1888, Briefe 969–1231a
1146. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Adresse: Torino (Italia), via Carlo Alberto 6III.<17. November 1888>
Meine alte Mutter,
— dies ist der merkwürdigste Zufall, den es geben kann. Mein Verstand stand einen Augenblick still. Stelle Dir vor, daß ich eben im Begriff bin, Dich um die Abschrift einer Stelle aus den gesammelten Werken Wagners zu bitten: Band 7, in dem ein Brief Wagners an mich steht. Davon wollte ich den letzten Satz haben, den ich einer bestimmten Arbeit wegen nöthig habe. Der Brief enthält diesen Satz: jene dritte Seite, die Dir solches Vergnügen gemacht hat. Vollkommen mährchenhaft! —
Es macht mir große Freude, von der wesentlichen Existenz-Verbesserung meines Onkel Oskar zu hören; noch mehr, daß es mir erlaubt ist, ihm ein wenn auch bescheidenes Zeichen meiner Anhänglichkeit zu geben. Ich bitte ihn sehr darum, sich den Frak „anzuhängen“, — ich habe nie daran gedacht, daß ihm noch eine so würdige Zukunft beschieden sein würde. —
(Daß ich meine Kleider verkaufe wie ein alter Jude, darfst Du mir nicht zumuthen, meine gute Mutter. —)
Zu meinem Bedauern fehlt das Couvert des curiosen Briefs: ich habe nicht die entfernteste Ahnung, woher er kommt. Hättest Du den Poststempel mir lieber mitgetheilt, statt der Wanderung von Ort zu Ort, so wäre ich schon auf der Spur. Es muß ein genauer Bekannter sein, darauf weist der Scherz in der Adresse „Röcken bei Lützen“ hin. Kommt er nicht aus Wien? —
Der Ofen ist also, wie ich Deinem Briefe entnehme, von Herrn Kürbitz bezahlt? Es war alles zusammen 68 Mark. Schreibe mir doch im nächsten Brief ausdrücklich, daß die Sache abgemacht ist. Die Sendung an mich konnte erst nach Zahlung abgehn. — Bis jetzt sind die zwei großen Säcke Heizmaterial angekommen, nebst 4 Kästchen Anzünder. An der Kälte habe ich noch mäßig gelitten, ein paar regnerische Tage abgerechnet: da ist man immer empfindlicher. Jetzt ist es wieder schön mild, sogar die Nacht. Das Kälteste war ein einziger Oktobertag, wo wir zwar nicht den Gefrierpunkt, aber beinahe erreichten. Gleich darauf wieder wonnevolle Herbsttage. — Deine Muß-Geschichte im großen Stile hat mir Vergnügen gemacht, ich stimme Dir bei, daß es etwas Gutes ist, — es hält den Kopf und vielleicht auch den Leib frei. Wir sind immer noch im Überfluß der schönsten Trauben: das Pfund allererste Qualität 24 Pfennige nach Eurem Geld. Die Ernährung ist über alle Maßen gut und zuträglich. Man lebt nicht umsonst im Lande der allerberühmtesten Viehzucht und zwar in dessen königl. Residenz. Die Zartheit des Kalbfleisches ist einfach für mich etwas Neues, insgleichen das von mir hochgeschätzte delikate Lammfleisch. Und welche Zubereitung! welche solide, saubere, sogar raffinirte Küche! Ich habe bis jetzt nicht gewußt, was guter Appetit ist: aufrichtig, ich esse 4 mal so viel wie in Nizza, zahle weniger und habe noch nie eine Magenbeschwerde gehabt. Zugegeben, daß man mich, hierin und in andern Dingen, auszeichnet; ich bekomme entschieden die besten Bissen. Aber das ist überall der Fall, wo ich hier verkehre: man nimmt mich für etwas sehr Distinguirtes, Du würdest Dich selber erstaunen, wie stolz und voll Haltung Dein altes Geschöpf hier einherwandelt. Gegen Nizza hat sich Alles gerade umgedreht. — Ein leichter Paletot, mit blauer Seide gefüttert, genügt einstweilen über meinem Gesellschafts-Anzug vollkommen. Der dicke, immer noch ganz ordentliche Überzieher von Hillebrand kommt erst diesen Winter zu Ehren. Zwei Paar Schuhe mit Schnüren. Ungeheure englische Winter-Handschuh. Eine goldne Brille (nicht unterwegs). Jetzt kannst Du Dir das alte Geschöpf vorstellen.
In Liebe
F.
Suche die Stelle und schreibe, von welchem Tag der Brief ist (— er erschien in der Norddeutschen Zeitung)
— Ich vergaß die Chamäleons unter meinem Prunke: sie sind hier ganz fremd, — um so besser!