie nicht auch ein wenig volumina, ich meine Schreibpapier-Blätter? Herr Avenarius hat die letzten Nummern des „Kunstwarts“ gesandt, ersichtlich, um Herrn Spitteler als arrivé zu präsentieren.
— Fritzsch ist von mir aufs Neue über die Sendung nach Kopenhagen befragt worden. Keine Antwort. Dr. B<randes> hat gestern Abend gemeldet, daß Nichts angelangt sei. Ich nehme an, daß die Venediger Sendung unmittelbar nach Abgang seines Briefes in seine Hände gelangt sein wird. Meinen besten Dank für Ihre Bemühung, lieber Freund! — (Der Brief war vom 11. Januar.)
Er erzählt, unter Anderem, daß er jetzt der angefeindetste Mensch im ganzen Norden sei, und das seit seiner langen letzten Fehde mit Björnson, (bei der übrigens auch alle deutschen Zeitungen gegen Brandes Partei genommen haben: ein schönes Zeichen der Zeit!) Haben Sie nicht von Björnson’s Drama „der Handschuh“ gehört, von seiner Propaganda für die Virginität der Männer und von seinem Bund mit den weiblichen Fürsprecherinnen der „sittlichen Gleichheits-Forderung“? (— dies ist die Formel) In Schweden haben die tollen Frauenzimmer große Vereine geschlossen, in welchen sie versprechen, nur „jungfräuliche Männer zu heirathen“. (— also garantirt, wie Uhren, widrigenfalls usw)
B<randes> jammert über die gräßliche Uniformität des deutschen Lebens; das deutsche Schriftstellerthum vom Verlegerthum erstickt; alle guten Köpfe in den Generalstab oder die Administration gehend (— „Sie sind ohne Zweifel der anregendste aller deutschen Schriftsteller“. Ungefähr das Gleiche hat mir Ms. Taine gesagt)
Ihre Worte über „reaktive Musik“ haben mich sehr interessirt; der Gesichtspunkt könnte deutlicher sein als „klassisch“ und „romantisch“, und vielleicht der selbe. Sehen Sie, bitte, noch Hasse an, das Vorbild Mozarts. Absolute Herrschaft des Wissens um die delikatesten Bedingungen, welche eine schöne Stimme an die Melodie stellt …
In treuer Freundschaft Ihr N.
Eben langt ein Werk des Dr. Brandes bei mir an, das er angekündigt hatte: Aufsätze über Renan, Flaubert, de Goncourt, Turgenjew, Ibsen, St. Mill usw — feines Zeug, wie es scheint.