1888, Briefe 969–1231a
1085. An Hans von Bülow in Hamburg
Sils-Maria, Engadin d. 10. August 1888
Verehrter Herr,
inzwischen nahm ich mir die Freiheit, einem Freunde zur Übersendung der Anfangs-Nummer einer Oper Muth zu machen. Vielleicht, dachte ich mir, wirkt sie „appetitmachend“. Die Oper heißt „der Löwe von Venedig“: ich sähe diesen Löwen mit größtem Vergnügen in der Menagerie Pollini…
Diese Oper ist ein Vogel der seltensten Art. Man macht jetzt so Etwas nicht mehr. Alle Eigenschaften im Vordergrunde, die heute, skandalös, aber thatsächlich, der Musik abhanden kommen. Schönheit, Süden, Heiterkeit, die vollkommen gute, selbst muthwillige Laune des allerbesten Geschmacks — die Fähigkeit, aus dem Ganzen zu gestalten, fertig zu werden und nicht zu fragmentarisiren (vorsichtiger Euphemismus für „wagnerisiren“)
Mein Freund, Herr Peter Gast, ist eine der tiefsten und reichsten Naturen, die der Zufall in diesen verarmende Zeit hineingeworfen hat. Mein „Schüler“, ich bekenne es, im engsten Sinne, aus meiner Philosophie gewachsen, wie Niemand sonst. 32 Jahr, bis jetzt in vollkommener Unabhängigkeit, gebürtig aus dem sächsischen Erzgebirge (einer erstaunlich tüchtigen Familie zugehörig, die seit Jahrhunderten die Cultur der ersten Stadt des Erzgebirgs in der Hand gehabt hat) Strengste musikalische Erziehung, bevorzugter Schüler des alten Richter in Leipzig, eine Periode überwundener Wagnerei hinterdrein. Seitdem Isolation in Venedig, in wunderbarer Einfalt der Verhältnisse, ohne „Öffentlichkeit“, ohne „Cant“, „Würden“ und andre Eitelkeiten. — Seine Mutter Wienerin.
Der Text der Oper ist einfach das matrimonio segreto, von meinem Freunde übersetzt. Dasselbe galt im vorigen Jahrhundert als Muster-libretto; der erste Entwurf ist von Garrik. Einer Andeutung Stendhals folgend haben wir das Werk ins Venetianische übersetzt, das heißt, es nicht nur dort spielen lassen, vielmehr versucht, Venedig in dies Werk zu übersetzen… Mein Freund, der seit 6 Jahren daselbst in einer geheimnißvollen und glücklichen Verborgenheit daselbst lebt, hat, wie mir wenigstens scheint, einen Zauber von Venediger Farbe der morbidezza für die Musik erfunden, hinzuzurechnen viele reizend-derbe Realitäten des südlichen Lazzaronismus. Wirkungsvollster vierter Akt mit einem Gondoliere-chor am Schluß, couleur locale ersten Ranges. — Es existirt ein ausgezeichnet lesbar und schön geschriebener Clavier-Auszug, das kalligraphische Meisterstück meines Freundes, gleich der Partitur selbst. — Die Ouvertüre ist in Zürich zum ersten Male (in der Tonhalle) aufgeführt worden. Kein Mensch schreibt eine solche Ouvertüre mehr — aus ganzem Holze…
Jetzt, wo Wagner von St. Petersburg bis Montevideo die Theater beherrscht, gehört ein Bülow’scher Muth dazu, gute Musik zu riskiren…
Mit dem Ausdruck alter Verehrung
Prof. Dr. Nietzsche