1888, Briefe 969–1231a
1196. An Jean Bourdeau in Paris (Entwurf)
<Turin, etwa 17. Dezember 1888>
Verehrter Herr
Ein unschätzbares Billet von Ms. Taine, das ich beilege, giebt mir den Muth, Ihren Rath in einer mir sehr ernsten Sache auszubitten. Ich wünsche, in Frankreich gelesen zu werden; mehr noch, ich habe es nöthig. So wie ich bin, der unabhängigste und, vielleicht der stärkste Geist, der heute lebt, verurtheilt zu einer großen Aufgabe, kann ich mich unmöglich durch die absurden Grenzen, welche eine fluchwürdige und von den Lügenhaften vertretene, dynastische Interessen-Politik zwischen die Völker gezogen hat, abhalten lassen nach den Wenigen zu suchen, die überhaupt für mich Ohren haben. Und ich bekenne es gern: ich suche sie vor Allem in Frankreich. Es ist mir nichts fremd, was sich in der geistigen Welt Frankreichs begiebt: man sagt mir, ich schreibe im Grunde französisch, obschon ich vielleicht mit der deutschen Sprache besonders in meinem Zarathustra, etwas in Deutschland selbst Unerreichtes erreicht habe. Ich wage zu sagen, daß meine Vorfahren, vierte Generation, polnische Edelleute waren; daß meine Urgroßmutter und Großmutter väterlicher Seits in die Goethische Zeit Weimars gehören: Gründe genug, um in einem kaum denkbaren Grade heute der einsamste Deutsche zu sein. Es hat mich nie ein Wort erreicht — und, aufrichtig, ich habe nie desh<alb> geklagt… Jetzt habe ich Leser überall, in Wien, in St. Petersburg, in Stockholm, in Kopenhagen — lauter ausgesuchte Intelligenzen, die mir Ehre machen — sie fehlen mir in Deutschland… Daß selbst in D<eutschland> ein Gefühl dafür ist, wie wenig ich dahin gehöre, dafür ist ein sehr ernster Aufsatz Zeugniß, im Kunstwart erschienen, den beizulegen ich mir erlaube. Der Verfasser ist ein Musiker ersten Ranges, der Einzige, wenn ich ein Urtheil über diesen Dinge habe — folglich unbekannt… — Zum Glück habe ich, mit 24 Jahren als Universitätsprofessor nach Basel berufen, es nicht nöthig gehabt, fortwährend Krieg zu führen und mich in bloßen Streitereien zu verschwenden. In Basel fand ich den verehrungswürdigen Jakob Burckhardt, der mir von Anfang an tief geneigt war, — ich hatte in Richard Wagner und Frau, die damals in Tribschen bei Luzern lebten, eine Intimität, wie ich sie mir werthvoller nicht denken konnte. Im Grunde bin ich vielleicht ein alter Musikant. — Später hat mich Krankheit aus diesen letzten Beziehungen herausgelöst und mich in einen Zustand tiefster Selbstbesinnung gebracht, wie er vielleicht kaum je erreicht worden ist. Und da in meiner Natur selbst nichts Krankhaftes und Willkürliches ist, so habe ich diesen Einsamkeit kaum als Druck, sondern als eine unschätzbare Auszeichnung gleichsam als Reinlichkeit empfunden. Auch hat sich noch Niemand bei mir über düstere Miene beklagt, ich selbst nicht einmal: ich habe vielleicht schlimmere und fragwürdigere Welten des Gedankens kennen gelernt als irgend Jemand, aber nur weil es in meiner Natur liegt, das Abenteuer zu lieben. Ich rechne die Heiterkeit zu den Beweisen meiner Philosophie… Vielleicht beweise ich diesen Satz durch die zwei Bücher, die ich Ihnen hiermit vorlege
Erwägen Sie, verehrter Herr, ob die Götzen-Dämmerung, ein sehr radikal gedachtes und in der Form gewagtes Buch, nicht übersetzt werden sollte. Ich bekenne ein Vergnügen ersten Rangs, mich selbst wie einen Band Pauls Bourget (— das ist ein tiefer und gleichwohl nicht pessimistischer Geist —)
— es würde am schnellsten und gründlichsten in meine Gedanken einführen; ich glaube kaum, daß es möglich ist, mehr Substanz auf kleinerem Raum zu geben. — Von der Schrift über Wagner sagt man mir, sie sei so französisch gedacht, daß man sie nicht ins Deutsche übersetzen könnte. — Die Werke, die eine Entscheidung heraufführen, an der das brutale Rechen-Exempel der jetzigen Politik sich vielleicht als Rechenfehler erweisen könnte, sind vollkommen druckfertig: Jetzt wird erscheinen Ecce homo. Oder: wie man wird was man ist. Später Umwerthung aller Werthe. Aber auch diesen Werke müßten erst ins Französische und Englische übersetzt werden, da ich mein Schicksal <zu>letzt von keiner kaiserlichen Polizeimaßregel abhängig machen will… Dieser junge Kaiser hat nie von den Dingen gehört, wo für Unser einen das Hören erst anfängt: Otitis, beinahe schon Meta-Otitis…
Ich habe die Ehre zu sein ein alter Leser des J<ournal> d<es> D<ebats>: die vollkommene Stumpfheit der jetzigen Deutschen für jede Art höheren Sinns kommt in ihrem Verhalten gegen mich seit 16 Jahren, wohlverstanden! zu einem geradezu erschreckenden Ausdruck. Ich fürchte, es giebt gar keine entscheidenderen, tieferen und, wenn man Ohren hat, aufregenderen Bücher als der
Marteau des Idoles
wäre: eine wirkliche Krisis kommt in ihm zum Ausdruck, aber kein D<eutscher> hat einen Begriff davon — auch bin ich das Gegentheil eines Fanatikers und Apostels und vertrage keine Weisheit außer mit sehr viel Bosheit und guter Laune gewürzt. Meine Bücher sind nicht einmal langweilig — und trotzdem hat noch kein Deutscher einen Begriff davon.. Meine Besorgniß ist, daß im Augenblick, wo man moralisch vor einer meiner Schriften steht, man sie verdirbt: deshalb ist es an der höchsten Zeit, daß ich noch einmal als Franzose zur Welt komme — denn die Aufgabe, um derentwillen ich lebe, ist — — —
— Ich nehme mir die Freiheit, Ihnen jene Bücher vorzulegen: gesetzt, daß diesen französisch erscheinen, so bin ich vorgestellt, eingeführt in Frankreich, — der Rest folgt daraus. (— Der Rest heißt hier das tiefste Buch, das die Menschheit hat, mein Zarathustra. Aber mit dem kann man nicht anfangen.)
Jenseits von Gut und Böse: auch bei d<iesem> Werk hat mir seiner Zeit Ms. Taine eine außerordentliche Theilnahme bezeugt.
Die Götzen-Dämmerung oder wie man mit dem Hammer philosophirt, man könnte den Titel vereinfachen:
Marteau des Idoles
Ich weiß nur dies: in dem Augenblick, wo man mor<a>l<is>ch vor einem meiner Bücher steht, wird man sie verderben. Nun stehe ich gerade vor dem entscheidenden Schritt meines Lebens: die Werke, die im Grunde keine Bücher sind, <sondern> eine Art Schicksal darstellen werden, sind druckfertig, — es steht in meiner Hand, wie viele Monate oder Jahre sie noch zu warten haben. Es ist deshalb für mich eine Frage ersten Rangs, nicht auf den Zufall, auf die Brutalität eines Polizei-Verbots mit meiner Aufgabe angewiesen zu sein, — es ist die höchste Zeit, mich auch außerhalb D<eutsch land>s — — —