1888, Briefe 969–1231a
1053a. An Reinhart von Seydlitz in München
Sils-Maria, den 28. Juni 1888.
Lieber Freund,
nichts ist dümmer als die Dummheit - nämlich meine. Der Gedanke, daß ein Brief Dich noch südöstlich zu suchen habe, ist nicht einen Augenblick mir am Horizonte aufgestiegen. Und was hätte es Gutes gegeben, wenn wir alle zusammen ein paar Tage Torinesi gewesen wären! Denn ich hatte dort eine Laune wie seit 20 Jahren nicht und funkelte, einem Drachen vergleichbar, an Geist und Bosheit. Selbst die Hitze that mir nichts an: wobei ich nicht umhin kann, einzuschalten, daß die Café-haus-Cultur Turin‘s in wahrhaft schwindelnde Höhen stieg! Ich glaubte mich Kenner in gelati, spumoni, pezzi duri, aber siehe da…
Daß Du in Nizza gewesen bist, thut mit geradezu wehe. Und in Rapallo, an der heiligen Stelle, wo das „Buch der Bücher“, Zarathustra, geboren ist! —
— Hier muß ich irgend Etwas wieder gut machen. Schon gestern kam mir der Gedanke, einmal hübsch wieder „unter Menschen“ zu wandeln: in Anbetracht, daß ich als „Unmensch“, als „Unbehauster“ einem Thiere immer ähnlicher werde. Rückzug über München in der zweiten Hälfte des September??? Aber da bist Du sicher nicht dort. —
Ich lege, für Deine liebe Frau, zu geneigter Belustigung, den Brief meiner Schwester bei, in dem sie den Einzug in die neue Residenz schildert. Derselbe ist eigentlich an meine Mutter gerichtet und von ihr für mich abgeschrieben worden. Er scheint mir ein angenehmes document humain, mit den Parisern zu reden. —
Dieser Tage ist mein ausgezeichneter Freund und maëstro di Venezia Herr Heinrich Köselitz in München eingetroffen: das Menschenkind, welches die einzige Musik macht, welche vor meinem allerverwöhntesten Ohre noch Gnade findet. Die erste moderne Oper (heiter, gemüthsreich, meisterhaft, nicht dilettantisch à la Wagner…) ist sein Werk: sie heißt „Der Löwe von Venedig“. Eben hat er ein tiefsinnig-schönes Quartett fertig gemacht — eine „Provencalische Hochzeit“ darstellend. Wenn besagtes Wunderthier sich bei Dir präsentiren sollte, so nimm ihn mit Herzlichkeit auf — [+ + +]
Ich bitte, Deiner verehrten Frau Mutter meinen ergebensten Dank für Ihren Gruß auszudrücken.
Dein
Freund Nietzsche.