1888, Briefe 969–1231a
1025. An Heinrich Köselitz in Venedig
Turin, 1. Mai 1888.
Lieber Freund,
Ihr südländischer Titel gefällt mir sehr gut; er hat Farbe, er protestirt — Vielleicht setzen Sie besser „Heimkehr nach Avignon“ statt des etwas gemüthlich klingenden Imperativs „Heim nach Avignon!“ —
Und das erinnert mich an die Heimkehr nach Annaberg und, wer weiß? an ein Turnier in Berlin; dem, hoffentlich, auch etwas Ballspiel folgt, nebst Notturno, und was Alles auf einem schönen Landsitze, abseits von der großen Stadt, möglich ist! Das scheint mir Alles sehr gut ausgedacht: und heute über’s Jahr liegt, wie ich von Herzen wünsche, ein tüchtiges und schönes Stück Leben hinter Ihnen — in „kalligraphischer Vollkommenheit“…
Das Wetter ist heute betrübt: umso unparteilicher kann ich über Turin schreiben, von dem ich Ihnen gern noch einen praktischeren Begriff geben möchte als meine letzten Briefe thaten. Denn daß Turin gerade mir, einem Kranken und Absurd-Abhängigen, klimatisch gut thut, und daß es z. B. für meine Beine und Augen ein gelobtes Land ist, macht mich noch nicht blind dafür, daß Ihnen Turin ganz andre Vortheile bieten müßte, um, nach Venedig, überhaupt möglich zu sein. Sie schreiben, daß es als eine theure Stadt gilt? Dies mag im Munde eines Beamten oder Militär-Chefs auch vollkommen correkt sein: eine solche Stadt ist theuer, weil sie zur Repräsentation seiner Stellung zwingt, und weil es beinahe die erste Großwürden- und Beamten-Stadt Italiens ist (Sitz des Generalstabs usw.) Von uns aus geurtheilt, die wir nichts repräsentiren wollen und im Gegentheil die Verborgenheit in einer großen Stadt uns zu Gemüthe führen, steht es exakt umgekehrt. Ich habe noch keinen billigeren Ort kennen gelernt, am wenigsten in Italien: aber auch Leipzig ist theurer. Das macht die großstädtische Concurrenz in allen Hauptsachen (Wohnung, Kleidung, Ernährung) Ich esse hier entschieden besser, solider als ich in Leipzig esse, ebenfalls als in der panada, seligen Angedenkens, — und billiger! Es giebt eine große Menge starkbesuchter Trattorien, wo man noch bedeutend die Preise reduzirt: die Stadt ist voll von jungen Leuten (und älteren Junggesellen), dank den vielen höheren Schulen, der Universität, dem Offiziercorps, — das will Alles gut essen und nicht viel bezahlen. In den ersten luxuriösesten Cafes wird im Entgegenkommen geradezu Unglaubliches geleistet. Das Café nazionale zum Beispiel, das an Monte-Carlo erinnert, hat Abends seine glänzenden Räume voll, man hört ein Concert von 12 Nummern, ein kleines hübsches Orchester — und man zahlt auch keinen centesimo mehr als man sonst zahlt (Café 20 ct., Chocolade 30, das pezzo gelato 30 usw) Auch die Theaterpreise sind sehr mäßig: mir fällt übrigens das verkable Theaterfieber auf, das hier herrscht. Alle Theater (außer dem t<eatro> regio) in voller Aktivität; eine Pariser comédie-Gesellschaft, besten Renommée’s, anlangend, zwei neue Operetten-Gesellschaften insgleichen. Turin wirkt durch einen gewissen Strom von Leben, es drückt nicht, es ist nicht das Abbild des kleinen Erwerbs und Vorwärts-Kriechens. Die räumliche Größe und Großartigkeit hat etwas Contagiöses; man geht mit mehr Freimuth herum. Jetzt hat die Stadt ihren herrlichen Frühlingsschmuck, die Alleen, — das war immer ein fürstlicher Geschmack. Ich traue immer noch meinen Augen nicht, wenn ich Abends am Po entlang gehe und hinüber sehe, in diesen reiche, bunte, malerische Baum- und Hügelwelt! Neulich entdeckte ich, auf der andern Seite des Po, eine hohe Baum-Allee, dicht am Po 1 1/2 Stunde entlang führend: auf der andern Seite ein voller Bach; tiefste Stille; der Fluß mit kleinen grünen Inselchen geschmückt, und, zur Seite, ohne Unterbrechung, in strahlender Reinheit, das Hochgebirge. Dies ist doch sehr nahe: man kommt mit 50 Minuten Eisenbahnfahrt nach Lanzo: — da hat man bereits das Hochgebirge. Von ihm aus ist das hiesige Clima bedingt; in Sonderheit die vielen ganz hellen Tage, auch im Winter (im Ganzen nur 50 Tage weniger als in Nizza) Mir fällt auf, wie gut ich hier mit trübem Wetter und bedecktem Himmel fertig werde: — ich habe fort und fort gearbeitet, mehr als im ganzen Nizzaer Winter bereits! An schönen Tagen weht hier eine reizende, leichte, leichtfertige Luft, in der die schwerfälligsten Gedanken Flügel bekommen… (— ich habe bis heute noch nicht Carmen gehört! Beweis, wie ich mit mir beschäftigt bin. Ein Mal nur im Theater: eine neapolitanische Farce — warum? Weil der maestro E. Sassone hieß!! „Induction psycho-motrice“ nennt man das heute. Nach Hause kommend leuchtete ich mir meinen alten palazzo hinauf, mit einem Wachsstreichkerzchen, das ich ich weiß nicht wem verdanke. Nochmals: induction psycho-motrice!! —)
Treulich Ihr Freund
N.
Es muß etwas wie Coordination des Geschmacks geben: hier, wo meine Augen und Nerven sich wohlfühlen, scheinen mir auch die Speisen nach dem Schema meines Personalgeschmacks ausgedacht. Und sogar das Wasser! Überall fließt es; ich gehe immer mit einem Gläschen.