1888, Briefe 969–1231a
973. An Heinrich Köselitz in Venedig
Nizza, den 6. Jan. 1888
Lieber Freund,
Sie haben mir nicht gesagt, ob ein Brief zwischen Venedig und hier verloren gegangen ist: fast schließe ich daraus, daß es geschehen ist und bedaure es tief. Denn, so wunderlich es klingt, die Briefe aus Venedig sind die einzigen jetzt, die ich ohne Mißtrauen und geheime frissons empfange. In Hinsicht auf alle anderen bin ich bis zur Absurdität reizbar und muß sie wörtlich büßen, mit schlaflosen Nächten und gastrisch-hypochondrischen Tierquälereien. Schlechtes Zeichen! Aber dies soll besser werden. Um gleich von dem letzten Briefe zu reden, den ich bekam, vom Dr. G<eorg> Brandes, so brachte er die Meldung, daß die Bücher, welche ich ihm versprochen hatte, nicht eingetroffen sind: kurz, Fritzsch, dieser unverbesserliche Esel, hat nichts gethan, ja mich nicht einmal benachrichtigt, daß er nichts von dem gethan hat, was mein Brief ihm vorschlug. Und ich hatte es in seinem Interesse vorgeschlagen, nachdem er mir seine Noth ausgedrückt hat, irgendwelche Schriftsteller und Gelehrte für mich zu interessiren! Zuletzt ist Dr. B<randes> vielleicht der Einzige, der genug Übung in der Nachrechnung complicirterer Rechen-Exempel der Psychologie hat, um über mich keine grobe Ungereimtheit zu sagen. Seine Briefe sind eminent delikat und französisch, (er sagt von sich „ich bin oft dumm, aber nie im Geringsten bornirt“. Von Taine, den er sehr liebt, gebraucht er die hübsche Wendung in Bezug auf dessen Geschichte der Revolution, die er nicht ganz billigt, „T<aine> bedauert und haranguirt ein Erdbeben“)
Es macht mir Verlegenheit, hier etwas versprochen zu haben, das ich augenblicklich nicht halten kann. Wollen wir Herrn B<randes> einstweilen unsrerseits das Einzige senden, was im Bereiche unsrer Kräfte steht, nämlich jenes Ineditum, dessen Siegelbewahrer Sie sind, liebster Freund? Bitte, lassen Sie ein hübsches Exemplar des vierten Zarathustra nach Kopenhagen abgehn, unter dieser Adresse:
Dr. Georg Brandes
Kopenhagen (Danemark)
St. Anne-Platz 24.
(— er sandte eine sehr gescheute Abhandlung über Zola als Schüler und „Verwandten“ Taines; insgleichen gab es, zu meiner Überraschung, Nachricht über Dr. Rée und sogar über Fräulein Lou, mit großer Auszeichnung für Beide, die er von Berlin her kennt)
Miss Helen Zimmern hat mir von Florenz aus zum Neujahr gratulirt: wissen Sie, die gescheute Engländerin (resp. Jüdin), welche die Engländer mit Schopenh<auer> bekannt gemacht hat. Sie gehört zu den geschätztesten und „bestbezahlten“ Mitarbeitern der Times und der großen Revuen. (Den vorletzten Sommer war sie in Sils-Maria, als meine Tischnachbarin)
Zuletzt will ich nicht verschweigen, daß diese ganze letzte Zeit für mich reich war an synthetischen Einsichten und Erleuchtungen; daß mein Muth wieder gewachsen ist, „das Unglaubliche“ zu thun und die philosophische Sensibilität, welche mich unterscheidet, bis zu ihrer letzten Folgerung zu formulieren.
Vorigen Donnerstag habe ich meinen ersten Besuch in Monte Carlo gemacht, zu einem concert classique (welchem auch der Kaiser von Brasilien beiwohnte) Lauter modernste französische Musik: oder vielmehr, deutlicher zu reden, lauter schlechter Wagner. Ich halte diese pittoreske Musik ohne Ideen, ohne Form, ohne jedwede Naivetät und Wahrheit nicht mehr aus. Nervös, brutal, unausstehlich zudringlich und großthuerisch — und so geschminkt!! Das Eine war eine Art Seesturm, das Andre eine wilde Jagd, das dritte ein Erinnyen-Ballet (zur Oresteia des Aeschylus!!!)
Dies ist décadence…
Dabei gedachte ich wie eines verlorenen Glückes der Musik meines Venediger maestro; der Oktober bei Ihnen war dies Jahr mein einziges Labsal, ich kann Ihnen nicht dankbar genug sein.
Von Herzen Ihr Freund
N.