1888, Briefe 969–1231a
1204. an Franziska Nietzsche in Naumburg
Torino, via Carlo Alberto 6 III den 21. Dezember 1888
Meine alte Mutter,
es giebt, wenn mich nicht Alles täuscht, in den nächsten Tagen Weihnachten: vielleicht kommt mein Brief noch zur rechten Zeit, vielleicht auch hat Herr Kürbitz einen Wink verstanden, den ich ihm vor einigen Tagen gegeben habe. Mit der Bitte, Dir Etwas auszudenken, was Dir Vergnügen macht und wobei Du gerne an Dein altes Geschöpf denkst und, im Übrigen, um Nachsicht bittend, daß es nicht mehr ist. — Wir haben auch hier ein wenig Winter, doch nicht so, daß ich hätte heizen müssen. Die Sonne und der helle Himmel werden nach ein paar Tagen Nebel immer wieder Herr. Es gab ein großes Leichenbegängniß, einer unsrer Prinzen, der Vetter des Königs; sehr verdient um Italien, auch um die Marine, denn er war der Admiral der Flotte.
Ich bin in jedem Sinne froh, mit Nizza fertig zu sein, — man hat mir indessen 3 Bücherkisten hierher gesandt. Auch die einzige wohlthätige und liebenswürdige Gesellschaft, die ich dort hatte, die ausgezeichneten Köchlins, ebenso reiche als feine und an die besten Kreise gewöhnte Leute, fehlen zum ersten Male diesen Winter in Nizza. Es geht schlecht mit dem alten Köchlin, Madame Cécile hat mir ausführlich geschrieben: beständiges Fieber. Sie sind bei Genua, in Nervi. — Dagegen habe ich aus Genf gute und heitere Nachrichten von Madame Fynn und ihrer russischen Freundin.
Das Allerbeste aber bekomme ich von meinem Freunde Köselitz zu hören, dessen ganze Existenz sich erstaunlich verändert hat. Nicht nur daß die ersten Künstler Berlins, Joachim, de Ahna sich auf das Tiefste für seine Werke interessiren, diesen anspruchsvollste und verwöhnteste Art Künstler, die Deutschland hat: Du würdest vor Allem verwundert sein, daß er in den reichsten und vornehmsten Cirkeln Berlins nur verkehrt und sich mit allzuviel Erfolg um ein schönes und erschrecklich reiches Mädchen bewirbt, obwohl er einen jungen Grafen Schlichen zum Rivalen hat. Ja die Herrn Musiker! Er hat schon den ganzen Sommer auf dem Schloß seiner Prinzessin, in Hinterpommern, ungeheure Wälder, zwischen lauter Junkern und Gardeoffizieren gelebt; aber sie will nichts als Musik von Köselitzen geigen und singen. — Vielleicht erlebt seine Oper ihre erste Aufführung in Berlin; Graf Hochberg steht den Kreisen nahe, die er frequentirt. —
Im Grunde ist Dein altes Geschöpf jetzt ein ungeheuer berühmtes Thier: nicht gerade in Deutschland, denn die Deutschen sind zu dumm und zu gemein für die Höhe meines Geistes und haben sich immer an mir blamirt, aber sonst überall. Ich habe lauter ausgesuchte Naturen zu meinen Verehrern; lauter hochgestellte und einflußreiche Menschen, in St. Petersburg, in Paris, in Stockholm, in Wien, in New-York. Ach wenn Du wüßtest, mit welchen Worten mir die ersten Personnagen ihre Ergebenheit ausdrücken, die charmantesten Frauen, eine Madame la princesse Ténicheff, durchaus nicht ausgeschlossen. Ich habe wirkliche Genies unter meinen Verehrern, — es giebt heute keinen Namen, der mit so viel Auszeichnung und Ehrfurcht behandelt wird, als der meine. — Siehst Du, das ist das Kunststück: ohne Name, ohne Rang, ohne Reichthum werde ich hier wie ein kleiner Prinz behandelt, von Jedermann bis zu meiner Hökerin herab, die nicht eher Ruhe hat als bis sie das Süßeste aus allen ihren Trauben zusammengesucht hat (das Pfund jetzt 28 Pf.)
Zum Glück bin ich jetzt Allem gewachsen, was meine Aufgabe von mir verlangt. Meine Gesundheit ist wirklich ausgezeichnet; die schwersten Aufgaben, zu denen noch nie ein Mensch stark genug war, fallen mir leicht. Turin ist wirklich meine Residenz; ah mit welcher Distinktion man mich hier behandelt! —
Meine alte Mutter, empfange, zum Schluß des Jahres, meine herzlichsten Wünsche und wünsche mir selber ein Jahr, das den großen Dingen, die in ihm geschehn müssen, in jeder Hinsicht entspricht.
Dein altes Geschöpf.