1888, Briefe 969–1231a
1023. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Turin, <20. April 1888> Freitag.
Endlich bekommt auch meine alte Mutter wieder einen Brief von ihrem Sohn, der in Turin sitzt und die Ohren in die Arbeit versteckt hat. Das ist, wie Du finden wirst, ein gutes Zeichen: denn bisher war an all den Orten, wo ich meine Frühlinge zubrachte, an Arbeit nicht zu denken. Der Geist widerwillig, das Fleisch schwach; der Magen ohne Kraft.. Hier giebt es eine herrliche trockne Luft, die ich noch nicht in einer Stadt gefunden habe. Sehr anregend, sehr Appetit machend: es gab Tage, wo ich wie im Engadin zu sein glaubte. Die Nähe des Hochgebirges ist dabei der entscheidende Faktor: auf drei Seiten von Turin hat man die Schneealpen vor sich. Hübsch in der Ferne, natürlich: aber doch so, daß man mitten in der Stadt direkt in die Hochgebirgs-Welt hineinschaut: wie als ob die Straßen darin endeten. — —
Turin ist eine prachtvolle und vornehme Stadt, mit schönen Plätzen und Palästen überhäuft. Groß außerdem: 270 000 Einwohner. Sitz mehrerer Fürsten, auch des obersten Generalstabs, sehr militärisch: sodann Universität; 12 Theater, darunter ausgezeichnete. Die Buchhandlungen für drei Sprachen (italiänisch, deutsch und französisch) gleich gut assortirt. —
Eigentlich ist es die einzige Stadt, in der ich gern lebe. Ihr Stolz sind die herrlichen hochräumigen Portici, Säulen- und Hallengänge, die alle Hauptstraßen entlang laufen, so großartig, wie man im ganzen Europa keinen Begriff hat, überdies weithin die Stadt durchziehend, in einer Gesammtausdehnung von 10 020 Meter (d. h. zwei Stunden gut zu marschiren) Damit ist man gegen jedes Wetter geschützt: und eine Sauberkeit, eine Schönheit von Stein und Marmor, daß man wie in einem Salon zu sein glaubt.
Seltsam! Dabei lebe ich billiger hier als in Nizza und Engadin; billiger auch als in Leipzig. Ich wohne, an der feierlichen piazza Carlo Alberto, gegenüber dem grandiosen palazzo Carignano und zahle für mein hübsches Zimmer (mit Bedienung) 25 frs. (=20 Mark) den Monat (Centrum der Stadt, geschätzteste Lage, schöner palazzo) Für eine sehr schmackhafte Mahlzeit zahle ich, Alles, selbst Trinkgeld eingerechnet, nach Eurem Gelde eine Mark (— und es schmeckt mir zehn Mal besser als in Leipzig, wo ich Widerwillen vor der Küche habe) Der Café in den ersten Café’s (großartig und glänzend, wie man keine Vorstellung bei Euch hat) 16 Pfennige, das Eis 24 Pfennige: aber Alles viel besser als man es in Deutschland versteht. Das Wasser ist ausgezeichnet, Gebirgswasser: das Brod insgleichen. Man ißt zu allen Sachen ganz dünne Brodröhrchen, grissini genannt, die sich knuppern <lassen> und überdies dem Magen sehr zuträglich sind. Ich vergaß die Chokolade Turin’s zu rühmen, die berühmteste Europa’s. —
Die Straßen sind nicht übermäßig belebt: man hat seine Ruhe darin. Ich bin nirgendswo mit so viel Vergnügen spazieren gegangen als in diesen vornehmen unbeschreiblich würdigen Straßen, in denen viele alte Paläste sind. Große Raumverschwendung überall: nichts Gedrücktes. Ein mächtiger Fluß giebt der Stadt an der Einen Seite ihr Ende. Höchst malerische Ufer. Überall alte große reiche Baum-Alleen, wie sie einer alten Königs-Residenz würdig sind. —
Freund Köselitz hat eine sehr glückliche Bekanntschaft und Gönnerschaft gefunden; es ist möglich, daß er zu Herbst nach Berlin zum Besuch einer vornehmen Familie kommt, die Alles thun wird, um bei Hofe und sonst seine Werke in Aufnahme zu bringen.
Daß Du für mich nähest und flickst, höre ich mit Vergnügen. Ich bin wieder recht herunter. Die Kleider erbärmlich. Unwürdig dieser schönen Stadt, wo man etwas auf sich hält!
Dein altes Geschöpf F.
Schönsten Dank für Deinen lieben Brief! Adresse nach wie vor: Torino (Italia) ferma in posta