1888, Briefe 969–1231a
974. An Georg Brandes in Kopenhagen
Nizza den 8. Januar 1888
Verehrter Herr,
Sie sollten sich gegen den Ausdruck „Culturmissionär“ nicht wehren. Womit kann man dies heute mehr sein, als wenn man seinen Unglauben an Cultur „missionirt“? Begriffen zu haben, daß unsre europäische Cultur ein ungeheures Problem und durchaus keine Lösung ist — ist dieser Grad von Selbstbesinnung, Selbstüberwindung nicht eben heute die Cultur selbst? —
— Es befremdet mich, daß meine Bücher noch nicht in Ihren Händen sind. Ich will es an einer Erinnerung in Leipzig nicht fehlen lassen. Um die Weihnachtszeit herum pflegt diesen Herrn Verlegern der Kopf zu rauchen. Inzwischen möge es mir gestattet sein, Ihnen ein verwegenes curiosum mitzutheilen, über das kein Verleger zu verfügen hat, ein ineditum von mir, das zum Persönlichsten gehört, was ich vermag. Es ist der vierte Theil meines Zarathustra; sein eigentlicher Titel in Hinsicht auf das, was vorangeht und was folgt, sollte sein:
Die Versuchung Zarathustra’s.
Ein Zwischenspiel.
Vielleicht beantworte ich so am besten Ihre Frage in Betreff meines Mitleids-Problems. Außerdem hat es überhaupt einen guten Sinn, gerade durch diesen Geheim-Thür den Zugang zu „mir“ zu nehmen: vorausgesetzt, daß man mit Ihren Augen und Ohren durch die Thür tritt. Ihre Abhandlung über Zola erinnerte mich wieder wie Alles, was ich von Ihnen kennen lernte (zuletzt ein Aufsatz im Goethe-Jahrbuch) auf das Angenehmste an Ihre Naturbestimmung, nämlich für alle Art psychologischer Optik. Wenn Sie die schwierigeren Rechenexempel der âme moderne nachrechnen, sind Sie damit ebenso sehr in Ihrem Elemente als ein deutscher Gelehrter damit aus seinem Elemente herauszutreten pflegt. Oder denken Sie vielleicht günstiger über die jetzigen Deutschen? Mir scheint es, daß sie Jahr für Jahr in rebus psychologicis plumper und viereckiger werden (recht im Gegensatz zu den Parisern, wo Alles nuance und Mosaik wird), daß ihnen alle tieferen Ereignisse entschlüpfen. Zum Beispiel mein „Jenseits von Gut und Böse“ — welche Verlegenheit hat es ihnen gemacht! Nicht ein intelligentes Wort habe ich darüber zu hören bekommen, geschweige ein intelligentes Gefühl. Daß es sich hier um die lange Logik einer ganz bestimmten philosophischen Sensibilität handelt und nicht um ein Durcheinander von hundert beliebigen Paradoxien und Heterodoxien, ich glaube, davon ist auch meinen wohlwollendsten Lesern nichts aufgegangen. Man hat nichts dergleichen „erlebt“; man kommt mir nicht mit dem Tausendstel von Leidenschaft und Leiden entgegen. Ein „Immoralist“? Man denkt sich gar nichts dabei. —
Anbei gesagt: die Formel „document humain“ nehmen die Goncourt für sich in Anspruch, in irgend einer ihrer Vorreden. Aber auch so dürfte immer noch Ms. Taine der eigentliche Urheber sein.
Sie haben recht mit dem „Haranguiren des Erdbebens“: aber eine solche Don-Quixoterie gehört zum Ehrwürdigsten, was es auf der Erde giebt.
Mit dem Ausdruck besonderer Hochschätzung
Ihr
Nietzsche