1888, Briefe 969–1231a
1122. An Heinrich Köselitz in Buchwald
Turin, den 27. Sept 88
Lieber Freund,
heute traf Ihre am 24ten von Wurchow abgegangene Correktur des Bogen 2 hier ein, zugleich mit Naumann’s Sendung vom 25ten (der 4te Druckbogen) Im Grunde dürfte die Verbindung Berlin—Turin erheblich schneller sein, als Wurchow—Turin. Die Sache geht auch nicht mehr lange; es werden wahrscheinlich 6 Bogen sein oder ein Weniges mehr. Eine letzte Revision thut nicht noth; das Manuscript war viel besser vorbereitet als das Wagner-Pamphlet.
Was den Titel angeht, so kam Ihrem sehr humanen Einwände mein eignes Bedenken zuvor: schließlich fand ich aus den Worten der Vorrede die Formel, die vielleicht auch Ihrem Bedürfnisse genugthut. Was Sie mir von der „großen Artillerie“ schreiben, muß ich, mitten im Fertig-machen des ersten Buchs der „Umwerthung“, einfach annehmen. Es läuft wirklich auf horrible Detonationen hinaus: ich glaube nicht, daß man aus der ganzen Litteratur ein Seitenstück zu diesem ersten Buche in puncto Orchesterklang (eingerechnet Kanonendonner) findet. — Der neue Titel (der an 3 bis 4 Stellen ganz bescheidne Veränderungen nach sich zieht) soll sein:
Götzen-Dämmerung.
Oder:
wie man mit dem Hammer philosophirt.
Von
F. N.
Der Sinn der Worte, zuletzt auch an sich errathbar, ist, wie gesagt, das Thema der kurzen Vorrede. — Der erste Brief über den „Fall“ war von Gersdorff. Er schreibt auch vom Löwen-Duett (ex ungue leonem —) „Das ist Musik, wie ich sie liebe. Wo sind die Ohren, sie zu hören, wo die Musikanten, sie zu spielen?“ — Ein Curiosum, das Gersdorff mittheilt und das mich sehr erbaut: G<ersdorff> ist Zeuge eines rasenden Wuthausbruchs Wagners gegen Bizet gewesen, als Minnie Hauck in Neapel war und Carmen sang. Auf dieser Grundlage, daß W<agner> auch hier Partei genommen hat, wird meine Bosheit an einer gewissen Hauptstelle viel schärfer empfunden werden. Übrigens warnt mich Gersdorff ganz ernsthaft vor den Wagnerianerinnen. — Auch in diesem Sinne wird der neue Titel Götzen-Dämmerung gehört werden, — also noch eine Bosheit gegen Wagner…
Alter Freund, Sie sind noch gar nicht auf meiner Höhe mit Ihrer Auseinandersetzung über Dativ und Nominativ beim Gottesbegriff. Der Nominativ ist ja der Witz der Stelle, ihr zureichender Grund zum Dasein…
Meine Reise hatte Schwierigkeiten und Geduldsproben schlimmer Art: ich kam Mitternachts erst nach Mailand. Das Bedenklichste war eine lange Passage Nachts in Como durch überschwemmtes Terrain auf einem ganz schmalen Holzbrett-Brückchen — bei Fackelbeleuchtung! Ganz wie gemacht für mich Blindekuh! — Durch die schlaffe und widrige Luft der Lombardei erschöpft kam ich in Turin an: aber seltsam! wie im Ruck war Alles in Ordnung. Wunderbare Klarheit, Herbstfarben, ein exquisites Wohlgefühl auf allen Dingen. In zwei Hauptsachen, nämlich Wohnung und trattoria, ist mein zweitmaliges Erscheinen in der allerwillkommensten Weise empfunden worden. Ordnung, Reinlichkeit, Aufmerksamkeit in ersterer um 50 Procent gewachsen; die Güte in Qualität und Quantität in der tratt<oria> um 100, ohne daß hier oder dort die sehr mäßigen Preise verändert wären. Auch habe ich hier meinen ersten Schneider, der mir recht arbeitet. — Fünf Schritt von mir ist die größte piazza, mit dem alten mittelalterlichen Castell: auf ihm ist ein reizendes kleines Theater, vor dem man Nachts (von 8 1/4) im Freien sitzt, sein gelato ißt und jetzt gerade allerliebst die französische Operette Mascotte von Audran hören kann (— mir sehr gut bekannt von Nizza) Diese in keinem Punkte gemein werdende Musik, mit soviel hübschen, geistreichen kleinen Melodien, gehört ganz in die idyllische Art Sein, die ich jetzt Abends nöthig habe. (Das Gegenstück dazu: der Zigeunerbaron von Strauß: ich lief mit Ekel und bald davon — die zwei Arten der deutschen Gemeinheit, die animalische und die sentimentale, nebst ganz schauderbaren Versuchen, hier und da den gebildeten Musiker zu zeigen: Himmel! Was sind im Geschmack uns die Franzosen über!) — Das Wetter läßt zu wünschen. Aber ich vertrage hier das schlechte Wetter besser und habe noch keinen Tag zur Arbeit verloren. Es grüßt Sie, lieber Freund, mit den allerherzlichsten Wünschen für Berlin und was daran hängt, Ihr N.
— Zuletzt habe ich mich nicht einmal für Ihren guten Brief bedankt, aus dem mir die “Worte „voll der merkwürdigsten, sonderbarsten, unbegreiflichsten Eindrücke“ im Gedächtniß geblieben sind.