1888, Briefe 969–1231a
1142. An Heinrich Köselitz in Berlin
Torino, via Carlo Alberto 6III.<13. November 1888.>
Lieber Freund,
Ihr letzter Brief gab mir, unter Anderem, einen Seufzer über meine Dummheit ein; ich hätte, mit nur einiger Feinheit, wissen müssen, daß, um Ihres Besuchs in Turin nicht verlustig zu gehn, das Wort „Turin“ ein Paar Briefe lang verboten war. Sie unterschätzen, was mir, unter allen übrigen „Glücksgütern“, hier abgeht — und nicht — nur hier, sondern überall, — und nicht nur seit gestern, sondern seit mehr als einem Jahre: il mio maestro Pietro Gasti. Als Sie neulich eine gewisse Linie Noten mit Aurora-mäßigen Rosenfingern in einen Brief hineinschrieben, war ich ganz einfach neidisch — ich werde mich hüten, zu sagen, auf wen oder was…
Der Herbst ist zu Ende, — er hat in einer für Turiner selbst überraschenden Gleichmäßigkeit von Anfang Oktober bis weit in den November hinein seine goldene Schönheit Tag für Tag da capo gespielt. Jetzt ist es ein wenig düster, die Luft nicht zu kalt; seltsam, wie gut der Farbenton den alten palazzi steht. Für mein Befinden wage ich zu behaupten, daß es so beinahe wohlthätiger als die bewußte Reihe von „schönen Tagen“ ist, mit denen sogar ein Goethe schlecht fertig zu werden wußte. — Nun, keine Lästerung! denn ich bin gut mit ihnen fertig geworden, — zu gut selbst… Mein „Ecce homo. Wie man wird, was man ist“ sprang innerhalb des 15. Oktobers, meines allergnädigsten Geburtstags und -Herrn, und dem 4. November mit einer antiken Selbstherrlichkeit und guten Laune hervor, daß es mir zu wohlgerathen scheint, um einen Spaaß dazu machen zu dürfen. Die letzten Partien sind übrigens bereits in einer Tonweise gesetzt, die den Meistersingern abhanden gekommen sein muß, „die Weise des Weltregierenden“… Das Schlußcapitel hat die unerquickliche Überschrift: Warum ich ein Schicksal bin. Daß dies nämlich der Fall ist, wird so stark bewiesen, daß man am Schluß vor mir als „Larve“ und „fühlende Brust“ sitzen bleibt…
Besagtes Manuscript hat bereits den Krebsgang nach der Druckerei angetreten. Für die Ausstattung habe ich dies Mal dasselbe „beliebt“, wie für die „Umwerthung“: zu der es eine feuerspeiende Vorrede ist. —
Herr Carl Spitteler hat sein Entzücken über den „Fall“ im Bund ausgesprudelt: er hat erstaunlich zutreffende Worte, — er gratulirte mir auch brieflich dazu, daß ich bis an’s Ende gegangen sei: er scheint die Gesammt-Bezeichnung unsrer modernen Musik als décadence-Musik für eine kulturhistorische Feststellung ersten Rangs zu halten. Übrigens hatte er sich zuerst an den „Kunstwart“ gewendet. — Von Paris aus wird mir ein Aufsatz in der revue nouvelle in Aussicht gestellt. Auch eine St. Petersburger Beziehung hat sich daraufhin angeknüpft: Fürstin Anna Dmitrievna Ténicheff. — Dr. Brandes schreibt, daß der größte schwedische Schriftsteller, „ein wahres Genie“, August Strindberg, ganz für mich eingenommen ist. Dieser Tage trifft die Adresse der charmanten Wittwe Bizet’s bei mir ein, der eine Freude mit der Zusendung meiner Schrift zu machen ich sehr ersucht werde. —
Unsre wunderbaren Weiblein von der Turiner Aristokratie haben für Januar einen concorso di bellezza ausgedacht: sie sind ganz übermüthig geworden, als die Bilder der erstgekrönten Schönheiten in Spaa hier anlangten. Ich sah, im Frühling schon, einen derartigen concours in Porträts, bei der letzten Ausstellung: worin sie sich offenbar aller Welt überlegen fühlen, das ist der Busento, der mit vollkommner Naivetät dem Maler anvertraut wird. Unsre neue Mitbürgerin, die schöne Laetitia Bonaparte, jüngst mit dem Duca d’Aosta vermählt und hier residirend, wird jedenfalls bei der Partie sein.
Es grüßt Sie mit der Bitte, die ersten Worte meines Briefs tragisch zu nehmen, Ihr Freund
Nietzsche.