1888, Briefe 969–1231a
1097. An Carl Fuchs in Danzig
<Sils-Maria, vermutlich Ende August 1888>
Zur Auseinanderhaltung der antiken Rhythmik („Zeit-Rhythmik“) von der barbarischen (“Affekt-Rhythmik“).
1. Daß es außer dem Wortaccent noch einen andern Accent gegeben habe, dafür fehlt bei den Rhythmikern (zb. Aristoxenos) jedes Zeugniß, jede Definition, selbst ein dazu gehöriges Wort. — Arsis und Thesis wird erst seit Bentley in dem fälschlichen Sinne der modernen Rhythmik verstanden — die Definitionen, die die Alten von diesen Worten geben, sind völlig unzweideutig.
2. Man warf, in Athen sowohl, wie in Rom, den Rednern, selbst den berühmtesten vor, Verse unversehens gesprochen zu haben. Es werden zahlreiche Beispiele solcher entschlüpften Verse citirt. Der Vorwurf ist, nach unsrer üblichen Art, griechische und lateinische Verse zu sprechen, einfach unbegreiflich (— erst der rhythmische Ictus macht bei uns aus einer Abfolge von Silben einen Vers: aber gerade das ganz gewöhnliche Sprechen enthielt, nach antikem Unheil, sehr leicht vollkommene Verse —)
3. Nach ausdrücklichen Zeugnissen war es nicht möglich, den Rhythmus von gesprochenen lyrischen Versen zu hören, wenn nicht mit Taktschlägen die größeren Zeit-Einheiten dem Gefühle zum Bewußtsein gebracht wurden. So lange der Tanz begleitete (— und die antike Rhythmik ist nicht aus der Musik, sondern aus dem Tanz her gewachsen), sah man die rhythmischen Einheiten mit Augen.
4. Es giebt Fälle bei Homer, wo eine kurze Silbe ungewöhnlicher Weise den Anfang eines Daktylus macht. Man nimmt philologischer Seits an, daß in solchen Fällen der rhythmische Ictus die Kraft habe, den Zeit-Mangel auszugleichen. Bei den antiken Philologen, den großen Alexandrinern, die ich eigens auf diesen Punkt hin befragt habe, findet sich nicht die leiseste Spur einer solchen Rechtfertigung der kurzen Silbe (dagegen fünf andere).
5. Es tritt sowohl auf griechischem als auf lateinischem Boden ein Zeitpunkt ein, wo die nordischen Lied-Rhythmen Herr werden über die antiken rhythmischen Instinkte. Unschätzbares Material dafür in dem Hauptwerk über christlich-griechische Hymnologie (aus einem südfranzösischen gelehrten Kloster hervorgegangen). Von dem Augenblick an, wo unsre Art rhythmischer Accent in den antiken Vers eindringt, ist jedes Mal die Sprache verloren: sofort geht der Wortaccent und die Unterscheidung von langen und kurzen Silben flöten. Es ist ein Schritt in die Bildung barbarisirender Idiome.
6. Endlich die Hauptsache. Die beiden Arten der Rhythmik sind conträr in der ursprünglichsten Absicht und Herkunft. Unsere barbarische (oder germanische) Rhythmik versteht unter Rhythmus die Aufeinanderfolge von gleich starken Affekt-Steigerungen, getrennt durch Senkungen. Das giebt unsere älteste Form der Poesie: drei Silben, jede einen Hauptbegriff ausdrückend, drei bedeutungsvolle Schläge gleichsam an das Sensorium des Affekts — das bildet unser ältestes Versmaß. (In unsrer Sprache hat im Durchschnitt die bedeutungsschwerste Silbe, die Affekt-dominirende Silbe den Accent, grundverschieden von den antiken Sprachen.) Unser Rhythmus ist ein Ausdrucksmittel des Affekts: der antike Rhythmus, der Zeit-Rhythmus, hat umgekehrt die Aufgabe, den Affekt zu beherrschen und bis zu einem gewissen Grade zu eliminiren. Der Vortrag des antiken Rhapsoden war extrem leidenschaftlich (— man findet im Jon Platon’s eine starke Schilderung der Gebärden, der Thränen u.s.w.): das Zeit-Gleichmaß wurde wie eine Art Oel auf den Wogen empfunden. Rhythmus im antiken Verstande ist, moralisch und ästhetisch, der Zügel, der der Leidenschaft angelegt wird.
In summa: unsre Art Rhythmik gehört in die Pathologie, die antike zum „Ethos“…
Herrn Dr. Carl Fuchs zu freundlicher Erwägung anheimgegeben.
F. N.