1888, Briefe 969–1231a
1105. An Heinrich Köselitz in Buchwald
Sils, den 12. Sept. 1888 Mittwoch
Lieber Freund,
noch weiß ich Ihre Adresse nicht, aber in Anbetracht, daß ich Ihnen noch vor meiner Abreise schreiben möchte, will ich annehmen, daß auch ein nach Annaberg gesandter Brief in Ihre Hände kommt. Sonntag soll es fortgehen, nach Turin, versuchsweise: daß der Schluß meines Silser Aufenthaltes mir noch die schwerste Geduldsprobe auferlegen würde, habe ich mir nicht träumen <lassen>. Ein unerhörtes Hochwasser-Wetter seit einer Woche; Alles überschwemmt; Tag und Nacht strömt es, mit Schnee untermischt. In 4 Tagen allein sind 220 millimeter Niederschlag gefallen (während der Monats-Durchschnitt hier 80 mm zu sein pflegt) Meine Gesundheit ist dabei nicht zum Besten weggekommen: ich schreibe auch augenblicklich etwas mit Kopfschmerz.
Ich sende dieser Tage noch ein Paket an Sie ab, lauter Drucksachen, darunter, mit bestem Dank, das Heft Bayreuther Blätter. Das Andere sind Fuchsiana: eine Anzahl Recensionen und etwas von seinen sehr merkwürdigen Briefen (— darunter einer, der einen ausgezeichnet guten Begriff von Riemann’s ganzer Unternehmung giebt: Sie werden finden, daß F<uchs> von ihm Dasselbe erhofft, was Sie erhoffen — eine Stärkung und Wiedergewinnung des großen rhythmischen Sinns)
Eben höre ich, daß von Hans von Bülow eine Schrift erscheinen wird „Alt- und Neu-Wagnerianer“ betitelt. Das Zusammentreffen mit meinem Pamphlet ist curios. Sonst warte ich immer noch auf eine Antwort von ihm. —
Es giebt noch etwas Curioses zu melden. Ich habe vor wenig Tagen Herrn C. G. Naumann wieder ein Manuscript zugesandt, das den Titel führt „Müssiggang eines Psychologen“. Unter diesem harmlosen Titel verbirgt sich eine sehr kühn und präcis hingeworfne Zusammenfassung meiner wesentlichsten philosophischen Heterodoxien: so daß die Schrift als einweihend und appetitmachend für meine Umwerthung der Werthe (deren erstes Buch beinahe in der Ausarbeitung fertig ist) dienen kann. Es ist viel darin von Urtheilen über Gegenwärtiges, über Denker, Schriftsteller usw. Der letzte Abschnitt heißt Streifzüge eines Unzeitgemäßen; der erste Sprüche und Pfeile. Im Ganzen sehr heiter, trotz sehr strengem Urtheile (— es scheint mir, unter uns, daß ich erst in diesem Jahre deutsch — will sagen französisch — schreiben gelernt habe). Capitel, außer den genannten: das Problem des Sokrates; die „Vernunft“ in der Philosophie. Wie die „wahre“ Welt endlich zur Fabel wurde. Moral als Widernatur. Die vier großen Irrthümer. Die „Verbesserer“ der Menschheit. Es sind wirkliche psychologica und vom Unbekanntesten und Feinsten. (— Den Deutschen werden manche Wahrheiten gesagt, insbesondere wird meine geringe Meinung über die reichsdeutsche Geistigkeit begründet)
Diese Schrift, in Allem als Zwilling zum „Fall Wagner“ auftretend (wenn auch etwa doppelt so stark) muß möglichst bald heraus: weil ich eine Zwischenzeit brauche bis zur Veröffentlichung der Umwerthung (— diesen mit einem rigorosen Ernst und hundert Meilen weit abseits von allen Toleranzen und Liebenswürdigkeiten)
Meine Hoffnung ist, daß dieser Brief Sie in einer angenehmen Ungewohntheit von Existenz vorfindet. Ein paar Worte von Ihnen werden mir in Torino (ferma in posta) sehr willkommen sein.
Treulich und dankbar
Ihr Freund
Nietzsche.
— Was macht inzwischen das Quartett?