1888, Briefe 969–1231a
1134. An Georg Brandes in Kopenhagen
Turin, den 20 Okt. 1888
Werther und lieber Herr,
wiederum kam ein angenehmer Wind von Norden mit Ihrem Briefe: zuletzt war es bisher der einzige Brief, der ein „gutes Gesicht“, der überhaupt ein Gesicht zu meinem Attentat auf Wagner machte. Denn man schreibt mir nicht. Ich habe selbst bei Näheren und Nächsten einen heillosen Schrecken hervorgebracht. Da ist zum Beispiel mein alter Freund Baron Seydlitz in München unglücklicher Weise gerade Präsident des Münchener Wagner-Vereins; mein noch älterer Freund der Justizrath Krug in Köln Präsident des dortigen Wagner-Vereins; mein Schwager Dr. Bernhard Förster in Südamerika, der nicht unbekannte Antisemit, einer der eifrigsten Mitarbeiter der Bayreuther Blätter; und meine verehrenswürdige Freundin Malvida von Meysenbug, die Verfasserin der „Memoiren einer Idealistin“ verwechselt nach wie vor Wagner mit Michel Angelo…
Andrerseits hat man mir zu verstehn gegeben, ich solle auf der Hut sein vor der „Wagnerianerin“: die hätte in gewissen Fällen keine Skrupel — Vielleicht wehrt man sich, von Bayreuth aus, auf reichsdeutsche und kaiserliche Manier, durch eine Interdiktion meiner Schrift — als „der öffentlichen Sittlichkeit gefährlich“: der Kaiser ist ja in diesem Falle Partei. Man könnte selbst meinen Satz „wir kennen Alle den unaesthetischen Begriff des christlichen Junkers“ als Majestäts-Beleidigung verstehn - - -
Ihre Intervention zu Ehren der Wittwe Bizet’s hat mir großes Vergnügen gemacht. Bitte, geben Sie mir ihre Adresse; insgleichen die des Fürsten Urussow. Ein Exemplar ist an Ihre Freundin die Fürstin Dmitrievna Ténicheff abgesandt. — Bei meiner nächsten Veröffentlichung, die nicht gar zu lange mehr auf sich warten lassen wird (— der Titel ist jetzt: Götzen-Dämmerung. Oder: Wie man mit dem Hammer philosophirt) möchte ich sehr gern auch an den von Ihnen mit so ehrenden Worten mir vorgestellten Schweden ein Exemplar senden. Nur weiß ich seinen Wohnort nicht. — Diese Schrift ist meine Philosophie in nuce — radikal bis zum Verbrechen…
Über die Wirkung des Tristan hätte auch ich Wunder zu berichten. Eine tüchtige Dosis Seelen-Qual scheint mir ein ausgezeichnetes Tonicum vor einer Wagnerischen Mahlzeit. Der Reichsgerichtsrath Dr. Wiener in Leipzig gab mir zu verstehn, auch eine Karlsbader Kur diene dazu…
Ach was Sie arbeitsam sind! Und ich Idiot, der ich nicht einmal dänisch verstehe! — Daß man gerade „in Rußland wieder aufleben“ kann, glaube ich Ihnen vollkommen; ich rechne irgend ein russisches Buch, vor allem Dostoiewsky (französisch übersetzt, um des Himmels Willen nicht deutsch!!) zu meinen größten Erleichterungen.
Von Herzen und mit einem Recht, dankbar zu sein
Ihr Nietzsche