1888, Briefe 969–1231a
1175. An Emily Fynn in Genf
Torino, Via Carlo Alberto. 6. XII. 1888.
Verehrteste Frau,
wo werden Sie mich suchen? Gewiß nicht so nah, in meiner Residenz Turin, die ich ein für alle Mal, auch für die Winter, gewählt habe. Ich kann nicht ausdrücken, wie sehr mir hier Alles wohl thut — ich habe keinen Ort gesehen, der meinen innersten Instinkten so entgegen käme. Großstadt, und dabei still, vornehm, mit einem ausgezeichneten Schlag von Menschen in jeder Classe der Gesellschaft. Wir haben den düsteren Pomp eines großen Begräbnißes gehabt: es galt einem der verehrtesten Piemontesen, dem Conte di Robilant. Und wenn mir Turin gefällt, ich weiß nicht wie es zugeht; man behandelt mich hier mit einer ausgesuchten Délicatesse.
Unter diesen Umständen hat sich mein Befinden geradezu wunderbar verbessert; ich gehe hier mit einem heiteren Stolze durch das Leben, daß Sie weder die Höhle, noch den Höhlenbär erkennen würden —
Ich freue mich unter andern Glücksgütern auch eines klassischen Schneiders. Ach wenn man mich nur nicht „verdirbt“! Was für Briefe kommen jetzt aus aller Welt zu mir! Vorgestern ein Brief aus St. Petersburg, von einer charmanten und sehr gescheuten Russin. Mad. la princesse Anna Dmitriewna Tenischeff. Man sagt mir, daß die Feinschmecker der russischen Gesellschaft meine Bücher mögen, zum Beispiel Fürst Urussow. Leider sind einige verboten…
Heute kam ein Brief von einem Schweden A. Strindberg, einem wirklichen Genie, dessen Tragödie „Père“, selbst die Nerven Zola’s erschüttert haben soll. Der schwört ganz einfach auf mich und endet alle Briefe an alle Welt: „Lisez Nietzsche! c’est mon Carthago est delenda!“
Ich denke, Sie haben dasselbe sublime Wetter, das wir seit September hier haben? Es scheint mir, daß ich in einem unendliehen Claude Lorr<a>in von Farben lebe. Auch habe ich in meinem ganzen Leben zusammengenommen nicht so viel geschaffen als hier in den letzten 20 Tagen — wer weiß! lauter Dinge ersten Ranges… Und ohne einen Schatten von Ermüdung, vielmehr bei vollkommener Heiterkeit und guter Küche.
Auch sind wir hier musikalisch sehr raffinirt. Im letzten Concert lauter feine Sachen, zum Beispiel: Patrie! von Bizet, dann Sakuntala, Ouvertüre von Goldmark. „Cyprisches Lied“ für Orchester von R. de Vilbac und etwas vom Allerschönsten und Rührendsten, das ich überhaupt gehört, so daß ich zehn Minuten ohne jeden Erfolg gegen die Thränen kämpfte — von wem? von einem Turiner Musiker, der 1872 starb. Rossaro…
Sollten die allerbesten Dinge unbekannt bleiben? die allerbesten Menschen eingerechnet! Gehört es zum Wesen des Vollkommenen nicht „berühmt“ zu werden? — Ruhm — ich fürchte man muß ein wenig canaille sein, um berühmt zu werden.
Sie würden mich, verehrteste Frau sehr verbinden, wenn Sie mir die genaue Adresse von Miß Helen Zimmern geben wollten.
Mich Ihnen Allen auf das Herzlichste empfehlend und Ihrer ausgezeichneten Freundin, der ich meine besten Wünsche zu Füßen lege, einen Winter wünschend wie wir ihn haben.
In freundschaftlicher Verehrung
Nietzsche, Unthier…