1888, Briefe 969–1231a
1049. An Heinrich Köselitz in Venedig
Sils-Maria d. 20. Juni 1888.
Lieber Freund,
Ihr „Liebesduett“ kam wie ein Blitz hinein in meine Trübsal. Ich war mit einem Schlage genesen, ich bekenne, selbst geweint zu haben vor Vergnügen. Welche Erinnerungen giebt mir diese himmlische Musik! Und doch schien ich sie jetzt erst, wo ich sie sechs Mal hintereinander gelesen habe, völlig zu verstehen — sie scheint mir auch im höchsten Grade „singebar“. Es ist ein hohes schwärmerisches Gefühl darin, das Stendhal entzückt haben würde: ich las gerade gestern noch in seinem reichsten Buche Rome, Naples et Florence und dachte fortwährend dabei an Sie!* — Er erzählt unter Anderm, wie er Rossini fragt „was lieben Sie mehr, die Italiana in Algeri oder den Tancred?“ Er antwortet: „il matrimonio segreto“…
Lieber Freund, das bringt mich darauf, Ihnen zu gratuliren, daß Sie bei dem Titel „der Löwe von Venedig“ verblieben sind. Es ist doch ein sehr anregender und zur Phantasie redender Titel. Es wäre schade, wenn der kleine Wink „Venedig“ fehlte… Insgleichen gefällt mir die Bezeichnung „italienische komische Oper“: sie wirkt vielfachen Verwechslungen und Mißverständnissen entgegen. Endlich: Sie haben Recht, bei Ihrem „Peter Gast“ zu bleiben: ich begriff es, als ich’s las. — Es ist derb, naiv und, mit Erlaubniß gesagt, deutsch… Sie wissen, daß ich, seit letztem Herbst, Ihre Opern-Musik sehr deutsch finde — altdeutsch, gutes sechszehntes Jahrhundert?
Nochmals meinen schönsten Dank — es war wirklich eine Kur, das plötzliche Erscheinen dieses herrlichen Duetts.
Inzwischen nämlich war ich sehr behängt und verdeckt, wie der Himmel, und zu allem Guten untüchtig. Die absurde Unordnung des Climas war mit dabei betheiligt. Nachdem wir eine Woche das heißeste Wetter gehabt haben, das überhaupt im Engadin möglich ist (24 Grad), stecken wir seit 6 Tagen wieder im Winter. Erst schneite es einen halben Tag, später 2 ganze Tage: und seitdem zieht es immer mit schweren Wolken über uns herum.
In der Bibliothek des Hôtels fand ich ein Leben Wagners von Nohl: das in einem kostbaren Stil abgefaßt ist. Ich selbst komme darin vor, als „der geistvolle Freund und Patron“ wörtlich! — Der König von Baiern, der ein bekannter Päderast war, sagt zu Wagner: „Also Sie mögen die Weiber auch nicht? sie sind so langweilig!“ — Diese „Meinung“ findet Nohl „jugendlich umfangen“…
Overbeck schrieb gestern von seinen schlechten Gesundheitsverhältnissen und daß er nächste Woche ins neue Haus zieht. Er freut sich außerordentlich, von Ihrer Reise nach Deutschland und dem Quartett zu hören.
Der Tod des Kaisers hat mich bewegt: zuletzt war er ein kleines Schimmerlicht von freiem Gedanken, die letzte Hoffnung für Deutschland. Jetzt beginnt das Regiment Stöcker: — ich ziehe die Consequenz und weiß bereits, daß nunmehr mein „Wille zur Macht“ zuerst in Deutschland confiscirt werden wird…
Es grüßt Sie auf das Wärmste und Dankbarste
Ihr Freund
Nietzsche
— Ist meine Karte, Spitteler betreffend, bei Ihnen angelangt?