1888, Briefe 969–1231a
1078. An Malwida von Meysenbug in Rom
Sils, Engadin Schweiz Ende Juli 1888
Hochverehrte Freundin,
endlich! nicht wahr? — Aber ich verstumme unwillkürlich gegen Jedermann, weil ich immer weniger Lust habe, Jemand in die Schwierigkeiten meiner Existenz blicken zu lassen. Es ist wirklich sehr leer um mich geworden. Wörtlich gesagt, es giebt Niemanden, der einen Begriff von meiner Lage hätte. Das Schlimmste an ihr ist ohne Zweifel, seit 10 Jahren nicht ein Wort mehr gehört zu haben, das mich noch erreichte — und dies zu begreifen, dies als nothwendig zu begreifen! Ich habe der Menschheit das tiefste Buch gegeben, das sie besitzt, ein Buch, gegen das gerechnet die Bücher überhaupt bloß Litteratur sind. Wie man das büßen muß! — Es stellt aus jedem menschlichen Verkehr heraus, es macht eine unerträgliche Spannung und Verletzbarkeit, man ist wie ein Thier, das beständig verwundet wird. Die Wunde ist, keine Antwort, keinen Laut Antwort zu hören und die Last, die man zu theilen, die man abzugeben wünschte (— wozu schriebe man sonst?) in einer entsetzlichen Weise allein auf seinen Schultern zu haben. Man kann daran zu Grunde gehn, „unsterblich“ zu sein! — Zufällig habe ich noch das Mißgeschick, mit einer Verarmung und Verödung des deutschen Geistes gleichzeitig zu sein, die Erbarmen macht. Man behandelt mich im lieben Vaterlande wie Einen, der ins Irrenhaus gehört: dies ist die Form des „Verständnisses“ für mich! Außerdem steht mir auch der Bayreuther Cretinismus im Wege. Der alte Verführer Wagner nimmt mir auch nach seinem Tode noch den Rest von Menschen weg, auf die ich wirken könnte. — Aber in Dänemark — es ist absurd, zu sagen! — hat man mich diesen Winter gefeiert!! Der geistreiche Dr. Georg Brandes hat es gewagt, einen längeren Cyklus von Vorlesungen an der Kopenhagener Universität über mich zu halten! Und mit glänzendem Erfolge! Mehr als 300 Zuhörer regelmäßig! Und eine große Ovation am Schluß! — Eben stellt man mir etwas Ähnliches für New York in Aussicht. Ich bin der unabhängigste Geist Europa’s und der einzige deutsche Schriftsteller — das ist Etwas! —
Das erinnert mich an eine Frage Ihres letzten verehrten Briefes. Daß ich für Bücher, wie ich sie schreibe, kein Honorar erhalte, werden Sie voraussetzen. Aber was Sie vielleicht nicht voraussetzen, ich habe auch die ganzen Herstellungs- und Vertriebs-Kosten zu bestreiten (— in den letzten Jahren c. 4000 frs.) In Anbetracht, daß ich bei Presse und Buchhandel verfehmt und ausgeschlossen bin, verkauft sich nicht ein Hundert der gedruckten Exemplare. Ich bin ohne Vermögen, meine Pension in Basel ist bescheiden (3000 frs. jährlich) Doch habe ich von letzterer immer etwas zurückgelegt: so daß ich bis jetzt keinen Pfennig Schulden habe. Mein Kunststück ist, das Leben immer mehr zu vereinfachen, die langen Reisen zu vermeiden, eingerechnet das Leben in Hôtels. Es gieng bisher; ich will es auch nicht anders haben. Nur giebt es für den Stolz diese und jene Schwierigkeit. —
Unter diesem mannichfachen Druck von Innen und Außen her hat leider meine Gesundheit sich nicht zum Besten befunden. In den letzten Jahren gieng es nicht mehr vorwärts. Die letzten Monate, wo die Ungunst des Wetters dazu kam, sahen sogar meinen schlechtesten Zeiten zum Verwechseln ähnlich. —
Um so besser ist es inzwischen meiner Schwester gegangen. Die Unternehmung scheint glänzend gelungen, der festliche, beinahe fürstliche Einzug in der Colonie vor ungefähr 4 Monaten hat einen großen Eindruck auf mich gemacht. Es sind jetzt c. 120 Deutsche, nebst einem reichlichen Zubehör einheimischer Peons; es sind gute Familien darunter, z. B. die Mecklenburger Baron Malzahns. —
Ich wurde kürzlich sehr lebhaft an Sie, verehrteste Freundin, erinnert, Dank einem Buche, in dem eine Vordergrunds-Figur des ersten Bandes der „Memoiren einer Idealistin“ in hellstes Licht trat. Insgleichen hat mir Frl. von Salis sehr dankbar über ihr Zusammensein mit Ihnen geschrieben.
Mit den herzlichsten Wünschen für Ihr Wohlbefinden und der Bitte um fortdauernde, wenn auch stille Antheilnahme
Ihr treu ergebener
Nietzsche.
— Es bedarf Größe der Seele, um meine Schriften überhaupt auszuhalten. Ich habe das Glück, Alles, was schwach und tugendhaft ist, gegen mich zu erbittern.