1888, Briefe 969–1231a
1135. An Malwida von Meysenbug in Rom
Turin, den 20 Okt. 1888.
Verehrte Freundin,
vergeben Sie mir, wenn ich noch einmal das Wort nehme: es könnte das letzte Mal sein. Ich habe allmählich fast alle meine menschlichen Beziehungen abgeschafft, aus Ekel darüber, daß man mich für etwas Andres nimmt als ich bin. Jetzt sind Sie an der Reihe. Ich sende Ihnen seit Jahren meine Schriften zu, damit Sie mir endlich einmal, rechtschaffen und naiv, erklären „ich perhorrescire jedes Wort“. Und Sie hätten ein Recht dazu. Denn Sie sind „Idealistin“ — und ich behandle den Idealismus als eine Instinkt gewordne Unwahrhaftigkeit, als ein Nicht-sehn-wollen der Realität um jeden Preis: jeder Satz meiner Schriften enthält die Verachtung des Idealismus. Es giebt über der bisherigen Menschheit gar kein schlimmeres Verhängniß als diese intellektuelle Unsauberkeit; man hat den Werth aller Realitäten entwerthet, damit, daß man eine „ideale Welt“ erlog… Verstehn Sie nichts von meiner Aufgabe? Was es heißen will „Umwerthung aller Werthe“? Warum Zarathustra die Tugendhaften als die verhängnißvollste Art Mensch ansieht? weshalb er der Vernichter der Moral sein muß? — haben Sie vergessen, daß er sagt „zerbrecht, zerbrecht mir die Guten und Gerechten?“ —
— Sie haben sich — Etwas, das ich nie verzeihe — aus meinem Begriff „Übermensch“ wieder einen „höheren Schwindel“ zurechtgemacht, Etwas aus der Nachbarschaft von Sybillen und Propheten: während jeder ernsthafte Leser meiner Schriften wissen muß, daß ein Typus Mensch, der mir nicht Ekel machen soll, gerade der Gegensatz-Typus zu den Ideal-Götzen von Ehedem ist, einem Typus Cesare Borgia hundert Mal ähnlicher als einem Christus. Und wenn Sie gar, in meiner Gegenwart, den ehrwürdigen Namen Michel Angelo in Einem Athem mit einer durch und durch unsauberen und falschen Creatur wie Wagner in den Mund nehmen, so erspare ich Ihnen und mir das Wort für mein Gefühl dabei. — Sie haben sich, in Ihrem ganzen Leben, fast über Jedermann getäuscht: nicht wenig Unheil, auch in meinem Leben, geht darauf zurück, daß man Ihnen Vertrauen schenkt und daß Ihr Urtheil absolut unvertrauenswürdig ist. Zuletzt vergreifen Sie sich zwischen Wagner und Nietzsche! — Und indem ich das schreibe, schäme ich mich, meinen Namen in diese Nachbarschaft gebracht zu haben. — Also Sie haben nichts von dem Ekel begriffen, mit dem ich, mit allen anständigen Naturen, vor 10 Jahren Wagnern den Rücken kehrte, als der Schwindel, mit den ersten Bayreuther Blättern, handgreiflich wurde? Ihnen ist die tiefe Erbitterung unbekannt, mit der ich, gleich allen rechtschaffnen Musikern, diese Pest der Wagnerischen Musik, diese durch sie bedingte Corruption der Musiker, immer weiter um sich greifen sehe? Sie haben nichts davon gemerkt, daß ich, seit zehn Jahren, eine Art Gewissensrath für deutsche Musiker bin, daß ich an allen möglichen Stellen wieder die artistische Rechtschaffenheit, den vornehmen Geschmack, den tiefsten Haß gegen die ekelhafte Sexualität der Wagnerischen Musik angepflanzt habe? daß der letzte klassische Musiker, mein Freund Köselitz, aus meiner Philosophie und Erziehung stammt? — Sie haben nie ein Wort von mir verstanden, nie einen Schritt von mir verstanden: es hilft nichts; darüber müssen wir unter uns Klarheit schaffen, — auch in diesem Sinn ist der „Fall Wagner“ für mich noch ein Glücksfall — —
Friedrich Nietzsche.