1888, Briefe 969–1231a
975. An Ferdinand Avenarius in Dresden
Nizza, pension de Genève den 14. Januar 1888
Hochgeehrter Herr,
es freut mich, Herrn Carl Spitteler bei Ihnen angelangt zu sehen: und just in der Weise, in welcher ich es wünschte und erwartete. (Wissen Sie ihm nicht einen Verleger für eine Sammlung der interessantesten Aesthetica ausfindig zu machen? Er hat mich angefragt in dieser Hinsicht, — aber ich lebe, was Verleger angeht, auf dem Monde)
Inzwischen ist mir eine Unterlassungssünde eingefallen. Ich hätte Ihnen schlechterdings einen Dritten noch empfehlen sollen, Herrn Dr. Carl Fuchs (in Danzig: diesen Adresse genügt). Das ist in allen Problemen der musikal<ischen> Aesthetik und Technik der gelehrteste Kopf, den ich kenne, ein Philosophen- und Musikerkopf in Einem; überdies einer unserer geistreichsten Schriftsteller. (— ich empfehle Niemanden, der mich irgendwann einmal gelangweilt hat: das vergebe und vergesse ich nie).
Mit meinem angelegentlichsten Gruss
und einem Glückwunsch für Sie
und Ihre Zeitung
Dr. Friedrich Nietzsche
Prof.
N. B. Ich schreibe Ihnen das Unheil Schopenhauers über die Norma ab: es scheint, dass Sch<openhauer> vom Theater her durch Nichts einen grösseren Eindruck bekommen hat als durch dies Werk. Die Welt als Wille und Vorstellung, zweiter Band, S. 498 der Gesamtausgabe:
Hier sei es erwähnt, dass selten die acht tragische Wirkung der Katastrophe, also die durch sie herbeigeführte Resignation und Geisteserhebung des Helden, so rein motiviert und deutlich ausgesprochen hervortritt, wie in der Oper Norma, wo sie eintritt in dem Duett Qual cor tradisti, qual cor perdesti, in welchem die Umwendung des Willens durch die plötzlich eintretende Ruhe der Musik deutlich bezeichnet wird. Ueberhaupt ist dieses Stück, — ganz abgesehen von seiner vortrefflichen Musik, wie auch andererseits in der Diktion, welche nur die eines Operettentextes sein darf, — und allein seinen Motiven und seiner inneren Oekonomie nach betrachtet, ein höchst vollkommenes Trauerspiel, ein wahres Muster tragischer Anlage der Motive, tragischer Fortschreitung der Handlung und tragischer Entwicklung, zusammt der über die Welt erhebenden Wirkung dieser auf die Gesinnung des Helden, welche dann auch auf die Zuschauer übergeht; ja, die hier erreichte Wirkung ist um so unverfänglicher und für das wahre Wesen des Trauerspiels bezeichnender, als keine Christen, noch christliche Gesinnungen darin vorkommen.
— (Vielleicht könnte auch diese Stelle Schopenhauers etwas dazu dienen, solchen unanständigen Verkleinerern Wagners, wie sie auf S. 79 Ihrer Zeitung erwähnt werden, den Mund zu stopfen)