1888, Briefe 969–1231a
1003. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Nizza, den 5. März 1888.
Meine liebe gute Mutter,
heute morgen hätte ich Dir ohne Zweifel einen kleinen Brief geschrieben, selbst wenn nicht Deine herzliche Mahnung bei mir angelangt wäre. Es lag Alles schon bereit dazu. Außerdem hat sich mein Zustand wirklich verbessert und die bösen Wochen der Melancholie sind wieder überwunden. Es betrübt mich, daß ich zwei so düstere Briefe an Dich abgesandt habe: aber es giebt Zeiten, wo man nicht mehr Herr über sich ist und Dinge thut, die man beim ersten Sonnenstrahle kaum mehr begreift. Der Winter war übrigens für alle Welt hart und traurig machend: und für eine solch delikate und krankhafte Maschinerie, wie ich es bin, besonders. Die Nachrichten von San Remo haben auch nichts Wohlthuendes: dies System von Lüge und willkürlicher Entstellung der Fakten, wie es diese Engländerin, im Bunde mit einem nichtswürdigen englischen Arzte, von einem Monat in den andern fortsetzt, hat sogar die Ausländer empört, gar nicht zu reden von dem deutschen Arzte, von der ganzen kaiserlichen Familie, von Bismarck. Ich bin durch einen Zufall sehr gut, zu gut über die intima intimissima dieser schauerlichen Geschichte unterrichtet. — Wir haben übrigens, seit dem 1. März, hier den großen Zollkrieg zwischen Italien und Frankreich: unsre Provinz ist am stärksten durch denselben betroffen. Nizza bezog Alles, was man zur Ernährung nöthig hat, aus Italien: — Fleisch, Eier, Butter, Gemüse, Wein, Oel. Der Zollkrieg, mit seinen unerhörten Taxen, macht einfach einen Schnitt zwischen den beiden Ländern: so daß die ganze Küste versuchen muß, sich anderswoher ihre Nahrungsmittel zu schaffen. Man will eine direkte Dampfschiffverbindung zwischen Nizza und Algier herstellen, dieser Tage schon: 42 Stunden Fahrt zwischen hier und Afrika. —
Trotzdem: wie gut, daß man in Europa ist, sei es nun in Naumburg, oder in Nizza — und nicht in diesem erstaunlich unanmuthigen Paraguay! Der Bericht ist sehr ehrlich, ich glaube wirklich nicht, daß er irgendwelche gute Seite verschweigt. Offenbar ist das Leben in der Hauptstadt und das Leben in dieser Wald- und Wüsten-Wildniß etwas recht Verschiedenes; in der ersteren wird man immer noch glauben, in Europa zu sein. Nichts für uns! meine gute Mutter! —
Fritzsch hat telegraphisch die Sache in Ordnung gebracht; auch einen entschuldigenden Brief geschickt. Ich danke sehr für den kleinen Hochdruck, den Dein Brief ausgeübt hat.
Inzwischen ist Overbecks Vater in Dresden gestorben; insgleichen Köselitzens Leipziger Schwester. Man hat überall zu tragen und zu überwinden. — Deine freundliche und liebe Einladung, den Frühling in Naumburg zu verbringen, stimmt leider in keinem Punkte jetzt zu dem, was meine absurde Gesundheit verlangt. Erstens: ich darf nicht weit reisen, ich halte es nicht aus. Zweitens: ich habe das größte Mißtrauen gerade gegen den deutschen Frühling und denke mit Schrecken an das Gefühl von Schwäche und Entmuthigung, das der letzte Frühling in Naumburg und Leipzig bei mir hervorgebracht hat. Es steht noch nicht fest, wohin ich gehe; aber nicht gar weit, und etwas in die Berge, wo eine kräftige Luft weht; und so daß ich den Zugang zum Engadin im Auge behalte (für Mitte Juni: eher kann man nicht hinauf)
Zuletzt, meine gute Mutter, macht es Dir etwas, mir die 96 Mark hierher, nach Nizza, zu schicken? Oder hast Du gerade jetzt kein Geld? Ich bin nämlich in einiger Verlegenheit, und wäre dankbar, jetzt Geld geschickt zu bekommen. Paßt es Dir nicht, so würde ich Hrn. Kürbitz darum angehn. (Am einfachsten ein Hundert-Mark-Schein. Der Brief recommandirt, aber das Geld nicht darauf bezeichnet. Oder auch ein Hundert-Franken-Schein (96 Mark = 115 frs.) dies vorzuziehen.
In herzlicher Liebe und Dankbarkeit
Dein altes Geschöpf