1888, Briefe 969–1231a
1034. An Reinhart von Seydlitz in München
Adresse: Torino <Italia>, ferma in posta. (gültig bis zum 5. Juni) Turin, den 13. Mai 1888
Lieber Freund,
es dünkt mich unwahrscheinlich, daß Du Dich endgültig zur Mumie (männlicher geredet: zum Mum) entschlossen hast. Der Frühling ist da: Du wirst wieder für die Reize des „deutschen Gemüths“ offen stehn — und vielleicht sogar für die der Freundschaft! Dein Brief kam sehr erquicklich in den Winter meines Nizzaer Mißvergnügens hinein, von dem ich Dir, zu meinem Bedauern, eine nicht unverächtliche Probe gegeben habe. Mit dem Verlassen Nizza’s haben mich dies Mal auch die schwarzen Geister verlassen — und, Wunder über Wunder, ich habe einen merkwürdig heiteren Frühling bisher gehabt. Den ersten seit zehn, fünfzehn Jahren — vielleicht noch länger! Nämlich: ich habe Turin entdeckt… Turin keine bekannte Stadt! — nicht wahr? Der gebildete Deutsche reist daran vorbei. Ich, in meiner willkürlichen Verhärtung gegen Alles, was die Bildung heischt, habe mir aus Turin meine dritte Residenz zurechtgemacht, will sagen Sils-Maria als erste und Nizza als zweite. An jedem Ort vier Monate; für Turin zwei Monate Frühjahr und zwei Monate Herbst. Seltsam! Was mich dazu überredet, ist die Luft, die trockne Luft, die an allen drei Orten gleich ist, und aus denselben meteorologischen Gründen. Schneegebirge im Norden und Westen — auf diese Rechnung kam ich hierher — und bin entzückt! Selbst an sehr warmen Tagen — wir hatten schon solche — giebt es jenen berühmten Zephyr, von dem ich bisher nur durch die Dichter wußte (ohne ihnen zu glauben! Lügenvolk!) Die Nächte frisch. Man sieht mitten aus der Stadt hinein in den Schnee. Außerdem vorzügliche Theater, ital<ienisch> oder französisch; Carmen, wie billig, zur Feier meiner Gegenwart (piramidale successo — Verzeihung für die aegyptische Anspielung!) Eine ernste, fast großgesinnte Welt stiller Straßen mit Palästen des vorigen Jahrhunderts, sehr aristokratisch. (Ich selbst wohne dem palazzo Carignano gegenüber, im alten palazzo des Justizministeriums) Höhe der Caféhaus-Cultur, der gelati, des cioccolato Torinese. Dreisprachige Buchhandlungen. Universität, gute Bibliothek, Sitz des Generalstabs. Die Stadt mit herrlichen Alleen; unvergleichliche Uferlandschaften am Po. Bei weitem die angenehmste, reinlichste, großräumigste Stadt Italiens, mit dem Luxus der portici in einer Länge von 10 020 Meter. — Die Nordwinde, scheint es, bringen mir Heiterkeit; und stelle Dir vor, es kommen Nordwinde sogar aus Dänemark zu mir. Das nämlich ist das Neueste: an der Kopenhagener Universität liest jetzt der Dr. Georg Brandes einen größeren Cyklus Vorlesungen über „den deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche“. Dieselben haben, nach den Zeitungen, einen glänzenden Verlauf, der Saal jedes Mal zum Brechen voll; mehr als 300 Zuhörer.
Wie lange wird es dauern, ehe meine peripherischen Wirkungen (— denn ich habe Anhänger in Nordamerika und sogar in Italien) zurückwirken auf das geliebte Vaterland? — wo man mit einem tückischen Ernste mich seit Jahren gewähren läßt, ohne auch nur zu mucksen… Das ist sehr philosophisch — und klug!
Anbei eine Frage. Ist Dir durch meinen Verleger meine letzte Schrift, die „Streitschrift“ hübsch, wie sichs geziemt, „zu geehrten Händen“ übersandt worden?
Gestern dachte ich mir ein Bild aus von einer moralité larmoyante, mit Diderot zu reden. Winterlandschaft. Ein alter Fuhrmann, der mit dem Ausdruck des brutalsten Cynismus, härter noch als der Winter ringsherum, sein Wasser an seinem eignen Pferde abschlägt. Das Pferd, die arme geschundne Creatur, blickt sich um, dankbar, sehr dankbar —
Du hast jetzt in Madame Judith Gautier (ehemals Mendès) — Tribschener Angedenkens — eine eifrige Cameradin in der propaganda für Japon. Hast Du von ihrem großen Theater-Erfolge mit „la marchande des sourires“ gelesen?
Adieu, lieber Freund, empfiehl mich Deiner lieben Frau zu Gnaden (— es giebt sehr gute Nachrichten von meiner Schwester, die jetzt nun endgültig übergesiedelt in die Colonie nueva Germania ist) und, wenn es möglich, auch Deiner verehrten Frau Mutter.
Mit einem herzlichen Glückwunsch
Dein Freund Nietzsche.
(nach Turin Sils-Maria, Oberengadin Schweiz)