1888, Briefe 969–1231a
1087. An Emily Fynn in Genf
Sils den 11. August 1888.
Verehrteste Frau
das war ein Tag, der zehnte August! Das Wetter warm, rein, tiefblau; alles was ich unternahm gerieth; alle zwei Stunden gab es eine angenehme Überraschung (— darunter ein Privatconcert für mich, von einem ausgezeichneten Musiker aus Hamburg, Herrn von Holten veranstaltet: er hatte sich ein Stück meines Venediger Maëstro eingeübt und spielte es sechs Mal hintereinander — auswendig!)
Morgens lief ich um den See von Silvaplana herum, Nachmittag war ich hinten im Fexthal — dort gab es mindestens 70 Fremde, alle wie im Zustande der Genesung, denn bis vorgestern war das Wetter in der Tat wie eine schwere Krankheit. Und als ich Abends nach Hause komme, überrechnend, was der Tag Gutes gebracht hat, so war er noch nicht einmal am Ende mit seinen Geschenken — ich fand Ihren so gütigen, so liebenswürdigen Brief! Einen so unverdienten Brief!
— Aber der Winter war böse auf mich, es war eine düstere und kranke Zeit, ohne Sonnenschein weder oben, noch drinnen. Der ganze Aufenthalt in Nizza mißrathen. Die Philosophen machen es, wenn sie krank sind, wie die Thiere, sie verstummen, sie verkriechen sich in ihre Höhle. Auch meine alte Freundin Meysenbug mag schön erstaunt sein, seit letztem Herbst nichts von mir gehört zu haben. — Die Hitze in Italien trieb mich schon Anfangs Juni ins Engadin — ich Unglücksmensch! — Ein solches Wetter ist nicht zu beschreiben; mein Zustand verschlechterte sich dergestalt, daß er mich an meine traurigsten Zeiten erinnerte. Tiefe Schwäche, alle Wochen ein Paar Mal zu Bett, der fatale Kopfschmerz mit seinen fatalen Consequenzen. Da man nicht ausgehen konnte und den Tag im kalten Zimmer durchfröstelte, fand man Nachts nicht einmal Schlaf. Dazu völligen Mangel an Gesellschaft; die Augen zu schwach zum Lesen; Krankheit und Langweile in Permanenz. — Seit 3 Wochen ungefähr ist das Wetter anders: nicht gerade besser, aber wenigstens mit guten wenn auch kurzen Zwischenakten. Wintertage gab es von größter Strenge, mit ruhigen Winden; auch jetzt ist der Gesammt-Charakter der Landschaft durch die große Masse Schnee sehr winterlich. Aber gestern und vorgestern höchste, irdische und engadinische Vollkommenheit!
In Nizza las ich Abends den Journal de Genève… Wie oft habe ich bei dem traurigen Wetter-Berichte Ihrer und Ihrer leidenden Freundin gedacht! Für einen ersten Winter in Genf war es hart. Paraguay ist, unter solchen Wetter-Verhältnissen, in der That ein verlockender Aspekt.
Die letzten größeren Berichte, vom wahrhaft fürstlichen Einzug und Empfang meiner Angehörigen in der neuen Colonie, haben einen starken Eindruck auf mich gemacht. Zuletzt habe ich Europa als Cultur-Museum absolut nöthig. Die Wildniß (— und das Glück…) ist für einen der keine Philosophie auf dem Gewissen hat!. —
Zu den Curiositäten dieses Winters gehörte es, daß ich anfing berühmt zu werden! Wo? In Dänemark. Der geistreiche Gelehrte Dänemarks, Dr. Georg Brandes hat einen längeren Cyclus von Universitäts-Vorlesungen über den Philosophen Nietzsche gehalten, mit einem außerordentlichen Erfolge, wenn man den Zeitungen trauen darf. Mehr als 300 Personen regelmäßige Zuhörer; am Schluß eine große Ovation. — Man stellt mir eben etwas Ähnliches für New York in Aussicht. — Ich wünschte ich hätte mehr Vergnügen an so etwas. Im Grunde stimmt mich’s ironisch.
Für den nächsten Winter will der Eremit nach Corsika, nicht gerade nach Ajaccio, sondern in eine unentdeckte Welt. Ich habe eine so tiefe Selbstbesinnung nöthig, daß mir es nirgends still, nirgends antimodern genug ist. Sagen Sie, wenn ich bitten darf, ein herzliches Wort von mir Ihrer verehrten Freundin; dasgleiche Ihrer Fräulein Tochter. Es freut mich sehr, daß sie im Verkehr mit einem guten Maler ist. Auch von Fräulein Zimmern höre ich mit großem Interesse: ich möchte, daß sie sich meiner noch erinnert. Es soll ja nicht ein Gruß an die ausgezeichnete Mad. Bichler vergessen werden. Ihr verehrungsvoll ergebener
Nietzsche.
P.S. Eben beginnen die Glocken von Sils zu läuten, — neue Glocken! Ein schöner weicher melodischer Klang. —