1888, Briefe 969–1231a
1143. An Franz Overbeck in Basel
Torino, via Carlo Alberto 6, III am 13. Nov. 1888.
Lieber Freund,
der Ausnahmefall des 16. November mag es entschuldigen, wenn ich meinem letzten Briefe heute schon einen Brief nachschicke. Vielleicht seid Ihr schon im Winter: wir sind es beinahe, — die nächsten Berge haben schon eine leichte Perrücke. Hoffentlich wird der Winter entsprechend wie der Herbst gewesen ist: wenigstens hier war er ein wahres Wunder von Schönheit und Lichtfülle, — ein Claude Lorrain in Permanenz. Ich habe über den ganzen Begriff „schönes Wetter“ umgelernt und denke mit Erbarmen an meine stupide Anhänglichkeit an Nizza. — Meine Bücher, die ich dort gelassen habe, sind bereits unterwegs nach Turin. Bei diesem Anlaß erfuhr ich, daß in der pension de Genève meine lustige Tischnachbarin von Ehedem, Frau von Brandeis, eingetroffen ist. — Auch der Carbon-Natron-Ofen ist unterwegs, zu sehr honnetten Preisen, wie ich es dem Dresdener Nieske zu Ehren sagen muß. Ein paar süperbe englische Winter-Handschuhe habe ich mir heute gekauft. — Beim besten Willen, alter Freund Overbeck, gelingt es mir nicht, Dir etwas Schlimmes von mir zu erzählen. Es geht fort und fort in einem tempo fortissimo der Arbeit und der guten Laune. Auch behandelt man mich hier comme il faut, als irgend etwas extrem Distinguirtes, es giebt eine Art, mir die Thüre aufzumachen, die ich noch nirgends wo erlebt habe. Zugegeben, daß ich nur sehr gute Orte besuche, auch mich eines klassischen Schneiders erfreue. — Wir hatten dieser Tage den düstern Pomp eines großen Begräbnisses, an dem ganz Italien betheiligt war: der Conte Robilant, der verehrteste Typus des Piemonteser Adels, übrigens leiblicher Sohn des König Carlo Alberto, wie man hier weiß. An ihm hat Italien einen Premier verloren, der nicht zu ersetzen ist. — Etwas Heiteres dicht nebenbei: Die Schönheiten der Turiner Aristokratie sind ganz übermüthig geworden, als die Bilder der erstgekrönten Schönheiten in Spaa hier anlangten. Sie haben sofort für den Januar auch einen concorso di bellezza in’s Auge gefaßt — ich glaube, sie haben alles Recht dazu! Ich sah, bei der Frühlings-Ausstellung, bereits einen solchen concours in Portraits vor mir. Auch unsre neue Turinerin, die princesse Laetitia Buonaparte, neuvermählt mit dem duc d’Aosta wird mit Vergnügen bei der Partie sein. — Ich habe inzwischen für meinen „Fall Wagner“ wahre Huldigungsschreiben bekommen. Man nennt die Schrift nicht nur ein psychologisches Meisterstück ersten Ranges, auf einem Gebiete, wo Niemand überhaupt bisher Augen gehabt hat — in der Psychologie der Musiker; man nennt die Aufklärung über den décadence-Charakter unserer Musik überhaupt ein culturhistorisches Ereigniß, Etwas, das Niemand außer mir gekonnt hätte: die Worte über Brahms seien das Äußerste von psycholog. Sagacität. — Hr. Spitteler hat in der Donnerstag-Nummer des „Bund“ sein Entzücken ausgedrückt, Herr Köselitz im „Kunstwart“; aus Paris meldet man mir einen Artikel in der Nouvelle Revue als bevorstehend. — Auch sonst gute Nachrichten. Der größte schwedische Schriftsteller, „ein wahres Genie“, wie Dr. Brandes schreibt, August Strindberg, hat sich inzwischen ganz für mich erklärt; auch die Petersburger Gesellschaft sucht Beziehungen zu mir herzustellen, sehr erschwert durch das Verbot meiner Schriften (Fürst Urussow, Fürstin Anna Dimitrievna Ténicheff) Endlich die charmante Wittwe Bizet’s!…
Der Druck der „Götzen-Dämmerung. Oder: wie man mit dem Hammer philosophirt“ ist beendet; das Manuscript des „Ecce homo. Wie man wird, was man ist“ ist bereits in der Druckerei. — Letzteres, von absoluter Wichtigkeit, giebt einiges Psychologische und selbst Biographische über mich und meine Litteratur: man wird mich mit Einem Male zu sehn bekommen. Der Ton der Schrift heiter und verhängnißvoll, wie Alles, was ich schreibe. — Ende nächsten Jahres erscheint dann das erste Buch der Umwerthung. Es liegt fertig da. —
Mit dem allerherzlichsten Glückwunsch für Dein Wohl an Leib und Seele Dein
Nietzsche