1888, Briefe 969–1231a
1192. An Heinrich Köselitz in Berlin
Torino, den 16. Dezember 1888
Lieber Freund,
bedeutende Erweiterung des Begriffs „Operette“. Spanische Operette. La gran via, zwei Mal gehört — Hauptzugstück von Madrid. Ist einfach nicht zu importiren: man muß dazu Spitzbube und verfluchter Kerl von Instinkt sein — und dabei feierlich… Ein Terzett von drei feierlichen alten riesengroßen Canaillen ist das Stärkste, was ich gehört und gesehn habe — auch als Musik: genial, gar nicht zu rubriziren… Ich nahm, da ich jetzt sehr gebildet in Rossini bin und bereits 8 Opern kenne, die von mir vorgezogene Cenerentola zum Vergleich — ist tausend Mal zu gutartig gegen diesen Spanier. Wissen Sie die Handlung schon kann nur ein vollendeter Spitzbube ausdenken — lauter Sachen, die wie Taschenspielerei wirken, so blitzartig kommt die canaille zum Vorschein. Vier oder fünf Stücke Musik, die man hören muß; sonst hat der Wiener Walzer in der Form größerer Ensembles das Übergewicht. — Offenbach’s „schöne Helena“ hinterdrein fiel einfach ab. Ich lief fort. — Dauer präcis 1 Stunde.
— Heute Nachmittag werde ich ein Requiem von dem alten Neapolitaner Maestro Jommelli hören (starb ungefähr 1770): Accademia di canto corale. —
Und nun die Hauptsache. Ich habe gestern ein Manuscript an C. G. Naumann geschickt, welches zunächst, also vor Ecce homo, absolvirt werden muß. Ich finde die Übersetzer für „Ecce“ nicht: ich muß einige Monate den Druck noch hinausschieben. Zuletzt eilt es nicht. — Das Neue wird Ihnen Vergnügen machen: — auch kommen Sie vor — und wie! —
Es heißt
Nietzsche contra Wagner.
Aktenstücke
eines Psychologen.
Es ist wesentlich eine Antipoden-Charakteristik, wobei ich eine Reihe Stellen meiner älteren Schriften benutzt und dergestalt zum „Fall Wagner“ das sehr ernste Gegenstück gegeben habe. Das hindert nicht, daß die Deutschen darin mit spanischer Bosheit behandelt werden — die Schrift (drei Bogen etwa) ist extrem antideutsch. Am Schluß erscheint Etwas, wovon selbst Freund Köselitz keine Ahnung hat: ein Lied (oder wie Sie’s nennen wollen… ) Zarathustra’s, mit dem Titel Von der Armut des Reichsten — wissen Sie, eine kleine siebente Seligkeit und noch ein Achtel dazu… Musik…
— Ich sehe jetzt mitunter nicht ein, wozu ich die tragische Katastrophe meines Lebens, die mit „Ecce“ beginnt, zu sehr beschleunigen sollte. Dies Neue wird vielleicht, auf Grund der Neugierde, welche der „Fall Wagner“ hervorgerufen hat, stark gelesen werden — und da ich jetzt keinen Satz mehr schreibe, worin ich nicht ganz zum Vorschein käme, so ist zuletzt schon diesen Psychologen-Antithese der Weg, um mich zu verstehn — Ia gran via…
Avenarius, dem ich mit einem boshaften Briefchen auf die Finger gefühlt habe, hat auf das Allerartigste und Herzlichste sich entschuldigt — ich glaube, diese Geschichte habe ich sehr gut gemacht. (Verlangen Sie noch einige Exemplare von Avenarius!)
— Sehen Sie, lieber Freund! Piemonteser Küche! Ah, meine trattoria! Ich habe keinen Begriff gehabt, was in der Kunst der Zubereitung die Italiäner überlegen sind! — und der Qualität! Nicht umsonst mitten innerhalb der allerberühmtesten Viehzucht! — Und, nach wie vor, obwohl ich essey wie ein Prinz, auch viel, zahle ich für jede Mahlzeit (10 ct. Trinkgeld mit) 1 fr. 25. — Für Wohnung, sehr gute Bedienung eingerechnet, erste Lage der Stadt, Sonnenzimmer comme il faut, 25 frs den Monat.
Abends sitze ich in einem prachtvollen hohen Raum: ein kleines sehr anständiges Concert (Clavier 4 Saiteninstr<umente> 2 Bläser) kommt gerade so gedämpft, als es wünschenswerth, zu mir — es sind 3 Säle nebeneinander. Man bringt mir meine Zeitung Journal des débats, — ich esse eine Portion ausgezeichnetes Eis: kostet, mit Trinkgeld (worauf ich halte, weil es hier nicht Sitte ist) 40 ct. — In der galeria Subalpina (in die ich hinabsehe, wenn ich aus meinem Zimmer heraustrete), dem schönsten elegantesten Raum dieser Art, den ich kenne, spielt man jetzt Abend für Abend den barbiere di Seviglia, und zwar vortrefflich: man zahlt, was man verzehrt, mit einem etwas erhöhten Preise. — Und wie gut sieht die Stadt aus, wenn es trübe ist! Neulich sagte ich mir: einen Ort zu haben, wo man nicht heraus will, nicht einmal in die Landschaft, wo man sich freut, in den Straßen zu gehn! — früher hätte ich’s für unmöglich gehalten. —
In Freundschaft
Ihr N.
Etwas Letztes, nicht Letztes: Alle, die jetzt mit mir zu thun haben, bis zur Hökerin herab, die mir herrliche Trauben aussucht, sind lauter vollkommen gerathene Menschen, sehr artig, heiter, ein wenig fett, — selbst die Kellner.
— Eben starb der Prinz von Carignano: wir werden ein großes Begräbniß haben. —
Eben trifft ein herrlicher Brief Taine’s ein! —