1888, Briefe 969–1231a
1007. An Heinrich Köselitz in Venedig
Nice, pension de Genève (rue Rossini)21. März 1888
Lieber Freund
inzwischen hat die Gesundheit viel Störung gegeben: sonst hätten Sie längst einen Dankesbrief erhalten. Ich war durch Alles, was Sie mir das letzte Mal in puncto Wagneri schrieben, geradezu erbaut. Sie sind heute der Einzige, der solche Geschmacks-finesses nicht nur haben, sondern auch begründen kann: während ich umgekehrt mich in meiner absurderen Weise zum bloßen Tasten und Tappen verurtheilt fühle. Ich kenne nichts mehr, ich höre nichts mehr, ich lese nichts mehr: und trotzalledem giebt es Nichts, was mich eigentlich mehr angienge als das Schicksal der Musik.
Nicht zu vergessen: ich habe doch etwas gehört — drei Sachen von Offenbach (la Pericholle, la grande Duchesse, la fille du tambour-major) — und war entzückt. Vier, fünf Mal in jedem Werke erreicht er einen Zustand übermüthigster Bouffonerie, aber in der Form des klassischen Geschmacks, absolut logisch — und dabei noch wunderbar Pariserisch!.. Dabei hat dieses verwöhnte Menschenkind das Glück gehabt, die geistreichsten Franzosen zu Librettisten zu haben: Halévi, der jüngst wegen dieser Geniestreiche la belle Helène etc. in die Akademie aufgenommen worden ist, Meilhac und Andere. Die Texte Offenbachs haben etwas Bezauberndes und sind wahrscheinlich das Einzige, was die Oper zu Gunsten der Poesie bisher gewirkt hat. —
Mottl, nach dem Sie fragten, hat nichts mehr von sich hören lassen. Ich notiere Ihnen noch ein Wort Seydlitzens, der jüngst aus Aegypten schrieb und wahrscheinlich mir, „zusammen mit Weib, Mutter, Hund und Diener“ auf seiner Rückreise einen Besuch abstatten wird. Er beklagt sich über den dort wehenden Chamsin „der einer ins Meteorologische übersetzten Brahmsschen Symphonie gleicht: rücksichtslos, sandig, trocken, unbegreiflich, nervenzerrüttend, etwa ein zehnfacher scirocco“. — Auch der alte Freund Gersdorff hat wieder geschrieben, mit vieler und herzlicher Erinnerung auch an Sie („— ich denke mit Vergnügen an die guten Stunden, die ich mit ihm und durch ihn erlebte und die nur durch Nerina und Rascovicz getrübt wurden) Auch sagt er „wie viel Kraft und Muth muß man haben, um heute gute Musik zu machen. Es giebt heute kaum einen Menschen, dem Wagner nicht das Concept verrückt hätte“. Gersdorff hatte eben seinen Hofdienst wieder hinter sich: er ist, wie Sie wissen werden, Kammerherr der alten Kaiserin. —
Etwas ist mir gelungen, worüber Sie lachen werden: ich habe jenem Spitteler (unangenehmen Angedenkens), unaufgefordert, aber im Bewußtsein, daß sonst Niemand etwas für ihn thut, einen Verleger für einen dicken Band Aesthetica verschafft: Firma Veit & Co (Hermann Credner in Leipzig, ein „amateur“ meiner Litteratur) Sp<itteler> hat sich gehütet, mir dafür zu danken. —
Von Kopenhagen kommen öfters Briefe, immer sehr intelligent, aber auch voll vieler Zeichen einer leidenden Existenz: B<randes> ist dermaaßen im Krieg und allein, daß er Jemanden nöthig zu haben scheint, zu dem er persönlich redet. Das Angenehmste war ein langer Brief meiner Schwester, deren Unternehmung überraschend für sie selber geräth: sie haben jetzt 80 Deutsche und 3 Schweizer auf der Colonie „Nueva Germania“, und es sind so Viele für die nächsten Monate angekündigt, daß man fürchtet, nicht genug vorbereitet zu sein. —
Eben traf eine intelligente und nicht unsympathische Besprechung meiner „Genealogie“ in der Nationalzeitung ein: abgesandt von dem Verfasser, P. Michaelis, Domhülfsprediger in Bremen. „Nietzsche ist grob, aber —“
So viel, lieber Freund: es ist wenig genug. Nun stehe ich wieder vor der widerlichen Erwägung, was ich mit mir die nächsten Monate anfangen soll, bis ich wieder hinauf kann .. Es ist eine schlechte Zeit, es sind alle Versuche und Orte eigentlich mißrathen — noch vom letzten Jahr her habe ich den greulichsten Nachgeschmack von dieser Zwischenzeit, die mich schwach macht und entnervt. Wohin?.. Denn mit Nizza ist es wieder vorbei; der Lichtglanz ist zu stark, die Luft schon zu weich. Zürich? Nimmermehr! Die italiänischen Seen? — drückend, herabstimmend! Die Schweiz? noch zu winterlich, wolkig, nebelig. Ich habe diese ganze Nacht gewacht in der Unruhe solcher Fragen. —
Mein alter Freund und maestro, es wünscht Ihnen einen guten Morgen
Ihr
Nietzsche
Verzeihung, daß der Brief endet, wie er nicht enden sollte, — ich thue so viel Verkehrtes.