1888, Briefe 969–1231a
1022. An Heinrich Köselitz in Venedig
Torino, Freitag. <20. April 1888> Briefe wie bisher ferma in posta
Lieber Freund,
wie merkwürdig ist das Alles! Daß nun doch noch der Stern über Berlin aufgehn soll! Daß es wieder einen kleinen Flügelschlag der Hoffnung giebt! — Eigentlich gehört die Diversion Ihrer letzten Zeit, von der Sie melden, zu den unwahrscheinlichsten und unvorhergesehensten Dingen, die auf dieser Erde möglich sind. Man glaubt wieder an’s Wunder: ein großer Fortschritt in der Kunst zu leben!… Daß da etwas Heiteres und Buntes Ihnen über den Weg geflogen ist, das macht mich ganz glücklich, lieber Freund: denn genau das hätte Ihnen geschafft werden sollen — aber was sind wir Andern alle für düstere Esel und Nachteulen!… Da war einmal die Krause’sche Philosophie am Platz — und nicht die Nietzschesche! …
Was letztere angeht, so muß es wirklich so Etwas geben, so fern man einer dänischen Zeitung trauen darf, die neuerdings bei mir anlangte. Sie meldet, daß an der Universität in Kopenhagen ein Cyklus öffentlicher Vorlesungen „om den tüzke Filosof Friedrich Nietzsche“ abgehalten wird. Von wem? Sie errathen es!… Was man diesen Herrn Juden noch Alles verdanken wird! — Denken Sie einmal an meine Leipziger Freunde an der Universität: und wieviel Meilen weit sie von dem Gedanken entfernt sind, über mich zu lesen! —
Turin, lieber Freund, ist eine capitale Entdeckung. Ich sage Einiges darüber, mit dem Hintergedanken, daß unter Umständen auch Sie davon Nutzen ziehn könnten. Ich bin guter Laune, in Arbeit von früh bis Abend — ein kleines Pamphlet über Musik beschäftigt meine Finger — verdaue wie ein Halbgott, schlafe, trotz dem daß die Carossen Nachts vorüber rasseln: alles Zeichen einer eminenten Adaptation von Nietzsche an Torino. Das thut die Luft: — trocken, anregend, lustig; es gab Tage mit dem allerschönsten Engadin-Charakter der Luft. Wenn ich an meine Frühlinge anderswo denke, z. B. in Ihrer unvergleichlichen Zauber-Muschel: wie groß ist der Gegensatz: der erste Ort, in dem ich möglich bin!… Und dabei Alles entgegenkommend, die Menschen sympathisch und guten Muths. Man lebt billig: 25 fs. mit Bedienung ein Zimmer im historischen Centrum der Stadt, vis-à-vis dem grandiosen palazzo Carignano von 1780: fünf Schritt von den großen portici und dem piazzo Castello, von der Post, vom teatro Carignano! — In letzterem, seitdem ich hier angekommen bin, Carmen: natürlich!!! successo piramidale, tutto Torino carmenizzato! Der gleiche Capellmeister wie in Nizza. Außerdem Lala Roekh von Fél<icien> David, dem Lehrer Bizets. Ein junger Componist führt eine Operette auf, zu der er selbst den Text gedichtet hat, Herr Miller junior. Im Adreßbuch sind 21 Componisten verzeichnet, 12 Theater, eine accademia philarmonica, ein Lyceum für Musik und eine Unzahl von Lehrern aller Instrumente. Moral: beinahe ein Musik-Ort! — Die weiträumigen hohen portici sind ein Stolz: ihre Ausdehnung beträgt 20 020 Meter d. h. zwei gute Stunden zum Marschiren. Dreisprachige große Buchhandlungen. Dergleichen habe ich noch nirgends getroffen. Die Firma Löscher sehr aufmerksam für mich. Ihr jetziger Chef Hr. Clausen unterrichtet mich in vielen Dingen (— ich erwäge im Stillen die Möglichkeit eines Winters hierselbst) Eine treffliche Trattoria, wo man den deutschen Professor aufs Artigste behandelt: ich zahle für jede Mahlzeit incl. Trinkgeld 1 fs. 25 ct. (minestra oder risotto, ein gutes Stück Braten, Gemüse und Brod — alles schmackhaft!) Das Wasser herrlich; der Café in den ersten Cafés 20 ct. das Kännchen; das Eis, höchste Cultur, 30 ct. Dies Alles giebt Ihnen einen Begriff. —
Heute ist der Himmel bedeckt und regnerisch. Aber es scheint mir nicht, daß ich verdrießlich bin. Vom Sommer sagt man mir, daß bloß 4 Stunden des Tags wirklich heiß sind. Die Morgen und die Abende erfrischt. Man sieht mitten aus der Stadt heraus in die Schneewelt hinein: es scheint, daß man nichts zwischen sich hat, daß die Straßen direkt in die Alpen hineinlaufen. Der Herbst soll die schönste Zeit sein. Zuletzt muß ein Energie-gebendes Element hier in der Luft sein: wenn man hier heimisch ist, wird man König von Italien…
Soviel, mein lieber alter Freund! Es grüßt Sie auf das Herzlichste
Ihr N.
Ich moralisire so: Sie brauchen einen Ort, wo Sie das ganze Jahr leben können, aber unter anderen meteorologischen Einflüssen als in Venedig, vielleicht auch der Musik benachbarter, der Aufführbarkeit… Und Italien sollten wir festhalten!!!!!!
Erzählen Sie mir noch ein wenig von Ihrem Quartett. Wohin es führt.